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Magazin MitbestimmungArbeitsmarkt: Richtlinie mit tarifpolitischem Potenzial
Auch wenn Deutschland die europäische Mindestlohnrichtlinie bislang nicht umgesetzt hat, stärkt sie Gewerkschaften und anderen sozialen Akteuren den Rücken. Von Thorsten Schulten
Mit der europäischen Mindestlohnrichtlinie vollzog die Europäische Union eine politische Kehrtwende. Verfolgte die EU über Jahrzehnte eine Politik der Liberalisierung von Märkten, zielt die Richtlinie darauf, kollektive Regelungen und Institutionen des Arbeitsmarkts wieder zu stärken. Dabei geht es nicht nur um die Absicherung angemessener Mindestlöhne, sie will darüber hinaus zu einer Stärkung von Tarifvertragssystemen in den EU-Mitgliedsländern beitragen. Es waren die Gewerkschaften, die im Rahmen der europäischen Sozialpartnerkonsultationen erfolgreich darauf drängten, dass eine europäische Mindestlohnrichtline nicht allein eine Stärkung der gesetzlichen, sondern auch der tarifvertraglichen Mindestlöhne beinhaltet.
Allerdings hat die EU auf dem Gebiet der Lohn- und Tarifpolitik nur sehr eingeschränkte rechtliche Kompetenzen. Die Mindestlohnrichtlinie schreibt daher weder einen gesetzlichen Mindestlohn noch dessen Höhe vor. Sie formuliert vielmehr Indikatoren für einen angemessenen und gerechten Mindestlohn. Dieser liegt entsprechend der Richtlinie bei 60 Prozent des Medians des nationalen Bruttolohns. Nach Berechnungen der OECD schwankte der deutsche Mindestlohn seit seiner Einführung zwischen 46 und 48 Prozent des Medianlohns von Vollzeitbeschäftigten. Lediglich die Mindestlohnerhöhung auf 12 Euro hat ihn zeitweilig auf knapp 52 Prozent ansteigen lassen. Um auf 60 Prozent des Medians zu kommen, wäre heute schon ein Mindestlohn von über 14 Euro notwendig.
Nach der europäischen Mindestlohnrichtlinie waren die Mitgliedstaaten verpflichtet, sie bis Mitte November 2024 in nationales Recht umzusetzen. In der juristischen Debatte in Deutschland ist es jedoch umstritten, ob hierfür eine Änderung des Mindestlohngesetzes notwendig ist. Die Bundesregierung hatte sich noch vor dem Bruch der Koalition der Position angeschlossen, wonach keine Änderung des Mindestlohngesetzes nötig sei.
Politische Sonntagsreden zur Würde von Arbeit reichen nicht aus. Wir brauchen klare Vorgaben für mehr Tarifbindung und Standards beim Mindestlohn.“
Wenn für die Zukunft sichergestellt werden soll, dass auch in Deutschland der gesetzliche Mindestlohn nicht mehr unterhalb von 60 Prozent des Medianlohns liegen soll, sollte diese Zielsetzung auch explizit im deutschen Mindestlohngesetz festgeschrieben werden. Eine entsprechende Änderung des Mindestlohngesetzes wird mittlerweile von einer breiten politischen Allianz gefordert, die vom ehemaligen Verdi-Chef Frank Bsirske bis zum neuen CDA-Vorsitzenden und „Vater der Europäischen Mindestlohnrichtlinie“ Dennis Radtke reicht. Frank Bsirske, Bundestagsabgeordneter der Grünen, will „Klarheit schaffen und die Rahmenbedingungen der Arbeit der Mindestlohnkommission so gestalten, dass der gesetzliche Mindestlohn immer auf einem armutsfesten Niveau von mindestens 60 Prozent des Medianlohns liegen muss“. Und Dennis Radtke, der neue Vorsitzende der CDU-Sozialausschüsse, stellt klar: „Politische Sonntagsreden zur Würde von Arbeit reichen nicht aus. Wir brauchen klare Vorgaben für mehr Tarifbindung und Standards beim Mindestlohn.“
Neben dem Mindestlohn geht es auch um die Stärkung der Tarifverträge. In ihrer Begründung weist die Richtlinie darauf hin, dass in Mitgliedstaaten mit einer hohen tarifvertraglichen Abdeckung der Anteil der Geringverdienenden tendenziell niedrig ist und die Mindestlöhne sich in der Regel auf einem hohen Niveau befinden. Folglich ist die Förderung von Tarifverhandlungen als wesentlich für einen angemessenen Mindestlohnschutz anzusehen.
