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Magazin Mitbestimmung

Interview: "Neue Allianzen schließen"

Ausgabe 12/2015

Kerstin Jürgens, Soziologin und Leiterin der Böckler-Kommission „Arbeit der Zukunft“ über Flexibilitätsinteressen, prägende Erfahrungen mit stressgeplagten Eltern und warum wir ein neues Leitbild für Arbeit brauchen. Mit ihr sprachen Margarete Hasel und Annette Jensen

„Arbeit und Leben“ ist ein zentrales Thema der Kommission „Arbeit der Zukunft“, die Sie leiten. Warum? 

Im arbeitspolitischen Kontext wird der Mensch oft nur als Erwerbstätiger betrachtet. Menschen sind aber vielfältig interessierte und lebensweltlich eingebundene Wesen. Immer mehr Frauen steigen in den Arbeitsmarkt ein, und damit stellt sich die Frage, wie die Vereinbarkeit von Familie, Sorgearbeit und Beruf gelingen soll. Insofern war für die Kommission klar, dass das Verhältnis von Arbeit und Leben neu betrachtet werden muss. Dabei ist es unser Ziel, einen Entwicklungspfad für Deutschland zu beschreiben, der an die Tradition der Sozialpartnerschaft und des Rheinischen Kapitalismus anknüpft und zugleich Lösungen für die gegenwärtigen Herausforderungen aufzeigt. 

Müssen Arbeit und Leben immer Gegensätze sein? 

In der historischen Perspektive haben sich zwei Logiken herauskristallisiert. In der Erwerbsarbeit herrscht die ökonomische Logik der Bezahlung, im Privaten die der Bedürfnisorientierung, Emotionalität und Empathie: Wenn ich im Arbeitsleben ausfalle, kommt die nächste Beschäftigte und übernimmt die Arbeit – in der Familie gilt das Prinzip der Nichtersetzbarkeit. Zwar vermischen sich Arbeit und Leben, wenn ich am Arbeitsplatz Freundschaften knüpfe, privat telefoniere oder im Internet surfe. Aber in ihrer grundsätzlichen Logik sind die Bereiche widersprüchlich und hierarchisiert. Der Arbeitszeit wird immer noch Priorität eingeräumt gegenüber Familieninteressen und Regenerationsbedürfnissen.

Ist die gestörte Balance von Arbeit und Leben ein neues Phänomen? 

Nein, sie ist mit der Entstehung des Industriekapitalismus verwoben, und über die Entgrenzung von Arbeit und Leben debattieren wir in der Forschung seit 20 Jahren. Gegenwärtig aber ergibt sich eine gewisse Dramatik, weil nicht nur die physische Leistungsfähigkeit des Menschen durch Verschleiß gefährdet ist, sondern offenkundig auch die psychische an Grenzen stößt. Das belegen Forschung und Krankenkassenberichte, Folge sind kostenintensive Reha-Maßnahmen für Menschen, die unter Erschöpfung leiden.

Arbeitgeber halten den Achtstundentag für nicht mehr zeitgemäß.

Schon heute ermöglicht das Arbeitszeitgesetz zehn Stunden Arbeit pro Tag, und auch Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen geben großen Spielraum. Wenn ich mir die Datenlage anschaue, dann scheint evident, dass die Ökonomie nicht umhinkommt, die physischen und psychischen Belastungsgrenzen der Erwerbstätigen zu respektieren. Die Digitalisierung ist hier zweischneidig. Sie ermöglicht es, Arbeitszeit und Arbeitsort immer flexibler zu gestalten. Eigentlich ist es ja ein großes Glück, wenn wir eine Arbeit haben, die uns erfüllt. Wenn aber Anerkennung, Wertschätzung und auch alle sozialen Kontakte über die Arbeit kommen, wird oft nicht auf Pausen und die vereinbarte Arbeitszeit geachtet. Studien zeigen, dass Homeoffice die Tendenz verstärkt, deutlich mehr zu arbeiten, und sich der Arbeitstag außerdem zerstückelt. Vielleicht rufe ich morgens um acht Uhr meine E-Mails ab, und abends skype ich mit Kollegen in Übersee – so habe ich zwischendurch autonome Pausenzeiten, aber es fehlt eine zusammenhängende Ruhezeit von mindestens elf Stunden, wie sie das Arbeitszeitgesetz vorsieht. Immer mehr Menschen in Deutschland haben nachweislich Schlafprobleme, der Einsatz von Schlafmitteln und Aufputschmitteln steigt.

