Quelle: Britta Pedersen/dpa
Magazin MitbestimmungSchulbildung: Ökonomisch bilden
Dem baden-württembergischen Vorbild folgend, will die aktuelle CDU-FDP-Koalition in Nordrhein-Westfalen Wirtschaft als Lerninhalt der Schule aufwerten. Obwohl wirtschaftliche Themen aktuell schon mehr Anteile besitzen als politische oder gesellschaftliche. Von Jeannette Goddar
Wer weiß, wie lange es mit Veränderungen im Schulsystem meist dauert, reibt sich beim Blick nach NRW zurzeit verwundert die Augen. Bereits im zweiten Jahr nach Amtsantritt der schwarz-gelben Koalition wird der Anteil von Wirtschaftsthemen in Schulen deutlich erhöht: „Die Umstellung im Gymnasium erfolgt nach den Sommerferien, die übrigen Schulformen ziehen 2020 nach“, erklärt ein Sprecher des FDP-geführten Schulministeriums in Düsseldorf. Durch die Rückkehr zu G9, dem neunjährigen Gymnasium, entsteht hierfür Platz im Stundenplan. Zwei Stunden davon sollen fix für ökonomische Bildung eingeplant werden, und auch darüber hinaus wird das neue Fach „Wirtschaft-Politik“ (bisher heißt es „Politik/Wirtschaft“) mit mehr Stunden versehen. An Realschulen soll ein Fach „Wirtschaft“ – das zusammen mit Politik unterrichtet werden kann, aber nicht muss – eingerichtet werden, an Hauptschulen der „Lernbereich Arbeitslehre“ zum „Lernbereich Wirtschaft und Arbeitswelt“ werden. Man wolle Schüler „bestmöglich auf ihre Zukunft und den Einstieg ins Berufsleben vorbereiten“, erklärte dazu Schulministerin Yvonne Gebauer von der FDP, „Kenntnisse über wirtschaftliche Zusammenhänge“ seien dafür „unverzichtbar“.
Nun hört sich das so an, als kämen Wirtschaftsthemen in der Schule bisher viel zu kurz. Das allerdings stimmt so nicht. Laut aktuellen Daten der Universität Bielefeld stellen diese schon heute den Löwenanteil der sozialwissenschaftlichen Bildung: „In der Sekundarstufe I entfällt bis zu dreimal so viel Lernzeit auf die ökonomische Bildung wie auf die politische Bildung“, heißt es in einer im Dezember 2018 veröffentlichten Studie der Sozialforscher Mahir Gökbudak und Reinhold Hedtke.
Um das herauszufinden, haben die Bielefelder Sozialforscher alle Lehrpläne und Stundentafeln der verschiedenen Schulformen von der fünften bis zur zehnten Klasse – Gymnasium, Gesamtschule, Hauptschule, Realschule – in Nordrhein-Westfalen analysiert, ebenso außerschulische Betriebspraktika, die aufgrund ministerieller Vorgaben stattfinden. 56 bis 69 Prozent der Zeit im Lernbereich Politik, Gesellschaft, Wirtschaft werden für Wirtschaftsthemen verwandt. Gesellschaftliche Themen haben mit elf bis 18 Prozent nur marginale Bedeutung. Anders ausgedrückt: Ein Schüler in Nordrhein-Westfalen ist bereits heute 41 bis 63 Minuten pro Woche mit Wirtschaft beschäftigt – aber nur 17 bis 20 mit Politik.
Wenig interdisziplinäres VWL-Studium
„Angesichts einer seit Jahrzehnten sinkenden Wahlbeteiligung, grassierender Fremdenfeindlichkeit und eklatanter Wissenslücken etwa in Bezug auf die NS-Zeit ist das eine schlechte Nachricht – die allerdings überhaupt nicht überrascht“, kommentiert der Fachdidaktik-Professor Tim Engartner. „Die ökonomische Bildung wird seit Jahren ausgeweitet. Und jede Ausweitung ökonomischer Bildung geht stets zulasten historischer, politischer und geografischer Bildung.“ Der Frankfurter Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler vertritt zu Berufsorientierung in der Schule eine ebenso klare Position wie zu Themen des Verbraucherschutzes im Klassenraum.
Aufgabe von Schule sei weder, „Siebtklässler einseitig auf den Arbeitsmarkt abzurichten noch sie zu Geldanlegern zu erziehen“, so Engartner. Stattdessen sei es an einem Ort wie der Schule, an dem Schüler für das spätere Leben vorbereitet werden sollen, wichtig, etwa Themen wie Arbeitslosigkeit und prekarisierte Beschäftigungsverhältnisse einzubeziehen. Weiterhin gehörten auch Themen wie die Finanzkrise oder der globalisierte Arbeitsmarkt grundsätzlich um „historische, soziologische, kulturelle sowie psychologische Aspekte“ ergänzt. Neben einem fächerübergreifenden sozioökonomischen Unterricht wäre es hilfreich, wenn an den Universitäten – also dort, wo die Lehrkräfte ausgebildet werden – ein pluralistischeres Bild von wirtschaftlichen Zusammenhängen vermittelt würde. Grund genug gibt es, stellte Engartner in einer Befragung von 350 VWL-Studierenden an fünf großen Fakultäten fest: Eine Mehrheit kritisierte ihr Studium als zu mathematisch fokussiert, wenig interdisziplinär und gesellschaftlich desinteressiert.
