Quelle: HBS
Magazin MitbestimmungEssay: Organisieren oder marginalisieren?
Gewerkschaften solidarisieren sich mit den Schwächsten – und fürchten sie zugleich als Einfallstor für die Absenkung von Standards. Von einem offensiveren Umgang mit diesem Dilemma könnten beide Seiten profitieren. Von Ludger Pries
Gewerkschaften und Migration, das war schon immer ein äußerst spannungsreiches und problematisches Verhältnis. Überall auf der Welt, aber speziell in Deutschland tun sich Gewerkschaften mit Wanderungsbewegungen schwer. Ganz allgemein stecken sie in gleich mehreren Zwickmühlen: Wie sollen sie eigentlich zu Arbeitsmigration generell stehen? Sollen sie sich um die Organisierung von Zuwandernden bemühen? Sollen sie spezifische Politiken für diese Gruppen entwickeln?
Zuwanderung von Arbeitskräften wird häufig vonseiten der Arbeitgeber stark gefördert und gefordert, nicht zuletzt, um auf ein breites Arbeitskräfteangebot und auch eine entsprechende Konkurrenz zurückgreifen zu können. Gewerkschaften befürchten dabei, dass Einwanderung die Konkurrenz zwischen den Beschäftigten anheizt, tendenziell Löhne drückt und auch bei den Arbeitsbedingungen eher zu einer Verschlechterung führen könnte. Da Migrantinnen und Migranten meistens aus arbeitsrechtlichen Kontexten mit schwächeren Arbeitnehmerrechten kommen, wird von Gewerkschaften oft angenommen, dass durch Einwanderungsprozesse eine Abwärtsspirale der erreichten Arbeits-, Beschäftigungs- und Partizipationsbedingungen ausgelöst werden könnte.
Gleichzeitig sehen sich Gewerkschaften der internationalen Solidarität verpflichtet. Sie erkennen den volkswirtschaftlichen Gewinn, der in der Zuwanderung von Arbeitskräften liegen kann. Ankunftsländer sind in der Regel volkswirtschaftliche Gewinner von Arbeitnehmerzuwanderung. Gewerkschaften setzen sich auch nicht selten für Einwanderung ein, weil die Zugewanderten Arbeitsplätze übernehmen, die die einheimischen Beschäftigten eher meiden. Der berühmte türkeistämmige Müllfahrer in den 1980er Jahren ist ein Beispiel hierfür. Einwanderung – vor allem von weniger qualifizierten Arbeitskräften – führt also zu einem „Fahrstuhleffekt“ dergestalt, dass alle Arbeitskräfte in der sozialen Rangskala nach oben geschoben werden und eine Unterschichtung durch die Zugewanderten stattfindet.
Diese widersprüchliche Haltung der Gewerkschaften zur Arbeitsmigration als Zuwanderung findet sich in vielen Ländern. Dabei gibt es vielfältige Unterschiede, je nachdem welcher Migrationstypus betrachtet wird. Dauerhafte Einwanderung mit allen bürgerschaftlichen Rechten ermöglicht den Gewerkschaften, die Zuwandernden in bestehende Arbeitskulturen zu integrieren. Schwieriger stellt sich die Situation bei der zirkulären Migration dar, bei der Beschäftigte nur für begrenzte Zeiten kommen – von der saisonalen Arbeit bis zur Zuwanderung für einige Jahre entsprechend der konjunkturellen Anforderungen. Eine dritte Gruppe sind Flüchtlinge und Asylsuchende, die in den verschiedenen Ländern je nach Krisensituation eine große Herausforderung darstellen. Sie können, wenn ihre Asylgesuche abgelehnt werden, zu irregulären Migranten werden – eine vierte Gruppe von Zuwanderern. Selbstverständlich erklären Gewerkschaften ihre Solidarität mit den Schwächsten und prekär Beschäftigten und sehen doch gleichzeitig, dass Menschen, die sich irregulär im Land aufhalten, fast immer ein Einfallstor für die Absenkung oder die Aufhebung bestehender Arbeitsstandards sind.
