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Magazin Mitbestimmung

Rätselhaftes Fundstück: Pastor recherchiert undercover

Ausgabe 11/2012

1891 erforschte der evangelische Theologe und Ökonom Paul Göhre die Arbeitsbedingungen in einer Fabrik. Die Kirche ist von seiner Studie nicht sonderlich begeistert. Wenig später geht Göhre in die Politik.

Ein Undercover-Agent ist 1891 in der Chemnitzer Maschinenfabrik Kappel unterwegs: der junge Theologe und Ökonom Paul Göhre. Drei Monate lang arbeitet er unerkannt mit, um zu erfahren, wie die Arbeiter leben und denken. Die Eigentümer sind informiert und lassen ihn gewähren. Göhre beschreibt, wie die arbeitsteilige Produktion die Arbeiter in einer „schülerhaften Abhängigkeit“ hält, er sieht, wie sie von Angehörigen mit Essen versorgt werden. Die Löhne, schreibt Göhre, seien gerade so hoch, dass eine Familie „ohne schwere Nahrungssorgen“ leben könne. Dennoch denke fast keiner der Arbeiter an eine Revolution. Stattdessen wird der tiefgläubige Göhre Zeuge des raschen Aufstiegs der Sozialdemokratie. Halb erschrocken, halb fasziniert schreibt er nieder, was ihm ein Arbeiter sagt: „Was heute Jesus ist, werden bald Bebel und Liebknecht sein.“

Zwar attestiert Göhre der SPD, dass „bei allem sittlich Bedenklichen und geistig Unreifen (…) doch auch so viel gesunde Kraft und frisches Blut in ihr pulsiert, dass bei richtiger Behandlung und Beeinflussung auch sie noch zu einem bedeutenden gottgewollten und gottgesegneten Faktor in der fortschreitenden Kulturentwicklung der Menschheit erzogen werden kann“. Doch ihre „widerchristliche“ materialistische Weltanschauung hält er für eine Gefahr. Wäre nicht die Heiligung der SPD Sache der Kirche? Als Göhre seine Erlebnisse und Schlussfolgerungen 1891 in dem Buch „Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche. Eine praktische Studie“ publiziert, gerät er zwischen alle Stühle. Die Sozialdemokraten brauchen keine Missionare – und auch die Kirche ist nicht begeistert. Sie empfindet das Buch als Angriff auf ihr bürgerliches Selbstverständnis. Zuspruch erfährt er von Persönlichkeiten wie Max Weber oder Friedrich Naumann. Als er 1894 in Frankfurt (Oder) eine Pfarrei übernimmt und sich sozial engagiert, wird er von der Kirchenleitung beurlaubt. Er spürt, dass er sich bald zwischen Christentum und Sozialismus entscheiden muss. Im Jahr 1900 tritt er in die SPD ein und bricht 1906 endgültig mit der Kirche.

Text: Kay Meiners

Rätselfragen

Eine Frauenrechtlerin wagte ein ähnliches Experiment und schrieb darüber  „3 ½ Monate Fabrikarbeiterin. Eine praktische Studie“. Wie hieß sie?

Im Jahr 1894 gründete Göhre mit Friedrich Naumann eine Partei. Unter welchem Namen?

Von 1910 bis 1918 vertrat Göhre einen Wahlkreis im Berliner Reichstag. Welchen?

Alle richtigen Einsendungen, die bis zum 27. November bei uns eingehen, nehmen an einer Auslosung teil.

Preise

1. Preis: Gutschein der Büchergilde Gutenberg, Wert 50 Euro, 2.–4. Preis: Gutschein der Büchergilde Gutenberg, Wert 30 Euro

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Auflösung der Rätselfragen 10/2012

Annemarie Renger – 7 mm – Eiserne Front

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