Quelle: Lutz Weidler
Magazin MitbestimmungLöhne: Nudeln nach Tarif
Wochenlang streikte die Belegschaft bei Teigwaren Riesa für eine bessere Bezahlung. Die Verhandlungen waren zäh. Am Ende brachte eine Busfahrt ins Schwabenland den Erfolg. Von Ingo Zander
Wie kann es sein, dass Beschäftigte in Ostdeutschland für die gleiche Arbeit 700 Euro weniger im Monat bekommen als ihre Kollegen im Westen? Seit Monaten diskutiert die Belegschaft in der alten Nudelfabrik im sächsischen Riesa, die seit 1914 unter wechselnden Regimes und Geschäftsführungen Sättigungsbeilagen produziert, über diese Frage. Nur die Geschäftsführung des traditionsreichen Unternehmens stellt sich taub. Genauso der ehemalige Mutterkonzern, der Nudelhersteller Alb-Gold aus dem schwäbischen Trochtelfingen. Zwar sind beide Unternehmen seit 2019 rechtlich unabhängig, doch sie gehören noch immer einer Eigentümerfamilie. Und sie stehen in enger Geschäftsbeziehung zueinander.
Die Diskussionen um einen gerechten Lohn am sächsischen Standort waren wieder aufgeflammt, seit im Juni der alte Tarifvertrag für die 140 Riesaer Beschäftigten auslief und Neuverhandlungen anstanden. Die unterste Lohngruppe in Riesa liegt bisher bei einem Stundenlohn von 9,94 Euro, nur wenige Cent über dem Mindestlohn. „Die Ausgangslage schien gut zu sein“, erinnert sich Frank Meyer, der Betriebsratsvorsitzende. „Schließlich hatten wir im Coronajahr 2020 über zehn Prozent Umsatzplus erwirtschaftet.“
Auf die Forderung nach einer Lohnerhöhung reagiert die Geschäftsführung mit dem Angebot einer Nullrunde. Weil Riesa kaum Gewinn erwirtschafte, müsse es bei den Niedriglöhnen bleiben. Sogar eine drohende Insolvenz wird beschworen. Die zuständige Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) fühlt sich verschaukelt; sie vermutet, dass die Eigentümerfamilie versucht, Riesa künstlich arm zu rechnen. Nach Medienberichten weist diese die Vorwürfe zurück.
Die Lösung liegt nicht in Riesa
Ab dem 9. Juli liegt das Riesaer Werk im Streikfieber – zunächst für vier Stunden. Im August wird die ganze Produktion in Riesa lahmgelegt. Keine Nudel passiert mehr das Fabriktor. Woche für Woche bleibt die Streikbereitschaft ungebrochen. Auch bei Regen stehen die Beschäftigten vorm Werkstor. „Alle haben gesagt: Wir ziehen das jetzt durch“, so der Betriebsratschef. Doch eine Lösung des Konflikts, so glauben viele, ist nur in Trochtelfingen zu erreichen. So entsteht die Idee, den Schwaben einen Besuch abstatten. Kurzerhand chartert die NGG für den 7. September einen Bus. Um sechs Uhr morgens ist Abfahrt. „Ziel war es, die Belegschaft beim Mutterunternehmen über unsere Löhne und Forderungen zu informieren“, erklärt Olaf Klenke, NGG-Gewerkschaftssekretär im Landesbezirk Ost.
Aber natürlich will man auch den Eigentümern Dampf machen. „Zwei Stunden vor der Abfahrt las ich eine E-Mail der Geschäftsführung von 22.30 Uhr , dass man sich tariflich einigen könne“, sagt Klenke. „Vorausgesetzt, die Belegschaft nähme am Morgen die Arbeit wieder auf.“ Klenke rieb sich die Augen. Sollte er früh um vier alle Streikenden aus dem Schlaf klingeln? Und noch etwas: Zwei Jahre zuvor hatten die Arbeitgeber bei Verhandlungen zum Manteltarifvertrag nach der mündlichen Einigung überraschend die Unterschrift verweigert. So fährt der Bus mit etwa 30 streikenden Nudelwerkern an Bord wie geplant los.
Fast die ganze Strecke legen sie zurück. Sie haben alle gemeinsam beschlossen, dass der Bus sofort umkehrt, wenn der Tarifvertrag unterschrieben ist. Sie sind fast am Ziel, als am Tagesende des 7. September der Tarifabschluss bei ihnen ankommt. Die Stundenlöhne steigen in zwei Stufen, innerhalb der kommenden sieben Monate zunächst um einen Euro pro Stunde. Für eine Vollzeitkraft macht das etwa 170 Euro mehr im Monat. Hinzu kommt noch eine einmalige Coronaprämie von 145 Euro. Die Riesaer haben beschlossen, erst umzukehren, wenn der Arbeitgeber auch die sogenannte Maßregelklausel zum Arbeitskampf unterschrieben hat. Sämtliche im Zusammenhang mit dem Arbeitskampf ausgesprochenen Abmahnungen oder Ermahnungen müssen zurückgenommen und aus der Personalakte entfernt werden. Am 8. September fährt der Bus zurück, nachdem die Delegation in einer Jugendherberge um die Ecke übernachtet hat.
Motivation für Belegschaft im Westen
Was mögen die Gründe für das Einlenken der Geschäftsführung gewesen sein? Der wirtschaftliche Schaden durch den Streik war hoch, viele Supermarktregale längst leer. Vielleicht fürchtete die Eigentümerfamilie aber auch, dass der Streik in Riesa die Belegschaft am Stammunternehmen im Westen motivieren könnte, ebenfalls einen Betriebsrat zu gründen. Denn bisher gibt es dort keine Arbeitnehmervertretung. Der Riesaer Betriebsratschef Frank Meyer ist zufrieden. Er nennt das Ergebnis einen „vollen Erfolg“. Der Tarifvertrag hat eine Laufzeit bis August 2022. Dann wird wieder verhandelt. In Riesa dürfte es spannend bleiben.