Quelle: Werner Bachmaier
Magazin MitbestimmungWeiterbildung: „Niemand lernt aus Angst"
Viele Jobs könnten schon bald überflüssig werden, gleichzeitig fehlen anderswo Leute. Alle müssen lernen, ihr Leben lang. Doch wie gewinnt man jene Beschäftigten, die eine Qualifizierung am nötigsten brauchen? Von Andreas Molitor
Auch das Anlernen will gelernt sein. Das wurde Ralf Schimweg kürzlich beim Weiterbildungsprojekt „Mehr wert!“ im nordrhein-westfälischen Burscheid klar. Der Geschäftsführer des Qualifizierungsunternehmens MA & T Sell & Partner wollte beim Kolbenringhersteller Federal Mogul einfache Produktionsarbeiter zu „Anlernpaten“ qualifizieren, damit sie fortan jenen Beschäftigten etwas beibringen, die noch weniger Produktions-Know-how im Gepäck haben. „Die Leute wissen zwar, was sie an einer Maschine tun müssen, aber sie wissen nicht, warum“, erklärt Böckler-Altstipendiat Schimweg den Qualifizierungsbedarf. Die Anlernpaten sollten ihren Schützlingen zeigen, wie man die Maschine in Schuss hält und was zu tun ist, wenn etwas aus dem Ruder läuft. Aber das war leichter gesagt als getan. „Wie man das Wissen an die Leute ranbringt, mussten wir den Anlernpaten erst vermitteln“, erzählt Schimweg. Dass sie die Kollegen nicht überfordern dürfen, sondern Arbeitsschritte einmal ganz langsam vormachen. Dann alles ruhig erklären. Und dann erst den Lernenden ranlassen, am besten mit Hilfestellung.
Wenn es um die Zukunft der Arbeit geht, wandelt sich der ansonsten bodenständige Bundesarbeitsminister Hubertus Heil zum Visionär. Jüngst hat er die „Weiterbildungsrepublik“ ausgerufen, „damit die Beschäftigten von heute die Chance haben, die Arbeit von morgen zu machen“. Dafür erhält Heil viel Beifall vom DGB. „Wir müssen massiv in die Qualifizierung der Beschäftigten investieren, bevor Tätigkeiten obsolet werden“, stimmt Mario Patuzzi, Referatsleiter für berufliche Bildung bei der Gewerkschaftsdachorganisation, in Heils Credo ein. Denn Hunderttausende Beschäftigte stecken in Jobs fest, deren Zukunft angesichts von Digitalisierung und Transformation zumindest fraglich ist. Vor allem einfache, repetitive Tätigkeiten werden in den nächsten Jahren durch Maschinen ersetzt. Gleichzeitig fehlen aber an allen Ecken und Enden Leute: Die Babyboomer-Generation geht in Rente.
Weiterbildung kann eine Brücke von der Maloche der Vergangenheit zu den Jobs der Zukunft spannen. An ehrgeizigen Plänen mangelt es nicht. Die IG Metall hat ein „Transformations-Kurzarbeitergeld“ ins Spiel gebracht. Unternehmen, die in Not geraten, weil beispielsweise ihre Komponenten für Verbrennermotoren nicht mehr gefragt sind, sollen Kurzarbeit mit staatlich finanzierten Qualifizierungsmaßnahmen kombinieren – und Arbeitslosigkeit verhindern. Arbeitsminister Heil wiederum will Bildungszeiten und -teilzeiten nach österreichischem Vorbild ermöglichen: eine Auszeit vom Beruf von bis zu einem, in Teilzeit sogar zwei Jahren, in der Beschäftigte sich fortbilden können. Der Staat sichert in dieser Zeit den Lebensunterhalt. Angedacht sind 60 Prozent des bisherigen Gehalts. Allerdings müsse die Bildungszeit im Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit stehen, sagt Heil: „Natürlich wird kein Trommelkurs auf Gomera genehmigt.“
Euphorie trifft auf Realität
Ein Blick auf die Statistik bremst die Weiterbildungseuphorie. Im Jahr 2018 nahmen fast 60 Prozent aller 18- bis 64-Jährigen an einer beruflichen Weiterbildung teil. Das klingt erst mal gut, aber im internationalen Vergleich, vor allem mit Skandinavien, der Schweiz und den Niederlanden, hängt Deutschland in puncto Weiterbildung deutlich zurück. „Viele Betriebe, die vor einer großen Transformation stehen und deren Geschäftsmodell akut in Gefahr ist, haben den Wert der Weiterbildung noch nicht erkannt“, so die Analyse von Mario Patuzzi.
