Quelle: HBS
Magazin Mitbestimmung: Pro und Contra
Verstößt Hartz IV in seiner aktuellen Form gegen die Verfassung?
Johannes Münder, emeritierter Professor für Sozialrecht und Zivilrecht an der TU Berlin und Gutachter für die Hans-Böckler-Stiftung:
„Ja, die neuen Regelsätze auf der Basis des sogenannten Statistikmodells mithilfe der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) erfüllen nicht die Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts. Entgegen der Forderung des Gerichts gehören ‚verdeckte Arme‘ – also Haushalte, die unter der Existenzsicherungsschwelle liegen, ohne Sozialleistungen zu erhalten – zu der Bezugsgruppe, deren Einkommen zur Bestimmung des Existenzminimums verwendet wurde. So entstehen systematisch zu geringe Regelsätze. Nicht verfassungskonform ist auch die Ermittlung der Regelbedarfe von Kindern auf der Basis der Durchschnittsausgaben von Familienhaushalten der unteren 20 Prozent der Einkommenspyramide; denn die zugrunde liegenden Fallzahlen sind teilweise so gering, dass die Ergebnisse nicht valide sind. Die Verfassungsrichter haben auch einen internen Ausgleich bei den pauschalen Bemessungen des Bedarfs gefordert, der aber nicht möglich ist, weil zu viele ‚nichtregelbedarfsrelevante Leistungen‘ aus dem pauschalierten Regelbedarf ausgeschlossen wurden. Damit das Gericht überprüfen kann, ob der Gesetzgeber seinen Gestaltungsspielraum verfassungskonform ausgefüllt hat, muss der Gesetzgeber seine Methoden und Berechnungsschritte transparent und nachvollziehbar begründen. Dem ist er vielfach nicht nachgekommen.“
Andy Groth, Richter am schleswig-holsteinischen Landessozialgericht und zurzeit abgeordnet an das Sozialgericht Schleswig:
„Nein, die Regelsätze werden dem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum gerecht. Mit den Kosten der Unterkunft und weiteren Leistungen sichern sie die Mindestvoraussetzungen physischer Existenz und gesellschaftlicher Teilhabe. Das Bundesverfassungsgericht hat nicht feststellen können, dass 359 Euro evident unzureichend sind. Auch 364 Euro werden es nicht sein. Der Gesetzgeber hat das Existenzminimum politisch wertend auszuformen. Das Gericht prüft nur, ob der Regelbedarf auf verlässlicher Zahlengrundlage in einem transparenten Verfahren schlüssig ermittelt und begründet ist. Diese Vorgaben werden im Großen und Ganzen eingehalten. Wer Schwächen im Detail sucht, wird fraglos fündig. Wer aber meint, statistisch-empirische Unwägbarkeiten und streitbare Begründungen zu einem Verfassungsverstoß aufaddieren zu können, gibt sich der Illusion eines bis ins Letzte kalkulierbaren Bedarfs hin. Über die Höhe muss in Berlin gestritten werden, nicht in Karlsruhe. Die Selbstverpflichtung des Gesetzgebers, die Bedarfsermittlung zukünftig aufmerksamer zu begleiten, ist ein Schritt in die richtige Richtung.“