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Magazin Mitbestimmung

ThyssenKrupp: Null Toleranz mit kriminellen Zirkeln

Ausgabe 05/2013

Kartelldelikte müssen vor allem die Arbeitnehmer ausbaden. Die Betriebsrats­vorsitzenden der Sparten Gleistechnik und Aufzüge berichten, wie „bitter und schmerzlich“ das ist. Von Cornelia Girndt

Bizarr war das. Surreal. Eine Zäsur in seinem Arbeitsleben, das er seit über 30 Jahren mit dem Industriekonzern Krupp, später dann ThyssenKrupp teilt. Vor genau zwei Jahren stehen zehn Leute vom Bundeskartellamt und der Staatsanwaltschaft im engen Büro von Ulrich Wilsberg in der ­Hollestraße in Essen und wollen von ihm, dem Gesamtbetriebsratsvorsitzenden der Gleistechnik, eine Zustimmung. Es folgt eine „forensische“ Untersuchung der Computer einiger Manager und Schienenverkäufer aus der Sparte Gleistechnik. „Wir waren wie vor den Kopf geschlagen“, sagt der Arbeitnehmervertreter. Der Verdacht erhärtet sich: Seit Ende der 90er Jahre hatte ein Schienenkartell jahrelang die Bahn und öffentliche Verkehrsbetriebe – mithin auch den Steuerzahler – um Millionenbeträge betrogen, gesteuert vom sogenannten „Schienenpapst“, einem ThyssenKrupp-Manager, der bereits wegen Bestechung verurteilt worden war und dennoch im Unternehmen weiter im Hintergrund agierte. Wie auch die „Süddeutsche Zeitung“ berichtete. 2008 war der in allen Ehren im Kreise seiner nichts ahnenden Kollegen in den Ruhestand verabschiedet worden. Denn aufgeflogen war das Schienenkartell erst 2011 durch die Selbstanzeige eines Kartell-Mitbruders bei der Voestalpine.

Ulrich Wilsberg, gelernter Kaufmann, gehört eher zu den Neuen im Gesamtbetriebsrat von ThyssenKrupp, 2007 wurde er in den Betriebsrat und dann gleich zum Vorsitzenden gewählt, ein symphatischer, nachdenklicher Mann von 49 Jahren. „Wir merkten nichts“, sagt Wilsberg mit verhaltener Wut, wenn er davon spricht, was diese Kartellvergehen für sein Unternehmen und seine Kollegen bedeuten. Null Toleranz, null Verständnis hat er für diesen „kriminellen Zirkel“ von rund zwei Dutzend Mitarbeitern, in deren Gesichter man jahrelang nichts ahnend geblickt habe, die ja auch Kollegen waren. Und die mit ihren Preis- und Kartellabsprachen größtmöglichen Schaden anrichteten, den jetzt die verbliebenen 280 Mitarbeiter der Gleistechnik ausbaden müssen: den Riesenimageschaden, das Kundenvertrauen lädiert, hohe Kartellstrafen und Schadensersatzklagen in unabsehbaren Dimensionen.

„WIR GEHEN ÜBER GLAS“

Die Kartellstrafe „Deutsche Bahn“ in Höhe von 103 Millionen wurde bereits gezahlt, aber den Schaden insgesamt kann man noch gar nicht beziffern. Die „Süddeutsche“ spricht unter Berufung auf Unternehmenskreise von mehreren Hundert Millionen Euro. Die Frage ist: Wie wird das die Sparte Gleistechnik verkraften können? Zumal der ThyssenKrupp-Konzern derzeit unter einer Last von fünf Milliarden Euro Schulden ächzt. „Wir gehen hier seit zwei Jahren über Glas“, beschreibt Betriebsrat Wilsberg eine Situation extremer Unsicherheit. Damit leben müssen die 280 Mitarbeiter der Gleistechnik, „die nichts dafür können und deren Gesichter sorgenvoll fragen: ‚Gibt es uns nächste Woche noch?‘“, die also in einer so prekären Lage den Karren aus dem Dreck ziehen müssen.

Die Schuldigen wurden entlassen, wodurch die Sparte Gleistechnik fast komplett ihren Vertrieb verlor; Vertriebsleute aus der dritten Reihe rückten in die erste Reihe und mussten „von null auf 100 starten“. Denn die Kundenkontakte eines solch abgeschotteten Kartells kann man nicht übernehmen, die müsse man neu aufbauen. Und dazu täglich Überzeugungsarbeit leisten, um verlorenes Kundenvertrauen zurückzugewinnen, berichtet Wilsberg. „Gebt uns Zeit, das Desaster aufzuarbeiten, uns zu ‚resetten‘ und wieder für das Unternehmen Geld zu verdienen“, appelliert der Arbeitnehmervertreter an den Vorstand und die Gesellschafter. Immerhin hat es bisher keine Entlassungen gegeben – außer im Kreis der Beschuldigten. Wilsberg setzt auf den neuen Vorstandsvorsitzenden Heinrich Hiesinger und das von ihm vorgegebene Prinzip „Null Toleranz“ ohne alte Seilschaften und Kungelei. Das müsse jetzt „gegenüber den Kunden und dem Markt überzeugend dargestellt werden“.

