Quelle: Stephen Petrat (l); SZ Photo/Stefan Boness/IPON (r)
Magazin MitbestimmungStrompreis: „Prinzip Gießkanne“
Ökonom Tom Krebs und Christina Schildmann, Leiterin der Forschungsförderung der Hans-Böckler-Stiftung, zu den Plänen der Bundesregierung für den Industriestrompreis. Das Interview führten Fabienne Melzer und Kay Meiners
Herr Krebs, die Koalition hat sich auf ein Modell für einen Industriestrompreis verständigt. Sie selbst hatten im Auftrag der Forschungsförderung Vorschläge für den Strompreis vorgelegt. Erkennen Sie davon etwas wieder?
Tom Krebs: Nicht wirklich. Unser Vorschlag sollte drei Dinge erreichen: Zuerst sollte er die Preisunsicherheit für alle rauszunehmen und eine Entlastung für alle Unternehmen und private Haushalte bringen. Dieses Ziel hat die Bundesregierung nicht erfüllt. Zweitens wollte man die Industrie und insbesondere die energieintensive Industrie entlasten, um die industrielle Basis zu halten. Auch da wurde eigentlich nichts beschlossen, was über das hinausgeht, was es für die stromintensive Industrie bereits jetzt gibt, jedenfalls nicht genug. Das dritte Ziel war, die Finanzierung so zu gestalten, dass wir an anderer Stelle nicht kürzen müssen. Deswegen haben wir die Finanzierung über den Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) vorgeschlagen. Doch dieser Weg ist nun mit dem neuen Urteil des Bundesverfassungsgerichts versperrt und man muss nach anderen Lösungen suchen. Eigentlich liegt es ja auf der Hand: Die großen Probleme der energieintensiven Industrie durch den Energiepreisschock sind ein Symptom der fortbestehenden wirtschaftlichen Notlage, die Ausnahmen von der Schuldenbremse rechtfertigt.
Christina Schildmann: Der Kompromiss der Regierungskoalition hat noch eine weitere Schwäche: Die Förderung wird nicht an Bedingungen geknüpft. In dem Vorschlag von Tom Krebs wird die Förderung mit Beschäftigungs- oder Transformationszusagen verbunden. Damit verzichtet der Gesetzgeber auf Gestaltungsmöglichkeiten.
Tom Krebs: Das Geld – es sollen rund elf Milliarden im kommenden Jahr sein – wird mit der Gießkanne verteilt und reicht nicht aus, um die energieintensiven Unternehmen zu entlasten. Am Ende wurde viel zu klein gedacht und die wesentlichen Ziele wurden verfehlt. So werden wir den Industriestandort Deutschland nicht sichern.
Warum bleibt die Preisunsicherheit im Markt?
Tom Krebs: Das Paket der Bundesregierung entlastet die Unternehmen bei der CO2-Bepreisung und bei der Stromsteuer. Sie wird von derzeit rund zwei Cent auf 0,05 Cent – das EU-Mindestmaß – gesenkt. Das ändert aber nichts an schwankenden Marktpreisen. Die Unternehmen wissen nicht, was der Strom sie nächstes Jahr kosten wird. Sie wissen nur, dass sie teuren und billigen Strom etwas günstiger als ohne die Steuersenkung bekommen werden. Wir wollten verlässliche Preise, bis der europäische Strommarkt reformiert ist, die erneuerbaren Energien ausgebaut sind und die Strompreise auf ein Niveau sinken, dass wir in unserer Studie auf etwa 5 bis 8 Cent schätzen.
Manche halten das für eine optimistische Prognose.
Tom Krebs: Ich habe mir die Stromgestehungskosten, also die Betriebskosten plus Investitionskosten im Durchschnitt angeschaut und bin darüber auf 5 bis 8 Cent gekommen. Natürlich muss die Bundesregierung dafür ihre Ausbauziele bei den erneuerbaren Energien erreichen. Bei der Onshore-Windenergie hinken wir in diesem Jahr hinterher, dafür haben wir beim Solarausbau das Ziel sogar übererfüllt.
Was ist ihre größte Kritik am aktuellen Strompreisbeschluss?
Tom Krebs: Vor lauter Marktgläubigkeit wollte man Eingriffe in den Marktpreis verhindern. Wir normalisieren die Finanzpolitik, wir normalisieren die Wirtschaftspolitik. Aber dem liegt eine komplette Fehldiagnose zu Grunde. Die Politik denkt offenbar, die Krise sei zu Ende. Wir haben aber nicht nur eine konjunkturelle Delle, sondern eine transformative Herausforderung, die durch die Energiekrise nochmals größer geworden ist.
Die Regierung spricht von einem großen Wurf.
Tom Krebs: Der Effekt der Steuersenkung ist geringer als bei der Abschaffung der EEG-Umlage, die 6 Cent pro Kilowattstunde gebracht hat. Wenn man von ein paar Details absieht, bekommen wir all jene Maßnahmen, die bereits laufen, aber eigentlich enden sollten. Das wird als großer Erfolg verkauft, weil die FDP zunächst gesagt hat: Das verlängern wir vielleicht nicht.
Wie stark entlastet das vorliegende Paket die Unternehmen?
