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Magazin MitbestimmungWahlprogramme: Positionen zur Europawahl
Wir haben den Spitzenkandidaten von fünf Parteien drei Fragen zur Zukunft der EU gestellt. Hier sind ihre Antworten. Von Susanne Kailitz
Die Lebensbedingungen in der Union sind noch sehr unterschiedlich. Welche Vorschläge haben Sie, um die soziale Dimension der EU zu stärken?
Katarina Barley, SPD: „Die Menschen müssen spüren, dass Europa für sie da ist – und nicht nur für Banken, Konzerne und Großunternehmen. Wenn sie Europa als Chance für sich und ihre Arbeits- und Lebensbedingungen begreifen, wenn wir ihnen die Ängste vor Sozialdumping und Arbeitsplatzverlust nehmen, dann wird auch die europäische Einigung langfristig erfolgreich sein. Deshalb wollen wir die Rechte von Arbeitnehmern stärken. Dazu gehören gerechte Löhne: Gleiches Geld für gleiche Arbeit am gleichen Ort! Und natürlich die gleiche Bezahlung für Männer und Frauen. Wir wollen einen Rechtsrahmen für einen europäischen Mindestlohn. Niemand, der Vollzeit arbeitet, darf unter der Armutsschwelle von 60 Prozent des mittleren Einkommens verdienen.“
Manfred Weber, CDU/CSU: „Die Soziale Marktwirtschaft ist als Ordnungsprinzip in den Verträgen verankert. Sie ist eine europäische Idee, die ich weiterverfolgen will als Leitprinzip für die EU, aber auch für unser globales Engagement. Dem muss im politischen Alltag eine größere Bedeutung eingeräumt werden. Denn heute gilt die EU als eine Union der Wirtschaft, der Banken, der Rettungsschirme. Dabei ist eines der Ziele der Union – und auch mein ganz persönliches Ziel – dass das Modell der sozialen Marktwirtschaft europaweit greift. In den letzten Jahren hat die EU mit der Europäischen Säule sozialer Rechte dabei große Fortschritte gemacht. Den eingeschlagenen Weg werde ich als Kommissionspräsident weitergehen. Dabei ist mir die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit ein Herzensanliegen. Dafür haben wir in dieser Haushaltsperiode über 86 Milliarden Euro für den Europäischen Sozialfonds zur Verfügung gestellt. Ich möchte ein besonderes Augenmerk auf die Regionen Europas legen, zum Beispiel den Süden, wo die Situation nach wie vor sehr angespannt ist. Es darf keine verlorene Generation geben.“
Sven Giegold, Die Grünen: „Wir brauchen ein solidarisch finanziertes Investitionsprogramm in europäische öffentliche Güter. Dazu wollen wir die Einnahmen aus einem europäischen Kampf gegen Steuerdumping und einen Teil der Einnahmen aus einer europäischen Unternehmenssteuer in ein Eurozonen-Budget stecken, das investiert und stabilisiert. Dies soll zumindest 1% des Bruttoinlandproduktes der Eurozone umfassen. Investitionen in gemeinsame digitale Netze, ein gemeinsames Strom- und Gasnetz, eine tatsächlich europäische Eisenbahn und „Erasmus für alle“ kann dazu beitragen, dass sich die Lebensverhältnisse in Europa schneller angleichen. Zudem wollen wir überall verbindliche Mindestniveaus für soziale Sicherung und Mindestlöhne. Ein Einheitssozialsystem wollen wir nicht, sondern Mindeststandards, die mit der Höhe der Wirtschaftsleistung pro Kopf steigen. Die Arbeitslosenversicherung muss durch eine echte Rückversicherung (ohne spätere Rückzahlung) abgesichert werden, um unterschiedliche konjunkturelle Entwicklungen besser abzufedern.“