AMNESTIEPROGRAMM

Wurde das Compliance-System verstärkt? Aber ja, keine Frage, sagt Wilsberg. Schon lange vor 2011 habe „der Konzern alles getan, durch Schulungen und Befragungen Kartellabsprachen und andere Gesetzeswidrigkeiten zu vermeiden“. Jeder Vertriebsmitarbeiter, wirklich jeder, betont Betriebsrat Wilsberg, habe die Compliance-Schulung gemacht, jeder habe ein Zertifikat erworben, da sei breit aufgeklärt worden. Aber durch solche Compliance-Audits sind auch jene Führungskräfte gegangen, bei denen sich später herausstellte, dass sie in dem Kartell waren. Auch sie wurden befragt: „Habt ihr etwas zu berichten?“ Doch keiner habe etwas zu berichten gehabt.

An diesem 16. April liegen auf dem Schreibtisch des Gesamtbetriebsratsvorsitzenden Gleistechnik die aktuellen Corporate News. Unter der fetten Schlagzeile „Compliance“ in den blauen Thyssen­Krupp-Farben erklärt der Konzernvorstand, dass er seine Compliance intensivieren möchte – durch ein zeitlich befristetes Amnestieprogramm (bisher drohte Entlassung) und durch die Hinzuziehung einer Rechtsanwaltskanzlei und eines Ombudsmanns. Auf der Website von ThyssenKrupp heißt es dazu: „Trotz erheblicher Anstrengungen, eine gemeinsame Vorstellung von Werten zu vermitteln, wurden in der letzten Zeit wiederholt schwere Compliance-Verstöße festgestellt. Der daraus resultierende Imageschaden ist gewaltig.“

„Das ist jetzt mal der Anreiz, sich wirklich auch zu outen“, unterstützt der Betriebsrat den Vorstoß. Hintergrund könnte der neuerliche Verdacht auf Kartellabsprachen sein: Seit Ende Februar ermittelt das Bundeskartellamt bei der Stahlsparte aufgrund einer anonymen Anzeige, ob es – wiederum zusammen u.a. mit Voest­alpine – beim Verkauf von Stahlblechen an die Autoindustrie Preisabsprachen gegeben habe. Wilsberg war „erschüttert“, als er davon in der Zeitung las. Er sagt, er hoffe sehr, dass da nichts dran sei.

AUFZUGSKARTELL MIT FOLGEN

Das hofft auch Susanne Herberger. Die Gesamtbetriebsratsvorsitzende in der Konzernsparte Elevator, sprich Aufzüge, hat eine präzise Vorstellung davon, wie lange so ein Kartellvergehen auf einem Unternehmen lastet. 2004 gab es die ersten Ermittlungen gegen das Aufzugskartell, an dem neben Thyssen­Krupp Elevator auch die „Mitbewerber“ Otis, Kone, Schindler beteiligt waren. Heute – nach neun Jahren – laufen noch Schadensersatzprozesse, einige Sammelklagen beginnen erst jetzt. Jahrelang hatten sich einige Vertriebsmitarbeiter in Bars und Restaurants getroffen und festgelegt, wer welchen Auftrag bei Neuanlagen und Wartung erhalten sollte, während die anderen unrealisisch hohe Angebote abgaben. (Mehr dazu: Wikipedia, ‚Aufzugs- und Fahrtreppenkartell‘)

Anfang 2007 verhängte die EU-Kommission gegen ThyssenKrupp die bis dato höchste Kartellstrafe von knapp einer halben Milliarde Euro, die später auf 320 Millionen abgesenkt wurde, das Berufungsverfahren läuft noch. Zur Kartellstrafe kommen beträchtliche Anwalts- und Prozesskosten und die Schadensersatzansprüche der geprellten Kunden. Wie sich das summieren wird, ist immer noch nicht absehbar. Dagegen ist jedem Beschäftigten im Unternehmen klar, was so eine Kartellstrafe bedeutet, sagt Susanne Herberger. Dass nämlich das Geld an andere Stelle fehlt, etwa für Investitionen und den Aufbau neuer Standorte. Nicht nur das sei „schmerzlich und bitter“. Denn während die Verantwortlichen längst nicht mehr im Unternehmen sind, müssen die Beschäftigten für die Folgen solcher Kartellvergehen geradestehen. Und versuchen, das beschädigte Vertrauen wiederherzustellen. „Unsere Kolleginnen und Kollegen haben sich engagiert, um beim Kunden wieder das Vertrauen zu stärken und damit ihren Arbeitsplatz zu erhalten“, sagt die Gesamtbetriebsratsvorsitzende.