Gewerkschaften stehen in einem durchaus zwiespältigen Verhältnis auch zu der Frage, ob sie Migrierende gezielt, etwa mittels spezieller Organizing-Aktivitäten, ansprechen oder ob sie diese Adressatengruppe eher marginal behandeln sollten. So kann argumentiert werden, dass die gewerkschaftliche Integration von wenig qualifizierten, aus ländlichen Sozialzusammenhängen kommenden und vielleicht nur vorübergehend in einem Ankunftsland beschäftigten Migrierenden viele Organisationsressourcen benötigt. Auch könnten „ethnische Communitys“ sowie die spezifischen Selbstorganisationen von Migranten die traditionelle Einheit der Gewerkschaften gefährden. Im Falle der temporär beschäftigten, zirkulär Migrierenden könnten Gewerkschaften deren – aufwendig zu betreibende – Organisierung für eine „Fehlinvestition“ halten, da mit dauerhaftem Ressourcenzufluss in Form etwa von Mitgliedsbeiträgen und Aktivitäten nicht zu rechnen ist.
Es gibt andererseits auch Gründe für besondere Organisierungsanstrengungen. Das Gebot der internationalen Solidarität und die eigene Glaubwürdigkeit nach innen und nach außen erfordern, dass Gewerkschaften sich um Arbeitsmigranten als die in der Regel Schwächeren im Beschäftigungssystem in besonderer Weise kümmern – die DGB-Initiativen „Faire Mobilität“ und „MigrAr“ sind Beispiele dafür. Migrierende bedeuten auch eine potenzielle Stärkung der eigenen Organisationsbasis. Denn nicht selten handelt es sich um durchaus aktionsbereite Gruppen. Und natürlich ist jedes Gewerkschaftsmitglied auch ein zahlendes Mitglied. Schließlich könnte man von Migrierenden auch für die eigene Organisation extrem viel lernen und profitieren – wenn denn eine entsprechende Politik verfolgt würde.
Ein drittes großes Problem besteht für Gewerkschaften darin, ob sie für Migrierende eine spezielle Agenda entwickeln sollten. Gegen eine solche migrantenspezifische Politik könnte eingewendet werden, dass Gewerkschaften gemeinsame, nicht Sonderinteressen in den Mittelpunkt ihrer Aktivitäten stellen sollten. Die Sonderbehandlung spezifischer Gruppen schwächt unter Umständen die Gruppensolidarität aller. Eine Sonderpolitik für Migrierende könnte auch deren dauerhafte und gleichberechtigte Integration gefährden und ihre Randständigkeit geradezu zementieren. Ähnliche Argumente wie bei den Gruppen der Schwerbehinderten, der Jungen, der Alten, der Frauen, der Männer, der Hochqualifizierten, der weniger Qualifizierten usw. können ins Feld geführt werden.
Für eine spezifische Politik gegenüber migrantischen Mitgliedern und Adressatengruppen könnte eingebracht werden, dass ungleiche Chancenverteilungen immer auch ungleiche Aktivitätenverteilung der entsprechenden Interessenorganisationen erfordern. Das allgemeine Gebot der Solidarität fordert Hilfe und sogar Umverteilung von den Starken zu den Schwachen. Entsprechend müssten für Arbeitsmigranten besondere Anstrengungen und Politiken entwickelt werden. Schließlich kann argumentiert werden, dass innerhalb der Gewerkschaften allen möglichen Sonderinteressen die Möglichkeit gegeben werden müsste, sich zu formieren und zu artikulieren.