Dem „Beutelsbacher Konsens“ folgend
Engartner ist zugleich der Verfasser des wissenschaftlichen Konzepts von „Böckler Schule“. Seit 2013 bietet die Hans-Böckler-Stiftung Schulmaterialien an: Unterrichtseinheiten und Hefte zu Themen wie Globalisierung, soziale Sicherung, Vereinbarkeit von Familie und Beruf – und natürlich zur Mitbestimmung. Gemeinsam ist den Materialien, dass sie Inhalte aus Politik, Ökonomie und Soziologie so vernetzen, dass „lebenssituatives Lernen“ möglich ist – und dass sie den Arbeitnehmer ins Zentrum stellen. „Die allermeisten Schüler werden einmal als abhängig Beschäftigte arbeiten“, erklärt Anke Thiel, „Böckler Schule“-Referentin. „Dem wollen wir mit einer arbeitnehmerorientierten, sozioökonomischen Bildung gerecht werden. Das ist vor allem deswegen wichtig, weil viele kostenlose Unterrichtsmaterialien so tun, als würden die meisten Schüler später Existenzgründer und Chefs.“ Engartners Konzept verlangt dem Unterrichtsmaterial von „Böckler Schule“ ab, „nahezu alle ökonomisch und politisch geprägten Rollen, die von Menschen ausgefüllt werden“, abzubilden, um somit auch den Richtlinien des Beutelsbacher Konsenses zu entsprechen.
Dass große Firmen oder Unternehmensnetzwerke in deutschen Schulen ebenso mit Lernmaterialien vertreten sind, ist längst die Regel. Laut einer Studie der Universität Augsburg boten bereits 2012 16 der 20 umsatzstärksten Arbeitgeber in Deutschland kostenlose Unterrichtsmaterialien an; Engartner zählte unlängst bei 28 der 30 DAX-Unternehmen Schulmaterialien. Nicht alle richten sich thematisch an das Fach Wirtschaft, und wenn etwa ein Cornflakes-Hersteller eine Mappe „Wie frühstückt die Welt?“ herausbringt, ist es leicht, das als Product-Placement zu entlarven. Eindeutig auf den Wirtschaftsunterricht zielen vor allem Banken, auch über den Bankenverband, sowie Versicherungen. Die Initiative „My Finance Coach“ etwa, die über die My Finance Coach Stiftung bundesweit aktiv ist und laut eigener Website „die Schüler auf die ökonomischen und digitalen Herausforderungen nach der Schule vorbereitet“, stammt aus dem Hause Allianz, unterstützt durch die Deutsche Börse AG, die Deutsche Kreditbank AG und McKinsey & Company. Dies ist nur eines von zahlreichen Beispielen dafür, dass nicht immer eindeutig ist, woher die Unterlagen stammen.
Problematisch an der unüberschaubaren Menge kostenloser Unterrichtsmaterialien – die Universität Augsburg schätzte ihre Zahl schon 2012 auf mindestens 800 000 – ist vor allen Dingen, dass es keine zentrale Stelle zur Überprüfung gibt. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft fordert eine solche seit Jahren: Ilka Hoffmann, Leiterin des GEW-Organisationsbereichs Schule, formulierte schon 2015 den Wunsch, eine „öffentlich verantwortete Plattform“ zu schaffen, die als Filter für frei im Netz erhältliche Unterrichtsmaterialien funktionieren solle.
Für das Einhalten des „Beutelsbacher Konsenses“ täte es natürlich grundsätzlich gut, wenn Schüler von Lehrkräften unterrichtet werden, die für das jeweilige Fach ausgebildet wurden. Was in Zeiten des Fachkräftemangels nicht immer der Fall ist. In Nordrhein-Westfalen dürfte noch verschärfend hinzukommen, dass bis in nächste Jahr hinein keine neuen Wirtschaftslehrkräfte ausgebildet werden können. Die Kombination aus mehr Unterrichtszeit für Wirtschaft und weniger für Politik und Gesellschaft plus weniger Fachlehrern und mehr externen Unterrichtsmaterialien aus der Wirtschaft wäre keine ideale Umsetzung der Grundsätze politischer Bildung, wie sie im „Beutelsbacher Konsens“ einst festgehalten wurden.