Durchaus werde vom Konzern „jetzt hart durchgegriffen gegen die Verursacher“, auch mit Regressansprüchen, im Sinne einer „klaren Ausrichtung auf Compliance“. Auch in den Aufsichtsräten werde im Zuge des Risikomanagements über Regelverstöße berichtet. Und auf Betriebsversammlungen spricht Susanne Herberger das Thema immer wieder an, sagt „Leute, nehmt euch die zwei Stunden Zeit, macht die Compliance-Schulungen, das ist wichtig für unsere Arbeitsplätze, damit so etwas nicht mehr passiert.“ Aber mehr noch müsse gesetzeskonformes und korrektes Verhalten auch kontrolliert werden, betont die Arbeitnehmervertreterin. Müssten die Kollegen aufeinander achten, muss man im Ausland – Elevator ist der internationalste Bereich – besonders wachsam sein gegenüber Regelverstößen. Denn „langfristig profitiert keiner“. Kurzfristig haben zumindest einige Vertriebs- und Verkaufsmanager profitiert: Ulrich Wilsberg gibt zu bedenken, dass durch Kartellabsprachen erhöhte Jahresumsätze erzielt werden, die eben auch die individuellen Manager-Boni und Jahresprämien nach oben treiben. Auch Susanne Herberger hält den Druck durch Bonussysteme für einen gewichtigen Faktor: „Verkaufsziele müssen für die Mitarbeiter erreichbar sein“, betont sie eindringlich. Ein Bonus müsse „on top“ draufkommen und nicht etwa 70 Prozent des Entgelts ausmachen. Deshalb verhandeln die ThyssenKrupp-Betriebsräte mit dem Management gerade eine Betriebsvereinbarung, nach der das Grundgehalt für die Mitarbeiter im Vertrieb gestärkt und Zielprämien klar geregelt werden. Man müsse die Voraussetzungen schaffen für regelkonformes Verhalten – nicht zuletzt das sei wirksame Compliance.

AUFGEBAUSCHTE LUXUSREISEN-AFFÄRE

Susanne Herberger steht seit 2012 an der Spitze der Arbeitnehmervertretung von ThyssenKrupp. In ihrer sachlich-selbstbewussten Art bringt die neue Vize-Konzernbetriebsratsvorsitzende einen neuen Stil mit – als Frau und studierte Informatikerin. Meist steht sie in der Nacht vom Sonntag auf Montag sehr früh auf und fliegt Economy von ihrem Wohnort Dresden zur Essener Firmenzentrale, wo in der ThyssenKrupp-Allee 1 der Konzernbetriebsrat tätig ist. Als Dienstwagen fährt die zweithöchste Arbeitnehmervertreterin im Konzern einen VW Passat.

Als Susanne Herberger Mitte Januar in der Dresdner Regionalpresse die Schlagzeile liest: „Arbeitnehmervertreter werden mit Luxusreisen bezahlt“, ist sie tief gekränkt. In einer E-Mail an ihre Kolleginnen und Kollegen, die Mitarbeiter von ThyssenKrupp Aufzüge in Deutschland, erläutert Herberger, was ihrer Ansicht nach hinter diesen Luxusreisen-Vorwürfen steckt: Die Mitbestimmung sollte diskreditiert werden, um den (damaligen) Aufsichtsratsvorsitzenden Cromme zu schwächen. Nein, auf der Arbeitnehmerseite bei ThysssenKrupp sieht sie keinen „Fall von Compliance“, wie das „Handelsblatt“ titelte. Alles sei rechtens gewesen gemäß der konzernweiten Reise- und Dienstwagenrichtlinie. Ein Dienstwagen sei per se kein Luxus, zumal in einer Sparte wie Aufzüge, wo von den 2000 in Deutschland beschäftigten 1500 einen Dienstwagen nutzen.

Auf die Frage, was denn dann das „Privilegiensystem“ sei, das der Vorstandsvorsitzende Hiesinger laut Medienberichten abschaffen wolle, fällt auch Ulrich Wilsberg in seinem Zehn-Quadratmeter-Büro gegenüber dem Essener Hauptbahnhof nichts ein. Die Vorwürfe, es gebe bei ThyssenKrupp eine „Arbeiteraristokratie“, seien aufgebauscht, er finde es „schon schlimm“, wie mit einem „solch verlässlichen Partner der Arbeitnehmervertretung“ wie dem IG-Metall-Vertreter im Aufsichtsrat, Bertin Eichler, umgegangen worden sei. Und auf die Frage, ob es zutrifft, dass „kein Managementposten bei ThyssenKrupp ohne Zustimmung der Arbeitnehmer besetzt wird“, wie die „Süddeutsche Zeitung“ (vom 15.12.12) schreibt, lacht Susanne Herberger laut auf und sagt: „Schön wärs!“

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