Quelle: HBS
Magazin MitbestimmungInitiativen: Psychostress - das unterschätzte Risiko
Die Aufmerksamkeit für psychische Belastungen am Arbeitsplatz wächst. Die Gewerkschaften setzen nicht nur auf betriebliche Lösungen, sondern auch auf öffentlichkeitswirksame Umfragen, korporatistische Spitzengespräche und neue Gesetze. Von Guntram Doelfs und Kay Meiners
Neue Arbeitsweisen und neue Lebensstile gehen oft mit zunächst unerkannten Risiken für die Gesundheit einher. Die digitale Technik spielt aus der Perspektive des Arbeitspsychologen Michael Kastner eine Doppelrolle: Sie ist der „große Vereinfacher und der große Komplizierer zugleich“. Während sie einerseits die Freiheitsgrade von Konsumenten, Produzenten und Arbeitnehmern erhöht, ist sie zugleich für eine Beschleunigung und höhere Komplexität von Arbeitsprozessen mitverantwortlich. Oft wird die Arbeit dadurch anspruchsvoller, und kann Arbeitnehmer überfordern. Eine Folge können psychische Erkrankungen sein. In welchem Verhältnis Persönlichkeit, Lebensstil und Arbeitsplatz als Risikofaktoren stehen und wie einzelne Erkrankungen ausgelöst werden, ist dabei hoch umstritten.
Man muss davon ausgehen, dass es häufig komplexe Wechselwirkungen sind, die Beschwerden und Erkrankungen auslösen. Nicht immer wird die Arbeit durch die digitale Technik aber anspruchsvoller. Je nach Geschäftsmodell des Unternehmens können durch eine Re-Taylorisierung der Arbeit und durch Crowdworking auch neue hochkontrollierte Einfacharbeitsplätze entstehen, die durch ihre Monotonie und eine extreme Fremdbestimmung belastend sind. Es kommt also auf die richtige Mischung an. Die Gewerkschaften bearbeiten das Thema seit Jahren – die Arbeitgeber beginnen vielerorts aber erst damit, eine Mitverantwortung für psychische Belastungen im Betrieb anzuerkennen.
UMFRAGE: DGB-INDEX "GUTE ARBEIT"
Wie häufig die Beschäftigten psychische Belastung am Arbeitsplatz registrieren und wie wenig die Beschäftigten davor geschützt werden, zeigen Ergebnisse des DGB-Indexes „Gute Arbeit 2012“. In einer Repräsentativumfrage mit dem Titel „Wachsender Psycho-Stress, wenig Prävention – wie halten die Betriebe es mit dem Arbeitsschutzgesetz?“ zeichneten die rund 5000 befragten Arbeitnehmer ein kritisches Bild der psychischen Belastungssituation. Danach hat sich für 80 Prozent der Befragten die Arbeitsintensität gesteigert, für mehr als die Hälfte sogar in „beträchtlichem Ausmaß“.
Etwa ein Viertel der Befragten geben an, sehr häufig oder oft auch außerhalb der Arbeitszeit für den Arbeitgeber erreichbar sein zu müssen. Rund 56 Prozent geben an, im Job hetzen zu müssen. 44 Prozent der Befragten berichten, sie fühlten sich deshalb nach der Arbeit leer und ausgebrannt. Gleichzeitig findet eine ausreichende Vorbeugung gegen psychische Belastungen selten statt. Nur bei 28 Prozent aller Beschäftigten wurde die Tätigkeit einer Gefährdungsbeurteilung unterzogen; insgesamt wurden überhaupt nur neun Prozent der Beschäftigten im Rahmen einer Gefährdungsbeurteilung nach belastenden Stressfaktoren wie Zeitdruck, Entgrenzung, Arbeitsintensität oder fragwürdigem Führungsverhalten von Vorgesetzten bei ihrer Arbeit gefragt.
VERSTÄNDIGUNG: ERLÄRUNG DER SOZIALPARTNER
Gewerkschaften, Arbeitgeber und Politik wollen künftig gemeinsam gegen den zunehmenden Stress am Arbeitsplatz vorgehen. Anfang September verständigten sich der DGB, die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA) und das Bundesarbeitsministerium auf eine gemeinsame Erklärung für die „psychische Gesundheit am Arbeitsplatz“. Danach wollen alle Seiten dazu beitragen, psychischen Erkrankungen besser vorzubeugen und die Wiedereingliederung von psychisch Erkrankten in den Arbeitsmarkt zu verbessern.
Mit der jetzigen Erklärung sind jedoch die Differenzen darüber, was konkret zu tun ist, längst nicht ausgeräumt – und finden sich so auch in der Erklärung wieder. Während der DGB und dessen Einzelgewerkschaften mit einer Anti-Stress-Verordnung eine „Regelungslücke“ bei psychischen Erkrankungen schließen wollen, lehnen die Arbeitgeber und das Arbeitsministerium das weiterhin ab, weil ihrer Auffassung nach das bestehende Recht ausreichend Schutz gewährleistet.
An diesem Dissens wäre die gemeinsame Erklärung beinahe ganz gescheitert. Eigentlich sollte diese bereits zum Jahresbeginn 2013 vorliegen. Im Januar jedoch machten die Arbeitgeber wegen der Gewerkschaftsforderung nach einer Anti-Stress-Verordnung einen Rückzieher und blockierten eine Einigung. Alle Seiten bekräftigten danach ihre Positionen, einigten sich jetzt aber auf eine Art Minimalkompromiss. Für DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach ist dies dennoch ein Fortschritt, weil die Arbeitgeber endlich anerkennen würden, dass psychische Erkrankungen „keine Privatsache sind, sondern auch ganz wesentlich durch Missstände in der Arbeitswelt entstehen“.
GESETZESVORSCHLAG: ANTI-STRESS-VERORDNUNG
Zusätzlich zu den Anstrengungen in den Betrieben und auf der Ebene der Bundesverbände wollen die Gewerkschaften den Staat auch als Gesetzgeber stärker in die Pflicht nehmen. Die Bundesregierung und die Arbeitgeber haben bisher die bestehenden arbeitsrechtlichen Regelungen für ausreichend gehalten, um psychischen Erkrankungen vorzubeugen. Tatsächlich finden in vielen Betrieben bis heute keine Gefährdungsbeurteilungen psychischer Belastungen statt. Der DGB, und seine Mitgliedsgewerkschaften sehen einen klaren arbeitsrechtlichen Regelungsbedarf zur Vermeidung von psychischen Belastungen am Arbeitsplatz.
Sie fordern deshalb eine Anti-Stress-Verordnung. In einer Anti-Stress-Verordnung solle die Bundesregierung „wesentliche Gefährdungsfaktoren am Arbeitsplatz benennen und die Umsetzung geeigneter Maßnahmen einfordern sowie den Rahmen für angemessene Sanktionen schaffen“, heißt es in einem Beschluss des DGB-Bundesvorstandes vom 9. April. Ferner soll die Unfallversicherung konkrete Vorgaben in „Unfallverhütungsvorschriften und branchenspezifischen Regeln“ schaffen. Einen ersten Entwurf für eine solche Verordnung hat die IG Metall bereits zur Diskussion gestellt.