All diese hier nur skizzierten Dilemmata sind nicht neu, sie müssen aber in jeder historischen Situation jeweils neu diskutiert werden. Dies gilt nicht nur für Deutschland, sondern überall auf der Welt. Aber in Deutschland sind diese Fragen von Migration und Migrierenden vor dem besonderen Hintergrund von Zwangsarbeit und Gastarbeit zu erörtern. Während der nationalsozialistischen Diktatur waren Gewerkschaften in Deutschland verboten. Gleichwohl bestanden Arbeitszusammenhänge, Arbeitskulturen, Arbeitsbeziehungen und Arbeitsregulierungen. Entscheidend war hier das System von Zwangsarbeit, welches zwischen 1939 und 1945 insgesamt zwischen 13 und 20 Millionen Menschen in Deutschland und den besetzten Gebieten betraf. Etwa ein Drittel der Wirtschaft in Nazi-Deutschland wurde durch Zwangsarbeit aufrechterhalten. Die tief greifenden Prägungen und Verwerfungen, die durch dieses Zwangsarbeitersystem in den Arbeitsbeziehungen und der Arbeitskultur entstanden sind, sind in ihrer Bedeutung auch für die dann folgende Nachkriegsperiode bisher kaum angemessen aufgearbeitet worden. Die allgemeine NS-Ideologie der kulturell-ethnisch-biologisch homogenen „Volksgemeinschaft“ war nach 1945 nicht plötzlich ausradiert. Dabei war und ist Deutschland seit Jahrhunderten eine Drehscheibe für Migrationsbewegungen. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren über 40 Millionen Menschen – bei einer Gesamtbevölkerung in West- und Ostdeutschland von rund 69 Millionen im Jahre 1950 – als Migrierende unterwegs (etwa 12,5 Millionen Flüchtlinge, 11 Millionen „displaced persons“, größtenteils ehemalige Zwangsarbeiter, 10 Millionen interne Migrierende aus bombardierten Städten oder „Landverschickte“, 9 Millionen aus alliierten Lagern entlassene deutsche Kriegsgefangene).
Die NS-Ideologie des „Reinerhaltens der arischen Rasse“ und der rechtlichen und Statusungleichheit zwischen Deutschen und Ausländern wirkte in Mentalität und Kultur der Arbeitsgesellschaft offensichtlich auch im Nachkriegsdeutschland fort. Anders lässt sich die mehr oder weniger unproblematische Durchsetzung der „Gastarbeiter“-Programmatik kaum erklären: Menschen „zweiter Klasse“ wurden anfänglich in ein Rotationsmodell und in Wohncontainer gezwängt. Sie hatten das Recht, zu arbeiten, aber viele Bürgerrechte wurden ihnen lange verwehrt. Obwohl im Rahmen der „Gastarbeit“ nach dem Zweiten Weltkrieg etwa 30 Millionen Menschen zu- und abgewandert sind, hielt sich die Lebenslüge „Deutschland ist kein Einwanderungsland“ bis zur Verabschiedung des neuen Staatsangehörigkeitsgesetzes durch Rot-Grün 1999. Der gesellschaftliche Skandal, dass sich unser Land bis zur Jahrtausendwende kontrafaktisch als Nichteinwanderungsland bezeichnete, ist noch kaum wissenschaftlich analysiert, geschweige denn politisch aufgearbeitet. Obwohl Deutschland niemals ein monokulturelles Land war und gerade in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch Migration in vielerlei Hinsicht immer bunter wurde, erklärt die Bundeskanzlerin noch im Jahre 2010: „Der Ansatz für Multikulti ist gescheitert, absolut gescheitert!“ Doch multikulturelles Zusammenleben ist kein „Ansatz“, es ist eine gesellschaftliche Tatsache. Seit dem Beginn der 1990er leben regelmäßig etwa sieben Millionen Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit in Deutschland. Knapp ein Fünftel aller in Deutschland Lebenden hat selbst oder vermittelt über zumindest ein Elternteil grenzüberschreitende Migrationserfahrungen gemacht. Kann man, wenn von Migration und Migrierenden gesprochen wird, die geradezu bizarre Dramatik der Wirklichkeitsverleugnung während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausblenden? Hier liegen auch Aufgaben der kritischen Vergangenheitsbewältigung für die Gewerkschaften.