Martin Schirdewan, Die Linke: „Wir müssen die Politik der Austerität beenden, die aus Deutschland in die EU exportiert worden ist. Wir wollen ein solidarisches, sozialistisches Europa. Die ärmeren Länder müssen beim Aufbau und Ausbau von Systemen der sozialen Mindestsicherung unterstützt werden. Die EU muss dazu erhebliche Mittel in den Strukturfonds zur Verfügung stellen. Wir wollen eine solidarische europäische Erwerbslosenversicherung und europäische Sozialversicherungsnummern. Wir unterstützen den Kampf der von Armut, Obdachlosigkeit und sozialer Ausgrenzung Betroffenen für die Durchsetzung ihrer Rechte. Wir unterstützen die Initiative des Europäischen Netzwerkes gegen Armut (EAPN) zur EU-weiten Einführung von armutsverhindernden Mindesteinkommen. Die EU-Staaten müssen mit einer Mindestrente garantieren, dass alle Menschen sicher vor Armut geschützt sind.“
Nicola Beer, FDP: „Wir wollen gleichberechtigte Chancen auf Arbeit und Wohlstand für alle Bürger der EU. Arbeits- und Sozialpolitik ist und bleibt jedoch Aufgabe der Mitgliedstaaten. Sozialpolitik muss so nah wie möglich an den Menschen gemacht werden. Das Ziel, die Lebensverhältnisse in der EU anzugleichen, kann letztlich nur durch die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit in den verschiedenen europäischen Regionen erreicht werden. Dazu braucht es eine Stärkung des Binnenmarktes, solide Staatsfinanzen und kluge Investitionen in Bildung und Infrastruktur. Das schafft Wachstum und damit mehr gute Arbeits- und Ausbildungsplätze, die jedem Menschen die Möglichkeit auf sozialen Aufstieg aus eigener Kraft sichern. Wir unterstützen nachdrücklich den zentralen Teil des Investitionsplanes für Europa, mit dem die EU verbesserte, zielgenauere Verwendung von EU-Haushaltsmitteln anstrebt.“
Soziales Europa: Worum geht es?
Die EU-Kommission will mit ihrem Vorschlag für eine Säule der sozialen Rechte die EU in sozialen Fragen auf Kurs bringen. Den Gewerkschaften geht es dabei um klare Schutz- und Gestaltungsrechte. Menschen, die ihren Lebensunterhalt mit Arbeit und Leistung bestreiten, haben sich auskömmliche Einkommen, soziale Rechte, Sicherungen, Bildung und Chancengleichheit verdient. Sie wollen das Recht haben, sich demokratisch einzumischen – an ihrem Wohnort, an ihrem Arbeitsplatz, in ihrem Land, in Europa, in Wirtschaft und Unternehmen.
Europäisches Recht bricht nationales Recht. Wie wollen Sie die deutsche Unternehmensmitbestimmung gegen Gefahren durch Unionsrecht schützen?
Katarina Barley, SPD:„Wir dürfen es nicht zulassen, dass über europäisches Gesellschaftsrecht die Mitbestimmung ausgehebelt wird. Kein Unternehmen sollte europäisches Gesellschaftsrecht anwenden, ohne die zwingende Mitbestimmung seiner Beschäftigten nachzuweisen. Auf der europäischen Ebene müssen Schlupflöcher, wie sie etwa bei der Gründung einer Europäischen Aktiengesellschaft (SE) zur Vermeidung von Mitbestimmung genutzt werden können, geschlossen werden. Neue Möglichkeiten der Umgehung der deutschen Mitbestimmung dürfen nicht zugelassen werden. Arbeitgeber sollen mitbestimmungspflichtige Maßnahmen so lange nicht durchführen dürfen, bis die vorgeschriebene Beteiligung der Interessenvertretung erfolgt ist. Und wir müssen für mehr Beratungs- und Informationsangebote für alle sorgen, die in Europa von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machen.“
Manfred Weber, CDU/CSU:„Mit dem Company Law Package (Gesellschaftsrechtspaket) haben wir im letzten Jahr die deutsche Mitbestimmung gut vor Angriffen geschützt. Niederlassungsfreiheit von Unternehmen darf nicht dazu missbraucht werden, nationale Mitbestimmung auszuhebeln. Auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs hat in dieser Richtung wichtige Urteile zur Stärkung der deutschen Mitbestimmung gefällt. Als Kommissionspräsident garantiere ich, dass die nationalen Mitbestimmungstraditionen nicht durch EU-Recht geschwächt, sondern geschützt werden. Unseren Wohlstand verdanken wir gerade auch unserem Mitbestimmungsmodell in Deutschland. Also: Keine Experimente damit!“
