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Magazin Mitbestimmung

Bahn: Ohne Fahrplan

Ausgabe 09/2014

Die Deutsche Bahn ist in einem Zustand, der einer führenden Industrienation kaum angemessen ist. Dramatisch unterfinanziert, fehlt es hinten und vorne, auch an Fachkräften – Ingenieuren, Signalposten, Instandhaltern. Von Uwe Reitz, Pressesprecher der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG)

Gut 34 000 Kilometer misst das Schienennetz der Deutschen Bahn; es ist das längste in ganz Europa. 69 400 Weichen und Kreuzungen gibt es sowie 24 982 Eisenbahnbrücken – und damit fangen die Schwierigkeiten auch schon an. Denn die Infrastruktur bereitet zunehmend Probleme. Jede dritte Eisenbahnbrücke ist älter als 100 Jahre. Sie stammen aus einer Zeit, die noch vor dem Ersten Weltkrieg liegt. Seitdem rattern tagtäglich viele Tausend Tonnen schwere Züge über diese Brücken, versetzen den Stahl in Schwingungen und sorgen so für Verschleiß. Jeden Tag ein bisschen mehr. 

Im Schnitt hält jede Eisenbahnbrücke gut 100 Jahre. Rund 9000 im Netz der Deutsche Bahn sind so alt oder älter; die Sanierung ist überfällig. Gut 1400 Eisenbahnbrücken im gesamten Bundesgebiet sind bereits so marode, dass eine Reparatur nicht mehr möglich ist. Bald drohen erste Streckensperrungen.

Noch sei die betriebliche Sicherheit gewährleistet, machte die Deutsche Bahn deutlich. Jedes Brückenbauwerk werde mindestens alle drei Jahre überprüft und einmal im Jahr im Rahmen einer Begehung in Augenschein genommen. Kein Anlass zur Sorge also? Gleichwohl sind die Zahlen erschreckend. Allein in Nordrhein-Westfalen sind 263 Eisenbahnbrücken so stark beschädigt, dass sich eine Instandsetzung nicht mehr lohnt. Und bei weiteren 1660 sind die vorhandenen Mängel bereits so umfangreich, dass ernsthaft geprüft werden muss, ob eine Reparatur technisch noch möglich und wirtschaftlich vertretbar ist. So steht es in einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Grünen-Bundestagsfraktion. 

Auch wenn das Unternehmen Deutsche Bahn AG die Zahlen relativiert, indem es darauf verweist, dass hierbei auch Signalbrücken erfasst wurden, die keine Last tragen, ist die Bilanz besorgniserregend. Denn NRW ist kein Einzelfall. In Baden-Württemberg gelten 101 von 3008 Eisenbahnbrücken als abrissreif, in Brandenburg 65 von 801 und in Bremen fünf von 157 Eisenbahnbrücken – um nur ein paar Beispiele zu nennen. Wie ernst die Situation ist, zeigen Äußerungen von Bahnchef Rüdiger Grube. Der vor nicht allzu langer Zeit bereits vor möglichen Streckensperrungen als Folge maroder Infrastruktur gewarnt hat. Langwierige Umleitungen, gewaltige Verspätungen und Regionen, die für lange Zeit vom durchgehenden Zugverkehr abgekoppelt wären, wären zwangsläufig die Folge. Und das alles nur, weil seit Jahren viel zu wenig Geld in die Schienenwege investiert wird.

BAHN IST DRAMATISCH UNTERFINANZIERT

Auf mindestens 30 Milliarden Euro beläuft sich der Investitionsstau allein im Netz der Deutschen Bahn. Geld, das schon längst hätte investiert werden müssen, um die Qualität der Gleis- und Signalanlagen zumindest auf dem nötigen Niveau zu halten. Das macht deutlich: Der Verkehrsträger Eisenbahn ist dramatisch unterfinanziert. Gerade einmal 51 Euro jährlich werden in Deutschland pro Einwohner in die Schiene investiert. In der Schweiz sind es mit 349 Euro jährlich gut siebenmal so viel. Geht es um Infrastruktur, spielt die Bahn in der politischen Diskussion so gut wie keine Rolle. Geld fließt vornehmlich in die Straße. 

Dabei warnen Experten schon jetzt: Wenn sich nicht schon bald Wesentliches ändert, droht das Schienennetz zu kollabieren. Denn die Belastungen werden weiter steigen. Nach Berechnungen des Bundesverkehrsministeriums wird der Schienengüterverkehr in den nächsten Jahren um 45 Prozent zunehmen. Für das Netz ist das ohne Ausbau und Instandhaltung nicht zu verkraften.