Bildungswillige Beschäftigte von Großunternehmen sind in der Regel fein raus. Dort gibt es meist eine fest etablierte und finanziell gut ausgestattete Qualifizierungsinfrastruktur mit professionellem Personalmanagement, Weiterbildungsabteilungen und Betriebsvereinbarungen. BMW beispielsweise hat seit 2008 mehr als 50 000 Beschäftigte im Umgang mit elektrifizierten Fahrzeugen qualifiziert. „Damit nehmen wir der Transformation den Schrecken“, sagt Uwe Bald, Leiter des Personalnetzwerks Produktion. 2021 haben die Münchner noch mal kräftig nachgelegt – mit der größten Weiterbildungsoffensive in der Geschichte des Unternehmens.
Ganz anders in kleinen und mittleren Unternehmen. „Je kleiner der Betrieb, desto schwerer hat es die Weiterbildung“, sagt Lee Hirschel, Referent für Bildung beim Weiterbildungsverbund Saarland. „Ich kenne kaum ein Kleinunternehmen mit einer Personalplanung.“ Weniger als die Hälfte der Betriebe mit unter zehn Beschäftigten bietet überhaupt Weiterbildung an. Zudem werden die Firmen momentan von ganz anderen, akuten Problemen geplagt: Lieferketten, die ins Stocken geraten sind, explodierende Energiepreise. Und ob sie im Winter noch genug Gas für die Produktion bekommen, wissen sie auch nicht. „Da steht die Weiterbildung dann erst mal hintenan.“
Das Arbeitsministerium steuert dagegen – mit einer Art Qualifizierungslaboratorium vor allem für kleine und mittlere Unternehmen. In 54 regionalen, mit bis zu zwei Millionen Euro geförderten Weiterbildungsverbünden finden Arbeitgeber, Gewerkschaften, Kammern, Arbeitsagenturen und Bildungsträger zusammen, um gemeinsam den Qualifizierungsbedarf auszuloten und Weiterbildung zu organisieren.
Wenn diese „lernenden Netzwerke“ einmal richtig funktionieren – aktuell sind die meisten noch in der Konzeptionsphase oder nehmen gerade Fahrt auf –, könnten sie auch den Transfer von Beschäftigten erleichtern: von Unternehmen, in denen Tätigkeiten und Arbeitsplätze wegfallen, zu anderen Firmen im Verbund, die händeringend Leute suchen. Und die für die neuen Jobs nötigen Know-how-Pakete werden gleich mit geschnürt. Einstweilen verhindert vielerorts noch kurzsichtiges Konkurrenzdenken einen solchen Transfer. „Besonders bei den Automobilzulieferern schauen viele Unternehmen primär auf sich“, beobachtet Petra Nitschke-Nolte vom Weiterbildungsverbund FastForward Automotive & IT. „Eine Kooperation in der Personalplanung ist derzeit nicht einmal in Ansätzen zu erkennen.“
Vielleicht ist der Egoismus auch deshalb so ausgeprägt, weil das althergebrachte Weiterbildungsnarrativ noch in den Köpfen verhaftet ist. „Jahrzehntelang gab es das Versprechen, Weiterbildung führe stets zu einer vertikalen Karriere und zu sozialem Aufstieg“, analysiert Michaela Kuhnhenne, Expertin für Bildung und Qualifizierung in der Forschungsförderung der Hans-Böckler-Stiftung. „Doch dieses Versprechen ist längst hinfällig.“ Ein harter Paradigmenwechsel hat stattgefunden. Berufliche Bildung, so Kuhnhenne, sei heute „Grundlage für den Erhalt der eigenen Beschäftigungsfähigkeit. Den Charakter von Freiwilligkeit hat sie verloren.“ Die Expertin fragt, wie Weiterbildung künftig gestaltet sein muss, „damit sie nicht als bloße Notwendigkeit oder im schlimmsten Falle als erwerbslebenslanger Zwang, sondern als Entwicklungsmöglichkeit wahrgenommen wird“.
