Quelle: Karsten Schöne
Magazin MitbestimmungEnergiemarkt: „Nicht auf einen Lieferanten verlassen“
IMK-Direktor Sebastian Dullien zu steigenden Energiepreisen, den Folgen für die Wirtschaft und Möglichkeiten der Schadensbegrenzung.
Die geopolitische Lage hat sich dramatisch gewendet: Wir erleben den größten Landkrieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Was bedeutet dieser Konflikt für unsere Energieversorgung?
Sie ist gefährdet, weil Deutschland sehr abhängig von russischen Energielieferungen ist. Das gilt nicht nur für Gas, sondern auch für Kohle. Die Hälfte unserer Kohle beziehen wir aus Russland, vor allem Kokskohle für unsere Stahlwerke, aber auch Kohle für die Stromerzeugung. Die Preise sind explodiert, obwohl Russland noch liefert. Allein die Spekulationen über einen Lieferstopp haben die Preise in die Höhe getrieben.
Wie wirkt sich das auf die Wirtschaft aus – zusammen mit den Folgen der Kriegshandlungen und der Sanktionen?
Das ist ein Preisschock, der zum einen kombiniert ist mit dem Problem, dass Unternehmen mit der Ukraine, mit Russland und Weißrussland keinen Handel oder wenig Handel treiben können oder wollen. Zum anderen kommt hinzu, dass Privathaushalte bei einigen Ausgaben sparen, da sie mehr für Energie ausgeben müssen. Wir haben also eine Kombination aus Angebots- und Nachfrageschock für die Wirtschaft. Außerdem wächst die Unsicherheit, was die Versorgung betrifft. Wir wissen nicht, ob an irgendeinem Punkt Russland kein Gas mehr liefert.
Es wird auch diskutiert, dass wir den Energieimport aus Russland selbst stoppen. Wie sehen Sie das?
Man muss sich bei Sanktionen schon fragen, in welchem Verhältnis der Schaden für uns zu dem des Gegners steht. Wenn ich der Meinung bin, es hat für uns gravierendere Folgen als für Russland, müsste man sich das sehr gut überlegen.
Das Kiel Institut für Weltwirtschaft hat errechnet, eine komplette, langfristige Abkoppelung von Russland würde das deutsche BIP um 0,4 Prozent pro Jahr verringern. Hält sich der Schaden in Grenzen?
Wir schätzen den Schaden wesentlich dramatischer ein. Wenn Russland tatsächlich kein Gas mehr liefern würde, müsste rationiert werden. Bestimmte Industrieanlagen müssten abgeschaltet werden. Man muss immer die Kaskadeneffekte mit anschauen: Was bedeutet es für die Industrie, wenn Vorprodukte fehlen? Was macht eine Familie, wenn sie 200 Euro mehr für die Heizung zahlen muss? Wir hätten hier große Sorgen, dass das Bruttoinlandsprodukt einbricht und wir noch einmal eine Krise bekommen von der Dimension der ersten Coronakrise.
Wie hoch könnte die Inflation steigen?
Wir rechnen mit über sechs Prozent. Da sind allerdings die schlimmsten Annahmen für den Energiepreisanstieg oder einen Energieboykott noch nicht drin.
Wie können wir kurzfristig unsere Abhängigkeit von Russland reduzieren, ohne dass wir uns weiter in Abhängigkeit von Schurkenstaaten begeben?
Es gibt unter den Gas- und Ölförderländern eine Reihe sehr unangenehmer Staaten, aber auch seriösere Lieferanten. Ich denke da an Norwegen oder, beim Flüssiggas, an Australien. Aber einfach ist es nicht. Denn Gas wird über eine Pipeline geliefert. Und für die Alternative, Flüssiggas, fehlt uns zurzeit noch ein Terminal in Deutschland. Es ist also schwer, Erdgas hierherzukriegen. Außerdem ist der Flüssiggasmarkt weitgehend leer gekauft. Wir müssten jetzt den Sommer nutzen, um bis zum Herbst möglichst unabhängig zu werden.
War es ein Fehler, auf Gas als Brücke für die Energiewende zu setzen?
Man kann am Gas als Brücke festhalten. Der Fehler war, sich so sehr auf einen Lieferanten zu verlassen. Das Risiko, von einem Gaslieferanten abhängig zu sein, hat sich jetzt materialisiert. Man muss sich fragen – auch wenn das teurer wird –, ob man diversifizieren kann und ob nicht eine schnellere, direkte Umstellung auf die erneuerbaren Energien sinnvoller ist. Bei einem Gaspreis von 25 Euro pro Megawattstunde sieht die Rechnung ganz anders aus als beim Gaspreis von zeitweise über 200 Euro pro Megawattstunde. Da sind viele erneuerbare Energien oder Speicher für Photovoltaik günstiger als das Gas.
Für die Verteidigung werden Ausnahmen bei der Schuldenbremse gemacht werden. Ich sehe keinen Unterschied zur Frage der Energieversorgung.
Die Energiewende hat in den letzten Jahren gelahmt. Wie kann man sie jetzt vorantreiben?
