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Magazin Mitbestimmung

: Offensive aus der Defensive

Ausgabe 10/2006

Tariferosion und Niedriglöhne - der Umbruch des deutschen Tarifsystems stellt die Gewerkschaften vor neue Herausforderungen. Bei der WSI-Tariftagung 2006 trafen sich Wissenschaftler und gewerkschaftliche Tarifexperten zum Erfahrungsaustausch.


"Die Tarifabschlüsse im ersten Halbjahr 2006 sind deutlich besser als im Vorjahr", stellte der Leiter des WSI-Tarifarchivs in der Hans-Böckler-Stiftung, Reinhard Bispinck, fest. Das bedeute aber keineswegs das Ende des Tunnels. "Es gibt jede Menge Erosionstendenzen im deutschen Tarifsystem." Als Diskussionsgrundlage für die rund 50 Tagungsteilnehmer formulierte Bispinck Thesen über die "tiefgreifende Destabilisierung" des Systems.

Die Tarifbindung habe abgenommen und tariflose Zustände fänden sich inzwischen auch in tariflich traditionell gut erfassten Branchen. Typisch für die Tariflandschaft sei zunehmend die Parallelität von Flächen- und Firmentarifverträgen. "Die Differenzierung der Flächentarifverträge führt zur schrittweisen Aushöhlung von Tarifstandards", so Bispinck. Unter den Gewerkschaften sei die Dezentralisierung der Tarifpolitik durch "kontrollierte Öffnung" der Flächentarifverträge zwar akzeptiert. Ihre Beurteilung durch die Gewerkschaften falle aber ebenso unterschiedlich aus wie deren praktisches Vorgehen.

Rudi Schmidt, Soziologie-Professor an der Universität Jena, schloss sich Bispincks Einschätzung an, dass die Revitalisierung des Flächentarifvertrages nicht nur ein gewerkschaftsübergreifendes Gesamtkonzept erfordere, sondern auch aus der Politik unterstützt werden müsse. "Nach massiven Angriffen von CDU und FDP während der rot-grünen Regierung ist die Debatte um die Tarifautonomie mit der Großen Koalition vorerst zum Stillstand gekommen", sagte Schmidt.

Das bedeute aber kein Ende des Versuchs, die Gewerkschaften zurückzudrängen. Reinhard Dombre, Leiter der DGB-Abteilung Tarifpolitik, ergänzte: "Die Abwärts-spirale ist auch Ergebnis eigener Schwächen." Das Desinteresse der Beschäftigten an den Gewerkschaften sei teilweise hausgemacht. "Wir haben die Verzahnung von Betriebs- und Tarifpolitik vernachlässigt." Das, so Dombre, habe die Mitgliedergewinnung erschwert.

Wie schwierig sich die Tarifpolitik in vielen Niedriglohnsektoren darstellt, wo die betriebliche und arbeitszeitliche Zersplitterung die gewerkschaftliche Organisierung erschweren, erläuterte der Bremer ver.di-Sekretär Friedrich Siekmeier anhand der Kinobranche. Sie sei ein Beispiel für die begrenzten Handlungsmöglichkeiten der Gewerkschaften: "Wir haben in der Branche einen zu niedrigen Organisierungsgrad. Es ist fraglich, ob wir den Flächentarifvertrag halten können."

Ähnliche Probleme gebe es auch in der Landwirtschaft und im Bewachungsgewerbe, wie der stellvertretende IG-Bau-Bundesvorsitzende Hajo Wilms und der ver.di-Bundesfachgruppenleiter Gerald Richter schilderten. "Mangels gewerkschaftlicher Stärke gleichen manche Tarifverhandlungen im Hotel- und Gaststättengewerbe einem kollektiven Betteln", erklärte auch Gerd Pohl, Chef der NGG-Tarifabteilung. Den schwierigen Kampf gegen die Erosion tariflicher Normen auch abseits der Niedriglohnbranchen schilderte der stellvertretende ver.di Landesbezirksleiter Hessens, Berthold Balzer, am Beispiel der Papierverarbeitung sowie der Druckindustrie.

Um aus der Defensive wieder in die Offensive zu kommen, sei es wichtig, sich nicht selbst Niederlagen zu organisieren, erklärte Jürgen Wechsler, 2. Bevollmächtigter der IG-Metall in Nürnberg. Wer in einen Streik hineingehe, sagte er, der müsse auch wissen, wie er wieder heraus komme. Beim spektakulären Streik bei AEG sei allen bewusst gewesen, dass es schwierig werden würde, das politische Ziel - den Erhalt des Standorts Nürnberg - zu erreichen.

Unmittelbares Streikziel sei ein so genannter Sozialtarifvertrag mit möglichst hohen Abfindungen gewesen. Dieses Ziel habe auch erfolgreich durchgesetzt werden können. Wolfgang Denia, ver.di-Landesvorsitzender in Niedersachsen, erläuterte am Beispiel der jüngsten Streiks um die Arbeitszeit im öffentlichen Dienst die große Bedeutung der Mobilisierungsfähigkeit sowie die gestiegenen Anforderungen an eine kreative Arbeitskampfführung angesichts eines von der Arbeitgeberseite aus politischen Gründen provozierten Arbeitskampfes.

Bei der abschließenden Podiumsdiskussion wurden die unterschiedlichen Standpunkte deutlich, wie mit kontrollierten Öffnungen von Flächentarifverträgen umzugehen sei. "Wir haben seit über zehn Jahren Erfahrung mit Öffnungsklauseln", sagte Karin Erhard von der IG BCE. "Daraus hat sich ein System des Gebens und Nehmens entwickelt." Jörg Wiedemuth, Leiter der tarifpolitischen Grundsatzabteilung von ver.di, vertrat eine rigorosere Haltung: "Jede Abweichung birgt die Gefahr, den Flächentarifvertrag zu durchlöchern." Sie komme für ver.di nur in wirtschaftlichen Notlagen in Frage.

Für Detlef Wetzel, Leiter des IG-Metall-Bezirks NRW, hingegen ist die Verbetrieblichung nichts Neues: "Wir reden über einen Sachverhalt, den es schon immer gegeben hat." Tarifliche Öffnungsklauseln könnten sogar für eine Stärkung der Gewerkschaft in den Betrieben genutzt werden. Voraussetzung dafür sei aber eine auf betriebliche Durchsetzungsfähigkeit abzielende Einbeziehung und Aktivierung der Mitglieder. Diese, erklärte er, seien nicht nur Objekte, sondern Subjekte mit eigenständigen Kompetenzen. Gradmesser für die Zustimmung zu betrieblichen Abweichungen sei letztlich, ob es in den betroffenen Betrieben eine positive Mitgliederentwicklung gebe.

Bei seiner Zusammenfassung der Diskussion sah Reinhard Bahnmüller, Sozialwissenschaftler mit Schwerpunkt Tarifpolitik an der Universität Tübingen, in der Verlagerung von Tarifverhandlungen auf die Betriebsebene eine vorläufig nicht umkehrbare Entwicklung, die nicht nur Risiken, sondern auch Chancen für eine betriebliche Neufundierung der Tarifpolitik biete. Bei aller Sympathie für eine offensive Haltung und Herangehensweise, warnte er jedoch auch vor einer zu starken Betonung des Betriebs zu Lasten der Fläche.

 

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