Sven Giegold, Die Grünen: „Die Freizügigkeit in Europa darf nicht dazu führen, dass Unternehmen dort ihren Firmensitz einrichten, wo die niedrigsten Standards in der Mitbestimmung von Arbeitnehmern gelten. Deshalb wollen wir die europäischen Betriebsräte und ihre Mitbestimmungsrechte stärken und beispielsweise eine Parität von Arbeitnehmern und Arbeitgebern an Entscheidungen in allen Unternehmen mit mehr als 1000 Beschäftigten über die Grenzen der Mitgliedstaaten hinweg nach dem Vorbild Sloweniens durchsetzen. In der Gesetzgebung haben wir uns für harte EU-Regeln gegen Scheinverlagerungen von Unternehmenssitzen gekämpft.“
Martin Schirdewan, Die Linke: „In fast der Hälfte der EU-Staaten gibt es keine Mitbestimmung. Deshalb haben wir eine Initiative für mehr Mitbestimmung in den Unternehmen gestartet. Wir wollen, dass unionsweite Mindeststandards zur Beteiligung der Beschäftigten festgelegt werden. Schlupflöcher müssen geschlossen werden: Unternehmen dürfen sich nicht aus der deutschen Mitbestimmung schleichen, indem sie den Unternehmenssitz in ein mitbestimmungsfreies Land verlegen oder eine Europäische Aktiengesellschaft gründen. Wir wollen Eurobetriebsräte stärken. Beschäftigte müssen das Recht haben, Vetreter zu wählen, die im Aufsichtsrat sitzen. Wir schlagen eine europäische Arbeiterkammer vor, die die sozialen, wirtschaftlichen und beruflichen Belange der Arbeitnehmer vertritt. Unternehmen, die Profite machen, dürfen keine Massenentlassungen organisieren. Bei Standortverlagerungen fordern wir ein Vetorecht für die Gewerkschaften.“
Nicola Beer, FDP: „Die Tarifautonomie und die Koalitionsfreiheit ist für uns ein hohes Gut. Wir wollen daher die Rechte der Sozialpartner wahren und sicherstellen, dass europäische Tarifverträge die nationalen nicht verdrängen, wenn ein nationaler Verband nicht zugestimmt hat.“
Mitbestimmung: Worum geht es?
Der Europäische Gewerkschaftsbund fordert eine EU-Richtlinie zu Mindestbedingungen für Unterrichtung, Anhörung und Mitbestimmung in grenzüberschreitend tätigen Unternehmen in der EU. Denn nationale Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats und im Aufsichtsrat enden an den Grenzen. Die SE und andere EU-Regelungen machen es Unternehmen leicht, ihre Zentralen über die Grenzen zu verlegen. Arbeitnehmer brauchen den EU-weiten gesetzlichen Schutz gegen Einfrieren oder Umgehen von Mitbestimmung. Die Rechte der Europäischen Betriebsräte müssen gestärkt werden.
In einigen Ländern der Union – so in Ungarn – werden Gewerkschafts- und Arbeitnehmerrechte massiv missachtet. Was tun Sie, um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten?
Katarina Barley, SPD:„Offensichtlich gehört der Druck auf die Löhne, die Arbeitszeiten und die Arbeitsbedingungen zum Geschäftsmodell der Regierung von Viktor Orbán. Gut ist, dass die Beschäftigten und ihre Gewerkschaften nun zunehmend dagegen protestieren. Gut ist auch die Zusammenarbeit und die Solidarität der deutschen mit den ungarischen Gewerkschaften. Für die Politik in Europa muss maßgeblich sein: Wir brauchen verbindliche Mindeststandards und klare Regeln bei den Löhnen sowie beim Arbeitsschutz in allen EU-Mitgliedstaaten. Und die müssen dann auch durchgesetzt werden. Wir brauchen zudem eine europaweite Stärkung der Tarifbindung. Wichtig ist: Die wirtschaftlichen Grundfreiheiten dürfen künftig nicht mehr vorrangig gegenüber den sozialen Grundrechten sein.“
Manfred Weber, CDU/CSU: „Eine Marktwirtschaft ist nur sozial, wenn Tarifautonomie gewährleistet ist. Und Tarifautonomie, Verhandlungen also zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern auf Augenhöhe, geht nur mit freien Gewerkschaften, die nicht in ihren Rechten beschnitten werden. Gewerkschaften in ihrer Arbeit zu behindern und in ihren Rechten zu beschneiden ist genauso ein Verstoß gegen das EU-Recht, wie das faktische Schließen von Universitäten oder die Einschränkung des Rechtsstaatsprinzips. Die EVP und ich haben dort sehr deutlich Position bezogen und werden dies auch in Zukunft tun.“