Von den 27 EU-Mitgliedstaaten erreichen derzeit aber nur acht den in der Mindestlohnrichtlinie festgelegten Schwellenwert von 80 Prozent Tarifbindung. Dementsprechend müssen 19 Mitgliedstaaten Maßnahmen ergreifen, um Tarifverhandlungen zu fördern. Mit einer Tarifbindung von 49 Prozent im Jahr 2023 gehört auch Deutschland zu diesen Ländern.
Eine wichtige Möglichkeit zur Stärkung der Durchsetzung von Tarifverträgen ist die Einführung des Verbandsklagerechts. Es würde sicherstellen, dass Gewerkschaften im Namen der einzelnen Beschäftigten rechtliche Schritte einleiten und so dazu beitragen können, das strukturelle Machtungleichgewicht zwischen Arbeitgeber und einzelnen Beschäftigten teilweise zu überwinden. Ein weiteres Mittel wären tarifliche Differenzierungsklauseln mit tarifvertraglichen Vorteilen für Mitglieder.
Gefördert wird der deutliche Akzeptanzverlust von Branchentarifverträgen seit den 2000er Jahren vor allem durch die vermehrte Einführung sogenannter „OT-Mitgliedschaften“. Diese ermöglichen eine Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband, ohne jedoch an den jeweiligen Verbandstarifvertrag gebunden zu sein. Mit der OT-Mitgliedschaft, die es in dieser Form in keinem anderen EU-Mitgliedstaat gibt, schufen die Arbeitgeberverbände de facto einen „offiziellen“ Weg der Tarifflucht. Eine Abschaffung von OT-Mitgliedschaften würde die Funktion der Arbeitgeberverbände als Tarifpartei wieder stärken und damit einen wichtigen Beitrag zur Steigerung der Tarifbindung leisten. Eine weitere Möglichkeit zur Förderung der tarifpolitischen Rolle von Arbeitgeberorganisationen ist eine gesetzliche Verpflichtung zur regelmäßigen Teilnahme an Branchentarifverhandlungen, wie sie beispielsweise in Frankreich besteht.
Auf direktem Wege trägt die Stärkung von Branchentarifverhandlungen zu einer höheren Tarifbindung bei. Einen wichtigen Beitrag leisten auch Tariftreuevorgaben bei öffentlichen Aufträgen und in der Wirtschaftsförderung. Die in der EU am weitesten verbreitete und wirksamste Methode ist die umfassende Nutzung der Allgemeinverbindlicherklärung. Im Gegensatz zu Belgien, Frankreich, Finnland und Spanien, wo die Tarifbindung bei 80 Prozent oder darüber liegt, wurde in Deutschland 2022 nur ein verschwindend geringer Anteil von 0,8 Prozent aller neu registrierten Branchentarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt. Dies liegt vor allem an der ablehnenden Haltung der Arbeitgeberverbände, die im Verfahren zur Allgemeinverbindlichkeitserklärung über eine doppelte Blockademöglichkeit verfügen: Zum einen können Anträge nur von beiden Tarifvertragsparteien gemeinsam gestellt werden, zum anderen kann die Arbeitgeberseite sie in den Tarifausschüssen einseitig blockieren. Weitere Maßnahmen wären die Stärkung der Nachwirkung von Tarifverträgen nach Umstrukturierungen und die Ausweitung des Geltungsbereichs auf bisher ausgeschlossene Berufsgruppen.
Das alles zeigt das Potenzial der Richtlinie zur Schaffung angemessener Mindestlöhne und einer höheren Tarifbindung. Sie schafft in jedem Fall einen Referenzrahmen, auf den sich die Gewerkschaften und andere soziale Akteure bei der Verfolgung ihres Ziels der Stärkung der Tarifbindung stützen können.
THORSTEN SCHULTEN ist Tarifexperte des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung