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Betriebsschließungen: Raus aus der Schockstarre

Ausgabe 03/2024

Betriebsräte werden von Fabrikschließungen und Standortverlagerungen oft kalt erwischt. In dieser Situation können sie einiges falsch machen – aber auch vieles richtig. Von Andreas Molitor

Es ist der Alptraum eines jeden Betriebsrats: Die Geschäftsführung bittet zum Gespräch und eröffnet mit den Worten: „Tut uns leid, aber zum Jahresende müssen wir die Fabrik schließen.“ Für viele Belegschaften und Betriebsräte dürfte dieses Szenario unangenehm vertraut klingen. Seit Monaten häufen sich bundesweit die Meldungen von Personalabbau, Standortschließungen und Verlagerungen. Zu Zehntausenden verschwinden gut bezahlte, überwiegend tarifgebundene Jobs – ohne dass es sich, wegen der grassierenden Personalnot, bisher in den Arbeitslosenstatistiken niederschlägt.

Am schlimmsten trifft es die Automobilzulieferer. Die einen ächzen unter der Last der Transformation zur Elektromobilität, die anderen hängen noch immer hoffnungslos am Verbrenner fest. Etliche Hersteller von Spritzguss­teilen, Sicherheitsgurten, Stoßdämpfern, Scheinwerfern, Innenverkleidungen, Sitzen, Reifen, Rückspiegeln, Lenkungen und Kabelbäumen haben in den vergangenen Monaten die Fabriktore für immer geschlossen oder das baldige Ende der Produktion verkündet.

„In letzter Zeit haben wir es vermehrt mit kompletten Werksschließungen zu tun“, berichtet Kay Kürschner, Geschäftsführer der in Essen und Berlin beheimateten PCG - Project Consult GmbH, die sich auf die betriebswirtschaftliche Beratung von Betriebsräten und Gewerkschaften spezialisiert hat. „Es wird von Monat zu Monat mehr. Aktuell bekommen wir pro Woche mindestens eine Handvoll Anfragen herein – von Automobilzulieferern, aber auch von Lieferanten der Bauwirtschaft, beispielsweise Herstellern von Armaturen, Küchenmöbeln, Türzargen oder Klimaanlagen.“ Aktuell geraten auch viele Kunststoff-Recyclingfirmen in Not. (s. „12 Schichten, damit der Käse nicht schwitzt“)

Gibt es in solchen Situationen so etwas wie „Goldene Regeln“, die Betriebsräte beachten sollten? Kardinalfehler, die auf jeden Fall zu vermeiden sind? Wir haben Gewerkschafter, Beschäftigtenvertretungen und arbeitnehmernahe Berater gefragt.

Immer mehr Betriebe machen dicht

  • Grafik zur Entwicklung der Unternehmensschließungen
    Entwicklung der Unternehmensschließungen in der Industrie 2018 bis 2023

Tipps: Was Betriebsräte beachten sollten

Manche Arbeitgeber nutzen die Situation der anfänglichen Schockstarre und drängen den Betriebsrat zu einer schnellen Unterschrift unter eine Vereinbarung nach dem Motto: „Wenn wir jetzt noch ein halbes Jahr verhandeln, müssen wir noch mehr Leute entlassen.“ Darauf sollte der Betriebsrat sich auf keinen Fall einlassen. Im Gegenteil: Der Arbeitgeber ist gesetzlich verpflichtet, den Betriebsrat rechtzeitig und umfassend zu informieren und die geplanten Maßnahmen – samt Auswirkungen auf die Beschäftigten – mit ihm zu beraten. Dazu gehören beispielsweise detaillierte Wirtschaftlichkeitsberechnungen. Eine schicke Powerpoint-Präsentation mit aus der Luft gegriffenen Zahlen zu erhofften Kostensenkungen reicht nicht. Ganz wichtig, so Kay Kürschner: „Der Arbeitgeber sollte auf jeden Fall der Überbringer der schlechten Botschaft sein. Er darf das nicht auf den Betriebsrat abwälzen.“

Der Betriebsrat ist in der Situation in der Regel überfordert. „Widerborstigkeit allein reicht nicht“, erklärt Kürschner. Es gehe darum, „das vom Arbeitgeber vorgelegte Zahlenwerk genau zu durchleuchten und die Stilllegungspläne des Managements mit Alternativszenarien zu kontern“. Dazu reichten die Ressourcen des Betriebsrats aber in den allermeisten Fällen nicht aus. Daher sollten sie schnellstmöglich die Gewerkschaft ins Boot holen und Expertinnen oder Experten in der Begleitung von Betriebsräten und Gewerkschaften beauftragen. Bei Unternehmen ab 300 Beschäftigten hat der Betriebsrat sogar einen Rechtsanspruch auf Übernahme der Kosten für die Beratung. Mit Unterstützung der externen Expertise kann der Betriebsrat „den Arbeitgeber zwingen, sich mit dem eigenen Konzept noch einmal intensiv auseinanderzusetzen und es auf Plausibilität zu überprüfen“, erklärt Michael Gill, Geschäftsführer des in Stuttgart ansässigen IMU Instituts. Dann komme es tatsächlich regelmäßig vor, „dass wir nachweisen können, dass das Konzept des Arbeitgebers eben nicht gut durchdacht war und dass man noch einmal über Alternativen nachdenken sollte“.

Das alles geschieht unter großem Zeitdruck. „Man muss möglichst schnell mit den Entscheidern auf Arbeitgeberseite zusammenkommen“, so PCG-Geschäftsführer Kürschner. „Dann hat man Chancen, etwas zu bewegen.“ Natürlich nur mit einem Plan, „der auch einer kritischen Überprüfung durch die Beraterinnen und Berater des Arbeitgebers standhält“, betont sein IMU-Kollege Michael Gill: „Unsere Konzepte müssen einer betriebswirtschaftlichen Logik folgen. Wir versuchen nicht, auf Biegen und Brechen Standorte zu erhalten, die nicht lebensfähig sind.“

Die Bilanz, meint Kay Kürschner, sei gar nicht schlecht. „Hin und wieder kann mit unserer Hilfe­ eine Standortverlagerung tatsächlich verhindert werden.“ Das sei der „Best Case“. „Was wir in den meisten Fällen schaffen, ist eine Reduzierung des Beschäftigungsabbaus oder eine Streckung der Schließungspläne über einen längeren Zeitraum.“ Oder es gelingt, gemeinsam mit der Belegschaft Ideen für eine Produktsparte mit Zukunft zu entwickeln, die am Standort verbleiben kann. Grob geschätzt, passiere „bei vier von fünf Mandaten nicht eins zu eins, was der Arbeitgeber ursprünglich geplant hat. Allerdings gibt es auch Situationen, wo der Standort definitiv nicht zu halten ist und es um einen guten Sozialplan und die Einrichtung einer Transfergesellschaft geht.“

Notgedrungen begleiten manche Betriebsräte den vom Arbeitgeber verordneten, stückweisen Schrumpfkurs über Jahre hinweg sozialpartnerschaftlich und konfliktfrei gegen das ein oder andere Zugeständnis bei den Abfindungen. Spätestens wenn ein Standort akut bedroht ist, sollte allerdings Schluss damit sein. Wichtig sei, dass der Betriebsrat und die Beschäftigten motiviert und konfliktbereit sind, sagt ­Jochen Müller, Co-Geschäftsführer des IMU Instituts. Dazu braucht es auch die richtigen Akteure auf Betriebsratsseite: konfliktfähige Frauen und Männer, glaubwürdige Galionsfiguren. Mitunter bringt erst ein Wechsel im Vorsitz den entscheidenden Impuls – wie beim Continental-Werk im hessischen Babenhausen, das sich vor drei Jahren auf der Stilllegungsliste der Konzernführung fand. Kurz zuvor hatte Anne Nothing den Vorsitz im Gremium übernommen. „Wie lange wollen wir denn noch warten?“, rief sie der Belegschaft entgegen. „Wenn der Werksleiter vor der versammelten Mannschaft redet, dreht ihr ihm einfach alle euren Rücken zu“, instruierte sie die Belegschaft. So geschah es. Der Mann war total irritiert. So etwas hatte er noch nie erlebt.

„Wirtschaftliches Drohpotenzial, Es­ka­la­tions­fähigkeit und eine starke gewerkschaftliche Verankerung in der Belegschaft erhöhen die Chancen, dass wir mit Alternativen zur Standortschließung zum Management durchdringen“, postuliert Jochen Müller vom IMU Institut. „Wir können mit dem Betriebsrat ein wunderschönes Segelboot bauen, aber der Wind dazu kommt von der Gewerkschaft.“ Wenn die Bänder stillstehen, könne das durchaus ein paar Millionen Euro am Tag kosten. „Je größer die Androhung eines wirtschaftlichen Schadens für den Arbeitgeber ist, desto schärfer das Schwert am Verhandlungstisch mit dem Arbeitgeber.“

Am Beispiel des Konflikts mit Continental vor drei Jahren, als mehrere Werke mit Tausenden Beschäftigten auf der Schließungsliste standen, hat der IG Metall-Bezirk Mitte gezeigt, wie es geht. Anfangs waren die Belegschaften vor Ort alles andere als arbeitskampffähig, der Organisationsgrad vielerorts knapp zweistellig und die Betriebsräte traditionell auf friedliche Einigung mit dem Arbeitgeber ausgerichtet. Auf ein von vornherein aussichtsloses Kräftemessen aber konnte und wollte die Gewerkschaft sich nicht einlassen. Unter der Regie der Bezirksleitung in Frankfurt und der Geschäftsstellen wurden die Standorte per Anweisung stufenweise in den Arbeitskampfmodus versetzt. Bezirksleiter Jörg Köhlinger und sein Team schickten ihre Gewerkschaftssekretäre in jedes Werk. Die „schnelle Eingreiftruppe“ führte über Wochen und Monate Eins-zu-eins-Gespräche mit Beschäftigten am Arbeitsplatz; jeder wurde angesprochen. Mit Erfolg: Der Organisationsgrad schnellte überall in die Höhe, auf 70, 80, teilweise über 90 Prozent.

Es hat sich gelohnt: An allen umkämpften Standorten lenkte Continental schließlich ein und willigte in längere Fristen für den Stellenabbau, ein Aufschieben der Schließung um zwei oder drei Jahre, deutlich höhere Abfindungen und den Einsatz von Transfergesellschaften für die Hilfe bei der Suche nach neuen Jobs ein. Betriebsbedingte Kündigungen wurden ausgeschlossen, jedenfalls für IG Metall-Mitglieder.

Betriebsräte müssten „viel früher anfangen, ein Sensorium zu entwickeln, ob der Standort für die Zukunft noch gut aufgestellt ist“, nicht erst, wenn die Geschäftsführung zum unangenehmen Gespräch bittet. So sieht es Norbert Göbelsmann, der Erste Bevollmächtigte der IG Metall in Freiburg im Breisgau. Er wirbt für den „Zukunfts-Check“, ein von der IG Metall Baden-Württemberg entwickeltes und vom Transformationsteam der Gewerkschaft moderiertes Workshopformat. Für einen halben Tag „holen wir den Betriebsrat zusammen, durchleuchten den Betrieb systematisch und schärfen den eigenen Blick für Stärken und Schwächen des Standorts“.

Was verbirgt sich hinter den angeblichen Kostenproblemen des Unternehmens? Sind wir längst im ruinösen Preiskampf? Wie zukunftsfähig sind unsere Produkte? Welche Gerüchte kursieren schon, und was ist dran? Was erwarten unsere Kunden von uns? Gerade in kleinen und mittleren Betrieben mit dürftigem Organisationsgrad, so Norbert Göbelsmann von der IG Metall, könne das eine Alternative zu einer aufwendigen Gewerkschaftsmobilisierungskampagne à la Continental sein.

Nur ein Betriebsrat, der das Ohr am Puls des Unternehmens hat, das weiß Göbelsmann aus Erfahrung, „ist diskursfähig und kann sogar die wirtschaftliche Meinungsführerschaft übernehmen“. Und eigene Vorschläge entwickeln, die er im Dialog mit dem Arbeitgeber platzieren kann, lange bevor der große Knall kommt. Ein Betriebsrat, der auf Augenhöhe mit der Geschäftsführung diskutiert – so etwas spricht sich schnell herum und verschafft dem Gremium ein besseres Standing in der Belegschaft. „Und das“, sagt Göbelsmann, „kann im Konfliktfall genauso wichtig sein wie ein hoher gewerkschaftlicher Organisationsgrad.“

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