Sven Giegold, Die Grünen: „Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsrechte sind Grundrechte. Wie auch bei Einschränkungen der Meinungsfreiheit, der Gewaltenteilung oder der Rechte von Universitäten muss gelten: Wenn Regierungen in Mitgliedstaaten Grundrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit untergraben, muss dies Konsequenzen haben. Die EU untersucht die Wettbewerbsfähigkeit von Staaten jährlich und macht wirtschaftspolitische Empfehlungen. Wir brauchen eine jährliche Prüfung der Mitgliedsstaaten bei Grundrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Dieser Bericht muss von einer unabhängigen Kommission von Verfassungsexperten erarbeitet werden. Wer die Empfehlung systematisch ignoriert, muss finanzielle Konsequenzen spüren: Die Kontrolle über die EU-Gelder soll von den betroffenen Regierungen auf die europäischen Institutionen übergehen. Wir wollen jedoch nicht die Zivilgesellschaft, Kommunen und Unternehmen durch Entzug von EU-Fördergeldern bestrafen. Schon die Diskussion über den Entzug von Geldern hat in Polen vor zwei Jahren in demokratische, proeuropäische Zivilgesellschaft geschwächt. Deshalb wollen wir kein Geld wegnehmen, sondern den Regierungen die Kontrolle darüber entziehen.“
Martin Schirdewan, Die Linke: „In Österreich wurde von der konservativ-rechten Regierung der Zwölf-Stunden-Tag eingeführt. Auch in Deutschland – und in ganz Europa – arbeiten viele Menschen immer länger, um über die Runden zu kommen. Dem setzen wir entgegen: Gute Arbeit muss für alle Beschäftigten normal werden. Es ist ein Erfolg der Gewerkschaften und der linken Parteien, dass die Entsenderichtlinie ausgeweitet wurde. Jetzt müssen die letzten Ausnahmen fallen. Wir wollen die Mitgliedstaaten verpflichten, flächendeckende Tarifverträge statt Tarifflucht zu fördern. Wir fordern, dass Tariftreue keine Kannbestimmung bleibt, sondern die Einhaltung von Tarifverträgen in den EU-Vergabe- und -Konzessionsrichtlinien verbindlich festgelegt wird. Wir wollen die Voraussetzungen für grenzüberschreitende Solidarität und Kooperation der Belegschaften und Gewerkschaften verbessern.“
Nicola Beer, FDP: „Die Entwicklungen in Ungarn erfüllen uns mit großer Sorge. Seit Dezember letzten Jahres protestieren viele Bürger – nicht nur gegen das umstrittene Arbeitszeitgesetz, sondern auch gegen die Einschränkungen bei Presse und Justiz. Für uns ist klar: Toleranz, Pressefreiheit und eine unabhängige Justiz sind Voraussetzungen für Demokratie. Die EU muss wirksamer und schneller eingreifen können, wenn aufgrund eines rechtsstaatlichen Verfahrens die Verletzung dieser Grundwerte festgestellt wird. Deswegen wollen wir den Rechtsstaatsmechanismus weiter stärken. Wir schlagen vor, dass die Grundrechteagentur ein Mandat zur Bewertung der Menschenrechtslage in den Mitgliedstaaten der EU erhält. Dies soll nach dem Vorbild des UN Universal Periodic Review in regelmäßigen Abständen für jeden Mitgliedstaat erfolgen. Somit ist dem Vorwurf des politischen Missbrauchs der Boden entzogen.“
Autoritäre Regime: Worum geht es?
Unterrichtung und Anhörung sowie Tarifautonomie und Koalitionsfreiheit sind in Europa Grundrechte. Die EU-Grundrechte-Charta ist Bestandteil der Europäischen Verträge. Das ist Konsens und eine große gemeinsame Errungenschaft Europas. Regierungen sind darauf verpflichtet und können und müssen zur Verantwortung gezogen werden, wenn Gewerkschafts- oder Arbeitnehmerrechte wo auch immer in den EU-Mitgliedstaaten infrage gestellt werden. Sonst wird das Fundament Europas zerstört.