Quelle: UVK verlagsgesellschaft
Magazin MitbestimmungVon WALTHER MüLLER-JENTSCH: Nicht Ludwigs Erhards Erfindung
Rezension Nicht Ludwig Erhard ist der Vater der sozialen Marktwirtschaft. Es waren SPD und DGB, die wirkungsmächtig Einfluss auf Diskurse über die Wirtschaftsordnung und die reale Marktpolitik nahmen. Dies belegt eindrucksvoll die Dissertation von Uwe Fuhrmann.
Von WALTHER MüLLER-JENTSCH
Mit einem von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Dissertationsprojekt hat der Historiker Uwe Fuhrmann die Entstehungsgeschichte der sozialen Marktwirtschaft neu geschrieben. Mit einem ambitionierten wissenschaftlichen Instrumentarium (auf das ich hier nicht eingehe) kommt der Autor nach eingängigem Quellenstudium und gründlicher Analyse zu teilweise überraschenden Ergebnissen. Zu diesen gehört, dass ein Sozialdemokrat, Leonhard Miksch, der dem ordoliberalen Kreis um Walter Eucken angehörte, maßgeblich am Konzeptionswechsel von der „freien“ zur „sozialen“ Marktwirtschaft beteiligt war. Die präsentierte Neuerzählung dürfte eine zentrale Legende aus der Gründungszeit der Bundesrepublik in Frage stellen. Doch der Reihe nach …
Alfred Müller-Armack, der als Wortschöpfer der „sozialen Marktwirtschaft“ gilt, hatte im Januar 1947 die Schrift „Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft“ veröffentlicht, in der er sich über das Scheitern der liberalen Marktwirtschaft und sein Konzept der sozialen Marktwirtschaft auslässt, das eine wirksame Sozialpolitik (inklusive Mindestlohn) einschloss. Der im März 1948 zum Direktor für das Ressort Wirtschaft des Frankfurter Wirtschaftsrats (einer Art vorläufiger Regierung für die Westzonen) gewählte Ludwig Erhard verfolgte den Plan, mit der Währungsreform und anschließender Freigabe der Konsumgüterpreise eine „freie Marktwirtschaft“ zu etablieren.
Erhards enger Mitarbeiter Leonhard Miksch, Referatsleiter für Grundsatzfragen, verwendete den Begriff soziale Marktwirtschaft Ende 1947 in einer Fachzeitschrift und im Januar 1948 in einer internen Denkschrift, „in der er die sprachliche Wende von der ‚freien‘ zur ‚sozialen‘ Marktwirtschaft vollzog“ (Fuhrmann). Dass er dies in Kenntnis der Schrift von Müller-Armack tat, ist mehr als eine Vermutung, war dieser doch Gründungsmitglied des Wissenschaftlichen Beirates beim Frankfurter Wirtschaftsrat. Eine öffentliche Verwendung des Begriffs ist jedoch nicht vor Juni 1948 belegt.
Wie Fuhrmann aufzeigt, stieß Erhards Vorhaben der Währungsreform und der freien Konsumgüterpreise auf erheblichen Widerstand. Dieser Widerstand artikulierte sich bereits in der CDU mit Verweis auf das Ahlener Programm, in zwei von der SPD im Frankfurter Wirtschaftsrat eingebrachten Misstrauensvoten, sowie in zahlreichen Protest- und Käuferstreiks und nicht zuletzt in einem eintägigen Generalstreik (November 1948). In der zweiten Hälfte des Jahres 1948 gelang es dann einer verdeckt, nicht gemeinsam auftretenden Allianz von „institutionalisierter Arbeiterbewegung und christlicher Soziallehre“ die soziale Marktwirtschaft erfolgreich gegen den Kurs Erhards einzufordern. Tatsächlich sah sich Erhard zu einigen nicht marktwirtschaftlichen Korrekturen (u.a. Gesetz gegen Preistreiberei, Preisspiegel, Lenkung von Rohstoffen und Konsumgütern) gezwungen, wobei er auch auf die von seinem Referatsleiter Leonhard Mikschs erarbeiteten Konzepte zurückgriff.
Fuhrmann kommt zu dem nachvollziehbaren Schluss, dass SPD und DGB der sozialen Marktwirtschaft den Weg bereiteten, indem sie wirkungsmächtig Einfluss nahmen auf Diskurse über die Wirtschaftsordnung und auf die reale Marktpolitik. Schließlich war es aber Ludwig Erhard, der seine Politik einschließlich ihrer Korrekturen mit der Übernahme des Begriffs der sozialen Marktwirtschaft ausflaggte und seither als ihr Vater gilt.
Sozialdemokratie und Gewerkschaften überließen Erhard somit die Deutungshoheit über Begriff und Konzeption einer Wirtschaftsordnung, an deren Entstehung sie maßgeblich mitgewirkt hatten.
Uwe Fuhrmann: Die Entstehung der „Sozialen Marktwirtschaft“ 1948/49. Eine historische Dispositivanalyse. Konstanz, UVK Verlagsgesellschaft 2017. 360 Seiten, 39 Euro
Uwe Fuhrmann hat seine Dissertation an der FU Berlin geschrieben. Derzeit arbeitet er am Institut für Zeitgeschichte der Universität Leipzig in einem von der Böckler-Stiftung geförderten Projekt über „Geschlecht und Klasse um 1900“.