Einfachjobs in Gefahr
Pflicht und Zwang sind jedenfalls denkbar schlechte Narrative. Das ist die Quintessenz der jahrzehntelangen Forschung von Matthias Knuth, ehemals Professor am Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen: „Niemand macht Weiterbildung aus Angst oder weil jemand sagt, dass sein Arbeitsplatz durch die Transformation wegfallen wird.“ Knuth, einer der renommiertesten Weiterbildungsexperten hierzulande, hat dabei vor allem jene im Blick, die Qualifizierung am dringendsten benötigen. 50 000 Menschen verlassen jährlich die Schule ohne Abschluss, 1,3 Millionen haben keine abgeschlossene Berufsausbildung. Ihre Einfach-Jobs drohen als Erste wegzufallen, aber, so Knuth, „je niedriger der Abschluss, desto geringer die Beteiligung an Weiterbildung“. 77 Prozent der Beschäftigten mit Hochschulabschluss nahmen 2020 an einer Qualifizierung teil, bei den Beschäftigten ohne abgeschlossene Berufsausbildung waren es nur 47 Prozent. Bundesarbeitsminister Heil will ins neue Bürgergeld, den Nachfolger von Hartz IV, einen Weiterbildungsbonus von 150 Euro im Monat einbauen, immerhin.
Schon im normalen Arbeitsalltag werden viele An- und Ungelernte mit ihren Defiziten konfrontiert. Heute werden Arbeitsaufträge oft nicht mehr mündlich, sondern per Tablet oder Smartphone übermittelt. Den Auftrag muss man lesen können – aber jeder zehnte Erwerbstätige hat große Probleme beim Lesen und Schreiben. Schon da fängt es an. Dabei hat Ralf Schimweg aus dem Projekt „Weit mehr!“ gelernt, dass „viele Ungelernte viel mehr können als das, was sie täglich zeigen dürfen. Es weiß nur keiner! Meist wissen sie es nicht mal selbst.“
Betriebsräte als Partner
Ein Beispiel guter Praxis hat schon vor Jahren der Betriebsrat des Landshuter BMW-Werks vorgelebt. „Leute die Treppe hoch entwickeln“, nennt der Betriebsratsvorsitzende Bernhard Ebner das dort erfolgreich praktizierte Modell, das auf individuelle Kompetenzentwicklung setzt, aber keinen überfordert.* Außerhalb der Großunternehmen sind die Verhältnisse schwieriger. Wie motiviert man Menschen, die bislang fast nur negative Bildungserfahrungen gemacht haben, für die der schnelle Weg in einen Anlernjob die Rettung vor weiterem schulischem Versagen war? „Auf keinen Fall dürfen wir sie in einen Seminarraum setzen“, sagt Petra Nitschke-Nolte von FastForward. „Das weckt vielfach negativ besetzte Erinnerungen an die Schulzeit.“ Trichterlernen, sagt sie, erzeuge bei bildungsungewohnten Menschen letztlich nur Abwehr und Versagensängste.
Betriebsräte und Vertrauensleute sind auch für niedrigschwellige Bildungsangebote wichtige Partner. Allerdings nicht an Flipchart oder Whiteboard, sondern direkt am Arbeitsplatz. Jennifer Seifert von Arbeit und Leben Niedersachsen, einer vom DGB getragenen Bildungseinrichtung, hat in den vergangenen zwei Jahren die Ausbildung von 43 Transformationslotsen mit begleitet, die genau im Blick haben, wer welche Qualifikation braucht und welche Bildungsdosis man wem zumuten kann. Einige der Lotsen waren auch Vertrauensleute oder Betriebsräte. Die Transformationslotsen, das sind „Leute aus der Schicht. Die wissen am besten, wie man mit den Ängsten von Kollegen umgeht, die sich Sorgen machen, dass es ihren Job bald nicht mehr gibt.“
Bei Federal Mogul in Burscheid erwies sich die Schulung der Anlernpaten nach gewissen Anlaufschwierigkeiten als Erfolg. Etliche Hilfsarbeiter haben neue Fertigkeiten erworben. Sie verharren jetzt nicht über die gesamte Schicht hinweg an ein und derselben Maschine, sondern wechseln von hier nach dort, haben alles besser im Blick, verstehen die Zusammenhänge – was sich auch beim Lohn positiv bemerkbar macht. Ein Selbstläufer war „Weit mehr!“ allerdings nicht, berichtet Ralf Schimweg, der Chef des Qualifizierungsunternehmens. „Zum Glück ist es uns gelungen, gleich zu Anfang den Betriebsrat auf unsere Seite zu bekommen“, sagt er. „Ohne den wäre das Projekt wohl nicht zustande gekommen.“