Würdigung: Realist und Visionär
Der Sinn für das Machbare zeichnete Hans Böckler aus. Was er wollte, ging jedoch weit über das Erreichte hinaus. Gedanken zum 150. Geburtstag. Von Anne Sudrow
Die Auseinandersetzungen um Gute Arbeit, Mitbestimmung und Teilhabe an den Erträgen ihrer Produktion bestimmen heute ebenso wie früher die Agenda der Gewerkschaften. Der Lebensstandard und die Rechtsposition der Beschäftigten konnten in der Bundesrepublik in einer Weise verbessert werden, die früheren Generationen kaum vorstellbar erschienen wäre. Doch wäre auch noch mehr möglich? Eine Wirtschaftsordnung, die, wie das Staatswesen, ebenfalls demokratisch verfasst wäre? Zweimal in seinem Leben geriet Hans Böckler, der 1949 zum Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) gewählt wurde, in eine Situation, in der es schien, als sei das Ende des Kapitalismus zum Greifen nah, und als sei eine völlig neue, gerechtere und humanere Wirtschaftsordnung möglich.
Der erste Zeitpunkt war Ende des Ersten Weltkriegs, 1918, als das Kaiserreich von der Novemberrevolution hinweggefegt wurde. Zum zweiten Mal trat diese Situation nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes 1945 ein, als Deutschland nach dem selbst verursachten, blutigsten Krieg der Menschheitsgeschichte in Trümmern lag. Beide Male schien Böckler eine Demokratisierung der Wirtschaft als dringend notwendige Ergänzung, ja als Voraussetzung für politische Teilhabe und Mitbestimmung der Beschäftigten als Bürgerinnen und Bürger in einem republikanischen Staat. Ziel war, eine lebensfähige Demokratie in Deutschland zu schaffen, mit besseren Lebensverhältnissen und mit verbrieften Rechten für alle.
Knapp eine Woche nach Abschaffung der Monarchie und der Ausrufung der Republik in Berlin kam es 1918 zu einer wegweisenden Vereinbarung zwischen Unternehmern und Gewerkschaften, dem Stinnes-Legien-Abkommen. Bereits in den letzten Kriegsmonaten verhandelten führende Gewerkschaftsvertreter – ohne Auftrag der gewerkschaftlichen Basis – mit einigen Großunternehmern über Möglichkeiten der Sicherung der politischen und wirtschaftlichen Stabilität nach Beendigung des Krieges. Dabei errichten die Gewerkschaftsführer einige historisch zu nennende Zugeständnisse der Unternehmer. Mit dem Abkommen wurden die Gewerkschaften erstmals in ihrer Geschichte reichsweit von den Arbeitgebern als gleichberechtigte Verhandlungspartner anerkannt. Zur Verstetigung der Zusammenarbeit wurde im Abkommen eine „Zentralarbeitsgemeinschaft“ (ZAG) eingerichtet. Diese sollte als eine Art Wirtschaftsparlament mit Entscheidungen in wirtschaftlichen und sozialen Fragen fungieren. Hans Böckler wurde 1919 zum Sekretär der ZAG berufen. Radikalere Arbeiterführer sahen in der engen Zusammenarbeit freilich die Gefahr einer Zurückdrängung weitergehender Forderungen nach einer Demokratisierung der Gesellschaft und der Wirtschaft, namentlich der nach der „Sozialisierung“ von Betrieben und ganzen Industriezweigen und der dauerhaften Einführung eines Rätesystems. Dem Sozialdemokraten Böckler jedoch erschienen die Anerkennung der Tariffähigkeit der Gewerkschaften durch die Unternehmer und die Möglichkeit, künftig in einem Staat zu leben, der die Funktion der Gewerkschaften verfassungsmäßig sicherte, als wertvolle Errungenschaften. Der Spontaneität der Arbeiterräte misstraute er.
Böckler erschien die Anerkennung von Gewerkschaften durch die Unternehmer und den Staat als wertvolle Errungenschaft.
In der Rückschau erscheint die ZAG bedeutsam, sie zerbrach allerdings schon im Jahr 1924. Die revolutionäre soziale Bewegung der Weimarer Republik scheiterte, obwohl sie bis heute als die größte Massenbewegung in der deutschen Geschichte gilt. Stattdessen ließ die Revolution, die das Kaiserreich beendete, die politischen Strukturen und gesellschaftlichen Machtverhältnisse im Wesentlichen unangetastet. Der Kampf um die Demokratisierung der Industrie musste also rückblickend als ein Fehlschlag betrachtet werden. All dies mobilisierte vor allem die Gegner der Demokratie zu einem gnadenlosen Kampf gegen die Republik, dem diese 1933 schließlich erlag. Mit guten Gründen ist daher die Auffassung vertreten worden, dass nach 1918/19 mehr Demokratie nötig und möglich war, um die Grundsteine für eine soziale Republik zu legen.
Gleichzeitig mit diesen Entwicklungen aber hatte Ende der 1920er Jahre eine innergewerkschaftliche Diskussion um ein neues, radikaleres Konzept von „Wirtschaftsdemokratie“ begonnen. Dabei gingen die Vorschläge zu einer Demokratisierung der Wirtschaft nicht nur von den Beschäftigten in den Betrieben, sondern auch von Konsumentinnen und Konsumenten aus, die die Wirtschaft nach ihren Bedürfnissen mit- und umgestalten wollten. Sie tauchten in der bürgerlichen Wirtschaftstheorie sonst gar nicht als Akteure der Wirtschaft auf, bildeten aber in den Konsumgenossenschaften einen mächtigen Teil der Arbeiterbewegung, der bereits selbstbewusst die eigene Rolle für den Produktionsprozess und für eine Demokratisierung des Konsums reflektierte und alternative Wirtschaftsformen praktizierte. Es ging in diesen Diskussionen um die Überwindung des Kapitalismus, flankiert durch eine breite Mitbestimmung der Beschäftigten, ihre Teilhabe am Bildungssystem und an der politischen und wirtschaftlichen Macht. Argumentiert wurde, dass eine rein systemimmanente Argumentation und Denkweise, wie bisher, nicht zur wirklichen Bewältigung der anstehenden Probleme führen konnte. Stattdessen versprach gerade der Blick über den Kapitalismus hinaus neue und gangbare Lösungsansätze für die Zukunft.
Nach 1945 wollten die Gewerkschaften an die Idee der Wirtschaftsdemokratie anknüpfen.
An die alten Konzepte von Wirtschaftsdemokratie versuchten die Gewerkschaften während des Wiederaufbaus nach 1945 anzuknüpfen. Es herrschte – nicht nur auf Seiten der Arbeiterbewegung – weitgehend die Überzeugung vor, dass Kapitalismus und Nationalsozialismus ebenso eng zusammenhingen wie Kapitalismus und Krieg. Hans Böckler formulierte es im Januar 1946 so: „Das bisherige Wirtschaftssystem hat vollkommen versagt und uns in das tiefste Elend gebracht. Wir müssen daher darauf bedacht sein, andere Formen der Wirtschaft zu finden.“ Allerdings bestimmten nach dem Krieg weder der Staat noch die Verbände über das Schicksal des Landes, sondern überwiegend die vier Besatzungsmächte. Doch auch jetzt war ein zentrales Argument, die Demokratisierung der Wirtschaft sei notwendig, um die politische Demokratie dauerhaft zu sichern und einen erneuten Rückfall in autoritäre Verhältnisse zu verhindern.
Böckler dachte, wie schon in der Weimarer Republik, zentralistisch. Im Unterschied zu damals stand den Gewerkschaften diesmal kein starker Staat zur Seite. Umso mehr mussten die Gewerkschaften nun selbst für eine Durchsetzung der Demokratie kämpfen. Für Böckler stand fest, dass die nahezu unumschränkte Macht, über die die Unternehmensleitungen bislang verfügt hatten, nachhaltig eingeschränkt werden musste. Er war überzeugt, es gelte, das autoritäre, später nationalsozialistische Führerprinzip in Gesellschaft und Wirtschaft, „in dem die einen befehlen und die anderen gehorchen“, endlich zu überwinden. Betriebsräte hatten sich in den Unternehmen bereits überall gebildet, arbeiteten allerdings ohne verbindliche Rechtsgrundlage. Dies lag vor allem an den westlichen Besatzungsmächten.
In Böcklers Wirkungsbereich – er war politisch und gewerkschaftlich in Köln tätig und dort seit 1945 außerdem Mitglied des Ausschusses, der die Gründung einer deutschen Einheitsgewerkschaft vorbereiten sollte – war die britische Militärregierung zuständig. Am 23. Januar 1946 wurde ein Gesetz über die Arbeitnehmervertretungen in den Betrieben in der britischen Zone verabschiedet. Es orientierte sich am Betriebsrätegesetz von 1920 und räumte den Betriebsräten kein wirtschaftliches Mitbestimmungsrecht ein. Großbritannien verhinderte zunächst auch die Bildung einer zentralen Gewerkschaftsorganisation und die Bildung einer Einheitsgewerkschaft.
Erst im April 1947 gründete sich in der britischen Zone der Deutsche Gewerkschaftsbund, dessen Vorsitzender Böckler wurde. Dagegen konnten die Arbeitgeber bereits früher ungehindert die Organisation ihrer Interessen verfolgen. Im Lauf des Jahres 1946 bildeten sich Arbeitgeberverbände, die getrennt von den Wirtschaftsverbänden die sozialpolitischen Interessen der Unternehmer wahrnahmen. Schon damit war eine wichtige Voraussetzung für eine umfassende gesellschaftliche Neuordnung, wie sie von den Gewerkschaften angestrebt wurde, nicht mehr gegeben. Denn mit einer Anerkennung von „Arbeitgeberverbänden“, die Böckler bis zuletzt verhindern wollte, wurde für ihn der Weg zurück in die alten Verhältnisse leidiger Interessenskämpfe beschritten, die man doch überwinden wollte.
Der DGB stand damit nach Auffassung Böcklers an einem Wendepunkt. Von der Form der künftigen Wirtschaftsverfassung der Bizone hing nach Böcklers Meinung ab, ob die Gewerkschaften in Zukunft eine „Wirtschaftsorganisation“ oder eine „Kampforganisation“ sein müssten: Wenn es in Deutschland zu einer „Gemeinwirtschaft“ komme, seien die Gewerkschaften eine von mehreren Wirtschaftsorganisationen; im Fall einer künftigen „Privatwirtschaft“ würden die Gewerkschaften gezwungen, zur Kampforganisation für die Arbeitenden zu werden. Böckler befürchtete, dass der im Juni 1947 verkündete Marshallplan der US-Militärregierung die amerikanischen Hilfsgelder nur unter der Bedingung gewähren könnte, dass weitere Schritte zur Sozialisierung der Grundstoffindustrien in den Westzonen unterblieben. Seine Befürchtungen sollten sich wieder bewahrheiten.
Eine Neuordnung der Wirtschaft war auf dem Weg der freiwilligen Verständigung mit den Unternehmern schon Anfang 1948 nicht mehr möglich. Seinen Anspruch auf eine umfassende Umgestaltung der Wirtschaft wollte der DGB zunächst nicht aufgeben. Doch musste er in den Jahrzehnten seit Hans Böcklers Tod von immer weiteren Grundsätzen Abstand nehmen.
Wirtschaftliche und politische Demokratie, Mitbestimmung und die Stabilität der republikanischen Staatsform hängen zusammen.
Hans Böckler hat stets auf die Anerkennung der Gewerkschaften durch den Staat und die Arbeitgeber gesetzt; seine Politik legte den Schwerpunkt darauf, durch verbriefte, institutionell abgesicherte Rechte die Lebens- und Arbeitsverhältnisse der Arbeitenden zu verbessern. Marktwirtschaft, parlamentarische Demokratie und Mitbestimmung wurden zu den Grundpfeilern der Nachkriegsgesellschaft – und sind es bis heute. Gleichzeitig
ist die 1951 erkämpfte Montanmitbestimmung mit paritätisch besetzten Aufsichtsräten, die mit dem Namen Hans Böcklers verbunden ist, bis heute das weitreichendste Mitbestimmungsmodell geblieben. Die privatwirtschaftliche Wirtschaftsverfassung der Bundesrepublik wird kaum noch grundsätzlich infrage gestellt.
Und doch ist – in historischer Perspektive – ein Zusammenhang von wirtschaftlicher und politischer Demokratie, von sozialer Gerechtigkeit, Mitbestimmung der Arbeitenden in allen wirtschaftlichen Entscheidungsprozessen und der Stabilität der republikanischen Staatsform nicht von der Hand zu weisen. Wäre der 150. Geburtstag von Hans
Böckler in dieser wirtschaftlich und politischen Krisenzeit nicht ein Anlass, mehr Demokratie zu wagen und in der Gesellschaft über gangbare wirtschaftliche Alternativen jenseits kapitalistischer Strukturen nachzudenken?
ANNE SUDROW ist Historikerin mit einem Forschungsschwerpunkt in der Geschichte alternativer Wirtschaftsformen und selbstverwalteter Betriebe im 20. Jahrhundert.