Christina Schildmann: Nehmen wir eine Stahlschmiede in Nordrhein-Westfalen mit 450 Beschäftigen, die im Jahr 118 Millionen Kilowattstunden Gas und 16 Millionen Kilowattstunden Strom verbraucht. Der Betrieb hatte vor dem russischen Angriffskrieg Energiekosten von 6 Millionen Euro pro Jahr. Im laufenden Jahr haben sie 21 Millionen. Mit den aktuellen Maßnahmen kommen sie auf 18 Millionen, das ist immer noch dreimal so viel wie vor dem Krieg. Sie haben schon Kurzarbeit, und die Nachfrage bricht ein.
Tom Krebs: Vor der Krise lag der Strompreis an der Börse etwa bei 4 Cent pro Kilowattstunde. Jetzt liegt er bei etwa 10 Cent für die sofortige Lieferung, und für Lieferungen nächstes Jahr bei 12 Cent. Das zeigt, dass die Maßnahmen bis auf Kleinigkeiten nichts verändern werden. Die Industrie muss immer noch mit einer Verdopplung oder Verdreifachung der Stromkosten lebe. Wer das nicht schultern kann, wird Investitionen stoppen und vielleicht abwandern. Das wird nicht zu Massenarbeitslosigkeit führen. Aber wir könnten gutbezahlte Arbeit verlieren. Was diese Politik wirklich anrichtet, werden wir erst in einigen Jahren sehen.
Wir werden Wertschöpfung und auch gut bezahlte Arbeit verlieren?
Tom Krebs: Ja. Und trotzdem sagt die Mehrheit der Ökonomen, dass wir keine Unterstützung der energieintensiven Industrie brauchen. Sie sagen einfach: Der Markt regelt das.
Christina Schildmann: Man verzichtet auf Anreize, in die Ökonomie der Zukunft einzusteigen. Die Transformationschancen, die in so einer Subvention stecken, werden nicht genutzt. Das kann nicht das Ende der Fahnenstange sein, was da beschlossen worden ist.
Das Thema ist also nicht erledigt?
Christina Schildmann: Es ist nicht vom Tisch. Natürlich sind die Unternehmen und auch die Gewerkschaften erst mal froh, dass diese Instrumente verlängert wurden. Sie wären sonst größtenteils zum Ende des Jahres ausgelaufen. Die Debatte wird auch deswegen wieder kommen, weil Robert Habeck vor wenigen Wochen eine Industriestrategie vorgelegt hat, die sich die Standortsicherung zur Aufgabe gestellt hat.
Tom Krebs: Das ist ein sehr guter Punkt. Also um das auch noch mal hervorzuheben. Wir sehen die Strompreisbremse und den Industriestrompreis ja immer nur als einen Baustein einer allgemeinen Industriestrategie.
Jetzt zahlt die Verkäuferin bei Aldi für den günstigen Strom für den Chemieriesen oder die Stahlschmiede mit. Wäre nicht eine Entlastung auch der Privathaushalte gerechter?
Tom Krebs: Unser Vorschlag hätte die privaten Haushalte eingeschlossen. Sie bekommen von der jetzigen Strompreissenkung nichts ab.
Gerade aus der Umwelt- und Klimabewegung gibt es die Kritik, ein subventionierter Strompreis bremse die Transformation.
Christina Schildmann: Wir sagen, er befördert die Transformation, weil er Unternehmen in der Umstellungsphase stützt und Subventionen – werden sie richtig eingesetzt – die Kalkulationssicherheit erhöhen.
Tom Krebs: Klimaneutrales Produzieren heißt eben, strombasiert zu produzieren. Plus Wasserstoff. Das wird in Deutschland aber nur stattfinden, wenn die Betriebskosten, also der Strom, einigermaßen kalkulierbar sind und nicht zu hoch. Das ist gut fürs Klima, weil die Produktion sonst woanders stattfindet. Dabei weiß eigentlich jeder, dass die Standards hier höher sind als im nicht-europäischen Ausland. Die Klimabewegung hat das nicht verinnerlicht. Diese Leute sagen: Wenn der Strom teurer ist, dann spart man mehr. Doch dieser Effekt ist klein im Vergleich zu einer Investitionsentscheidung, für die ich eigentlich günstigen Strom brauche.
Christina Schildmann: Das sehe ich nicht ganz so. Die Umweltverbände und Klimainitiativen haben sich zum Teil schon bewegt und sind Bündnisse eingegangen, zum Beispiel mit der IGBCE und der IG Metall, wo sie sich zum Industriestandort Deutschland bekennen.
Tom Krebs: Ich kenne dort niemanden, der klipp und klar sagt, dass wir einen Industriestrompreis brauchen. Wenn es darauf ankommt, sind sie nicht dabei, obwohl Think Tanks wie Agora Energiewende in der Vergangenheit dafür waren, die EEG-Umlage abzuschaffen.
Vielleicht, weil hier letztlich Lobby-Interessen nachgegeben wird?
Tom Krebs: Vor der Krise hat auch niemand gesagt, wir müssen unbedingt die Strompreise erhöhen. Was hat sich seitdem denn geändert an der Wirtschaftstheorie? Das ist merkwürdig, dass die Diskussion sich plötzlich so dreht. Es geht nicht nur darum, die Wertschöpfung hier im Land zu halten. Unter dem Strich ist es schlecht fürs Klima, wenn diese stromintensive Industrie abwandert. Diese Gefahr ist längst nicht gebannt.
Tom Krebs: Ökonomische Analyse einer Verlängerung und Modifizierung der Strompreisbremse, Working Paper der Forschungsförderung der Hans-Böckler-Stiftung, Nummer 305, September 2023