Man kann sehr viel bei den Genehmigungsverfahren – gerade für Windenergie – machen. Da hat es in letzter Zeit gehakt. Die Abstandsregeln, auch auf Länderebene, haben ja dazu geführt, dass praktisch keine neuen Windenergieanlagen gebaut werden konnten. Das könnte man alles ändern und beschleunigen. Ähnliches gilt für die Solarenergie.
Das IMK hat schon vor dem Krieg einen Gaspreisdeckel vorgeschlagen – eine Subventionierung eines Grundbedarfs für Haushalte. Wäre das auch für die Industrie sinnvoll?
Bei der Industrie ist das wesentlich schwieriger. Bei den Haushalten ist die Idee, den Grundbedarf für jeden Haushalt im Preis zu deckeln und die Versorger dafür zu entschädigen. Bei Unternehmen ist es komplizierter. Der Bäckerladen an der Ecke, der selbst backt, braucht eine winzige Menge Energie im Vergleich zu einem Großunternehmen wie BASF. Wenn man eine bestimmte Kilowattstundenzahl preislich begrenzt, subventioniert man Kleinbetriebe komplett. Sie haben dann keinen Anreiz mehr, Energie zu sparen. Für die BASF wäre das gleiche Angebot völlig uninteressant.
Was halten Sie von dem Vorschlag von Gewerkschaften und Arbeitgebern, die Steuer auf die Energie zu senken?
Die Bundesregierung wird zum 1. Juli die EEG-Umlage abschaffen und wird vorübergehend für drei Monate die Steuer auf Kraftstoffe senken. Zusätzlich könnte man überlegen, ob man vorübergehend die Stromsteuer senkt. Das würde auch die Industrie entlasten. Bei den Haushalten könnte man noch über die Mehrwertsteuer nachdenken. Das Problem gegenüber dem Gasdeckel ist allerdings, dass man auf breiter Front subventioniert. Das heißt, auch die Grenzeinheit, die letzte Einheit, wird billiger, und damit sinkt der Anreiz, Energie zu sparen. Aber ich glaube, die Situation ist derzeit so, dass man alles Mögliche machen muss.
In gewisser Weise muss die Politik jetzt bremsen und Gas geben gleichzeitig. Einerseits müsste fossile Energie teurer werden, um die Energiewende zu fördern, andererseits können Verbraucher und Wirtschaft die derzeitigen Preissteigerungen kaum stemmen. Wie sieht der Ausweg aus?
Für die Energiewende ist nicht der kurzfristige Preis entscheidend. Was das Erdgas dieses Jahr kostet, wird nicht darüber entscheiden, ob man sich eine neue Heizung einbaut. Dafür ist der Preis in den nächsten Jahren wichtig. Und die Future-Preise für Erdgas an der Energiebörse liegen jetzt schon für die Mitte des Jahrzehnts wieder beim Vorkrisenniveau. Das ist für die Energiewende eigentlich genau der falsche Preisverlauf. Fossile Energie sollte jetzt bezahlbar, aber langfristig teurer sein. Es darf keine dauerhafte Subvention fossiler Energien geben, sondern nur einen kurzfristigen ökonomischen „Katastrophenschutz“, wie es meine Kollegin Isabella Weber genannt hat. Danach müssen die Preise für fossile Energien weiter steigen.
Der Staat soll fossile Energien subventionieren, die Energiewende vorantreiben, in Infrastruktur, Forschung und Entwicklung investieren. Wird das nicht alles sehr teuer?
Aber man sieht auch, was es kostet, wenn man notwendige Dinge nicht tut. Insbesondere im jetzigen Zinsumfeld sollte man das nicht auf die lange Bank schieben. Wir sind eine Volkswirtschaft, die sich das durchaus leisten könnte. Für die Verteidigung werden jetzt Ausnahmen bei der Schuldenbremse gemacht werden. Ich sehe keinen Unterschied zu einer existenziellen Frage wie Energieversorgung. Wir sollten uns nicht selbst Fesseln anlegen.
Wenn Sie die enormen Kosten sehen: Wird Energie in Zukunft immer teurer und ein Luxusgut werden?
Die Kosten für erneuerbare Energien sind immer stärker gefallen, als es prognostiziert worden war. Inzwischen sind erneuerbare Energien jenseits der Grundlast ganz oft schon wettbewerbsfähig mit fossilen Energien. Wir wissen nicht genau, wie die Zukunft aussieht. Aber es gibt durchaus plausible Szenarien, wonach die Energie auch wieder billiger wird als heute.
Werden wir in einer fernen Zukunft alle unsere Energie selbst produzieren?
Vermutlich werden wir auf sehr lange Zeit ein Importland bleiben. Aber dank der Energiewende werden wir weniger Energie importieren als heute. Und wir werden uns hoffentlich mehr Gedanken darüber machen, woher wir unsere Energie bekommen. Wir müssen diversifizieren. Das wird dann natürlich teurer. Das russische Gas war, rein kurzfristig und ökonomisch gedacht, relativ günstig, weil man es mit der Pipeline von Russland hierherbringen konnte. Es gab da viel Gas, und das wurde uns auch nicht allzu teuer verkauft. Das war eine bequeme Lösung.