Deshalb sind deutlich höhere öffentliche Investitionen in die Schieneninfrastruktur erforderlich. 1,2 Milliarden Euro steckt der Bund jährlich in den Neu- und Ausbau von Gleisanlagen. Um das vorhandene Bestandsnetz in Schuss zu halten und anfallende Reparaturen durchführen zu können, wären eigentlich weitere 4,2 Milliarden pro Jahr nötig. Doch der Bund als Eigentümer hat sich bislang lediglich verpflichtet, 2,5 Milliarden Euro bereitzustellen. Weitere 500 Millionen Euro bringt die DB AG aus Eigenmitteln ein. 

Auf 1,2 Milliarden Euro beziffert denn auch die sogenannte Bodewig-Kommission den jährlichen Fehlbedarf; der ehemalige Verkehrsminister Kurt Bodewig hatte den Auftrag, den tatsächlichen Finanzierungsbedarf im Netz zu ermitteln. Die Lücke zwischen Verschleiß und dringend erforderlicher Sanierung wächst so unaufhörlich. Und das, obwohl die DB AG ihren Anteil an der Finanzierung von Reparaturen im Netz bereits eigenständig erhöht hat.

Dabei ist die Finanzierung der Infrastruktur unzweifelhaft Aufgabe des Staates. Im Grundgesetz, Artikel 87e, ist festgehalten, dass die Infrastruktur zum Wohle der Allgemeinheut ausgebaut und erhalten werden muss. Eine Verpflichtung, die bislang sträflich vernachlässigt wurde. 

EVG WILL GEWINNE REINVESTIEREN

Das muss sich jetzt ändern. Etwa durch erhöhte Baukostenzuschüsse. Ende 2014 läuft die sogenannte Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung (LuFV) zwischen dem Bund und der DB AG aus. Die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft, EVG, fordert, die bisherigen Investitionen von insgesamt drei Milliarden Euro auf 4,2 Milliarden Euro pro Jahr zu erhöhen. 

Zudem sollte sich der Bund verpflichten, die Gewinne, die die DB AG ausschüttet, als Baukostenzuschuss in die Schieneninfrastruktur zurückzuführen. Dabei muss sich die Höhe der jährlichen Dividende am erzielten Ergebnis orientieren und darf nicht willkürlich festgeschrieben werden. 

Dass der Bund schon heute eine Gewinnausschüttung von 750 Millionen Euro für die nächsten Jahre erwartet, ist nach Maßgabe der EVG unrealistisch und gefährlich. Bei sinkenden Ergebnissen könnte eine solch hohe Dividende nur durch erhöhten Rationalisierungsdruck oder eine höhere Verschuldung gewährleistet werden.

Deutlich wird: Das System Schiene kann sich nicht eigenständig finanzieren. Der Bund und die Politik bleiben in der Verantwortung – und müssen endlich für einen fairen Wettbewerb der Verkehrsträger sorgen. Während den Eisenbahnverkehrsunternehmen durch die EEG-Umlage weitere Kosten aufgebürdet werden, senkt der Bund gleichzeitig die Lkw-Maut und forciert so einen ohnehin ungleichen Wettbewerb, in dem oftmals Cent-Beträge über einen Auftrag entscheiden. Die EVG fordert deshalb, dass künftig auch die Umweltkosten – etwa Flächenverbrauch, Unfallkosten, Lärmschutz, Umweltschäden, CO²-Belastung – in die Kostenkalkulation aller Verkehrsträger einbezogen werden. Die Schiene ist nicht zu teuer, der Lkw ist, aufgrund der Ungleichbehandlung, zu billig. Und das muss sich ändern.

Denn das Netz ist gefragt: 390 Kunden zählte die DB Netz AG im Jahr 2013, die neben der Deutschen Bahn die bundeseigenen Gleisanlagen nutzen wollten. 60 000 Trassenanmeldungen gab es. Allein das müsste Verpflichtung sein, das Netz top in Schuss zu halten. Doch mit der augenblicklichen Finanzausstattung können im Jahr nur rund 3000 Kilometer des insgesamt 33 000 Kilometer langen Streckennetzes erneuert werden sowie gut 1800 der insgesamt 69 400 Weichen und Kreuzungen. 

Die Folgen sind täglich spürbar. Das System Schiene ist einer führenden Industrienation kaum mehr angemessen. Nicht nur Brücken und Gleisanlagen sind 100 Jahre alt und älter, aus Kaisers Zeiten stammen auch mehr als 3000 Stellwerke. Um das alles auf Vordermann zu bringen, bedarf es jedoch mehr als zweistelliger Milliardenbeträge. Es bedarf auch Menschen, die alle notwendigen Bauarbeiten planen und durchführen. Doch auch daran mangelt es in erheblichem Umfang.