Bilanziert man die gewerkschaftliche Politik der letzten 50 Jahre im Hinblick auf Migration, so drängt sich nicht der Eindruck auf, dass dieses Thema eine besondere Priorität genossen hätte oder dass die Gewerkschaften die historische Verantwortung kritisch aufgearbeitet hätten – was im Übrigen für die meisten Interessenverbände in Deutschland gilt. Aber auch die Gewerkschaften haben – jenseits aller verdienstvollen Aktivitäten und allen Engagements – die strategischen Chancen von Einwanderung und Einwanderern nicht in breiterem Ausmaß erkannt und erschlossen. Gewerkschaften als Mitglieder- und als Einflussverbände müssten daran interessiert sein, für die spezifischen Interessen und Problemlagen von immerhin einem Fünftel aller in Deutschland lebenden Menschen, denen eine Migrationsgeschichte zugeschrieben wird, angemessene Perspektiven und Programmatiken zu entwickeln. Alleine schon angesichts der heutigen Altersstruktur der Wohnbevölkerung wird der Anteil von Menschen mit Migrationsgeschichte an der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung weiter anwachsen. Dies wird noch verstärkt durch weitere Zuwanderungen, die für die nächsten Jahrzehnte ein notwendiges – wie alle politischen Parteien und gesellschaftlichen Kräfte übereinstimmend betonen – Element der Bearbeitung der demografischen Herausforderungen sein werden. Es macht deshalb sehr viel Sinn, dem Thema Migration und Migrierende mehr Aufmerksamkeit zu schenken.
Migration ist aber nicht nur rein quantitativ eine Chance. In einer zunehmend globalisierten Arbeitswelt sind Kolleginnen und Kollegen mit anderen Kulturkenntnissen und Sprachfähigkeiten von unschätzbarem Wert für die Unternehmen selbst, aber auch für Verbände wie die Gewerkschaften. Die in den Gewerkschaften organisierten Menschen mit Migrationsgeschichte sind eine ungeheure Ressource, um Verbindungen in andere Länder und Arbeitskulturen zu entwickeln. Zudem werden die Arbeitsmigranten der Zukunft kaum dem Gastarbeiterbild der 1970er und 1980er Jahre entsprechen. Es wird zukünftig in größerem Ausmaß um Migration von qualifizierten und hoch qualifizierten Menschen gehen. Diese haben spezifische Probleme wie etwa die Anerkennung ihrer Abschlüsse, die Organisation von Sprachkursen oder den Zuzug ihrer Familienangehörigen. Diese neue Arbeitsmigration wird zukünftig ergänzt durch die wachsende Bedeutung grenzüberschreitender Mobilität innerhalb von großen Unternehmen und Organisationen.
In der globalen Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts verschmelzen die Themen Migration und Mobilität immer stärker. Dies betrifft schon heute Hunderttausende von Expatriates und anderen Fach- und Führungskräften, die im Zusammenhang großer, aber auch kleiner international agierender Unternehmen unterwegs sind. Die Gruppe der in der einen oder anderen Weise grenzüberschreitend mobilen Beschäftigten wird stark zunehmen. Politikfelder der klassischen Arbeitsmigration und der neuen Mobilität innerhalb der großen Unternehmen werden zunehmend zusammenwachsen. Hier liegen völlig neue Betätigungsfelder für Gewerkschaften. Die über eineinhalb Jahrhunderte vor allem national verfasste Kultur von gewerkschaftlicher Repräsentation wird entweder diese neuen Tendenzen aufnehmen und entsprechende Politiken entwickeln oder an historischer Bedeutung verlieren.
Zur Person
Ludger Pries ist Professor für Soziologie an der Ruhr-Universität Bochum mit den Schwerpunkten Organisation, Migration und Mitbestimmung