MANGEL AN FACHKRÄFTEN

Es fehlt an Ingenieuren, die das für die Eisenbahn notwendige Wissen mitbringen, es fehlt an Signalposten, die Baustellen am Gleis absichern, es fehlt an Fachkräften, die Reparaturen durchführen – es fehlt an allem. Gearbeitet wird nach Dringlichkeit und da, wo gerade Geld vorhanden ist. Ein Konzept ist nicht erkennbar. Dass es auch anders geht, macht wieder einmal die Schweiz deutlich. Da macht man sich schon heute Gedanken, wie und wo in 20 Jahren die Eisenbahn fahren soll, und schafft frühzeitig entsprechende Strukturen. 

Auch im Hinblick auf die benötigte Zahl an Mitarbeitern. Denn auch daran fehlt es – in Werkstätten, aber auch in den Büros, im Zugbegleitdienst, bei den Lokführern und in den Stellwerken, um nur einige Beispiele zu nennen. Das gilt für die DB AG ebenso wie für die vielen privaten Eisenbahnverkehrsunternehmen, die sich zwischenzeitlich gegenseitig Personal abjagen.

Zudem wird es immer schwerer, qualifizierte Mitarbeiter zu finden. Versierte ältere Kolleginnen und Kollegen verlassen das Unternehmen, ohne dass sie ihr Fachwissen frühzeitig an Jüngere weitergeben konnten. Die Rente mit 63 wird nach Berechnungen der EVG für einen weiteren „Aderlass“ in Höhe von 3000 Mitarbeitern jährlich sorgen. Höhere Löhne und attraktivere Arbeitszeiten verleiten so manchen Auszubildenden nach der Berufsausbildung zu einem Wechsel in Industrie und Wirtschaft. Fatal für ein Unternehmen, das nach eigenem Bekunden zu den zehn besten in Deutschland gehören will. 

Anspruch und Wirklichkeit klaffen weit auseinander. Das Bemühen ist erkennbar, doch es fehlt an Nachhaltigkeit. Wie viele der jährlich 8000 neuen Mitarbeiter, die die DB AG nunmehr pro Jahr einstellen will, bleiben tatsächlich im Unternehmen? Was ändert sich an Strukturen, um Arbeitsplätze attraktiver zu gestalten? Die EVG hat mit dem Demografietarifvertrag entsprechende Grundlagen gelegt, die nun unternehmensseitig mit Leben erfüllt werden müssen. 

Eisenbahner zu sein ist ein toller Beruf – wenn die Rahmenbedingungen passen. Sowohl bei der Infrastruktur wie auch bei der notwendigen Personalausstattung gibt es weiterhin deutlichen Nachholbedarf und damit reichlich Herausforderungen für die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft. 

WAS BESCHÄFTIGTE SAGEN

„Sonst bricht uns das Netz zusammen“

Der Betrieb ist in den letzten Jahren viel moderner geworden. Es wurde viel in neue Technik investiert, aber es ist kaum Geld für Instandhaltungen da. Der Kostendruck ist enorm gestiegen. Es ist frustrierend, wenn man ein halbes Berufsleben nur plant, aber niemals wirklich etwas baut, weil einfach kein Geld da ist. Wir bräuchten zusätzlich 20 Prozent mehr an Finanzmitteln, allein um das Netz im heutigen Zustand zu erhalten. Derzeit leben wir von der Substanz. Es muss dringend was passieren, sonst bricht uns in den nächsten 15 Jahren an ganz vielen Stellen das Netz zusammen.Wir müssen massiv Geld investieren, sonst verlieren wir viele Strecken wahrscheinlich für immer.

Ingenieur, anonym*, seit 1985 bei DB Netz 

„Wir stoßen an unsere Belastungsgrenze“

Unsere Arbeitsbedingungen haben sich in den vergangenen Jahren radikal verschlechtert. Ältere Mitarbeiter sind in Pension, junge kamen lange Zeit nicht nach. Es grenzt an ein Wunder, dass einzelne Bahnhöfe und ganze Strecken nicht wegen Personalmangel geschlossen werden. Und die Infrastruktur wird immer schlechter. Wir haben mittlerweile in meinem Abschnitt sehr viele Langsamfahrstellen, auch Reservegleise sind stillgelegt worden. Wir bräuchten viel mehr Geld für die Infrastruktur. Und mehr Personal: Arbeitstechnisch stoßen wir an unsere Belastungsgrenze. Wenn Kollegen krank sind, arbeiten wir so sehr am Limit, dass ich mir Sorgen um die Sicherheit mache; ich kann jeden verstehen, der die Frühpensionierung sucht.

Fahrdienstleiter, anonym*, seit 1989 bei der Bahn 

* Quellen: Recherche mit freundlicher Unterstützung von verkehrsjournalist.de. Die Namen der Befragten sind dieser Redaktion bekannt. 

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