Was tun? 

Wir müssen uns überlegen: Wie viel Selbstverantwortung übertragen wir dem Individuum, und wo ist eine Regulierung von Arbeit gesellschaftlich und ökonomisch geboten? Denn es entstehen ja auch kollektive Kosten. Wenn sich Menschen krank arbeiten und dann von den solidarischen Sicherungssystemen aufgefangen werden müssen, sind Einschränkungen der Nutzung von Arbeitskraft das Gebot der Stunde – zum Schutz des Einzelnen, aber auch der Erwerbsbevölkerung, deren Durchschnittsalter in Deutschland ansteigt. 

Ein Begriffspaar, über das Gewerkschaften versuchen, eine Balance zu definieren, ist „Flexibilität und Sicherheit“. Historisch haben sie sich stärker für den Sicherheitsaspekt zuständig gefühlt. Nicht zuletzt die große IG-Metall-Umfrage 2013 belegt nun ein großes Bedürfnis nach selbstbestimmteren Arbeitszeiten. 

Flexibilität und Sicherheit sind kein Gegensatz, aber eine gestalterische Herausforderung. Der Impuls für flexible Arbeitszeiten kam ursprünglich von den abhängig Beschäftigten selbst. Die Gewerkschaften erkannten dann schnell Flexibilität als Chance für eine bessere Work-Life-Balance. Seit den 1980er und 1990er Jahren sind dann aber zunehmend Flexibilitätsvarianten entstanden, in denen die betrieblichen Belange dominieren. In der Zukunft muss es deshalb darum gehen, die Flexibilitätsbedürfnisse und -interessen der Beschäftigten wieder geltend zu machen. Das wäre für die Gesunderhaltung ebenso wie für die Vereinbarkeit ein Lösungsweg.

Sind die Interessen zwischen Hoch- und Geringqualifizierten beim Thema Flexibilität nicht völlig entgegengesetzt? 

Wir haben es mit einer pluralen Arbeitswelt und einer Heterogenität der Lebens- und Beschäftigungslagen zu tun. Wir sollten nicht vergessen, dass es trotz zunehmender Digitalisierung nach wie vor große Gruppen gibt, die unter sehr rigiden Zeittaktungen arbeiten. Da ist das mobile Büro, in dem ich jederzeit überall arbeiten kann und wo ich mir meine Arbeitszeit auf Vertrauensbasis selbst einteile, eher Wunsch als Realität. Und das wird sich auch bei vielen nicht ändern, weil ihre Arbeiten Präsenz verlangen. Beide Realitäten sind also zu berücksichtigen, und auch wenn wir gegenwärtig wieder über Arbeitszeitverkürzung sprechen, dann sollte diese kein Privileg sein, das sich nur Besserverdienende leisten können. 

Könnte man die Heterogenität der Interessen mit der flächendeckenden Einführung einer 30- oder 32-Stunden-Woche einfangen?

Das haben dann die Tarifpartner zu entscheiden, aber als Wissenschaftlerin kann ich darauf hinweisen, dass es trotz heterogener Beschäftigungssituationen auch Gemeinsamkeiten gibt: Alle Beschäftigten eint die Notwendigkeit, aktuell und über den Lebenslauf hinweg gesund und arbeitsfähig zu bleiben. Die meisten haben das Bedürfnis, Arbeit und Leben im Alltag so zu gestalten, dass sie Zeit für Kinder, Pflegebedürftige, Freundschaften oder ehrenamtliches Engagement haben. Der größte Druck entsteht gegenwärtig, weil die Arbeitszeitnormen auf Vollzeit arbeitende Männer ausgerichtet sind. Frauen arbeiten überwiegend Teilzeit und sind für den Großteil dessen zuständig, was im Privaten zu organisieren ist. Wenn eine Gleichstellung der Geschlechter am Arbeitsmarkt gelingen soll – und aufgrund des demografischen Wandels von der Wirtschaft ja auch gewünscht wird –, dann stellt sich die Frage: Sind 35 oder 38 Stunden noch ein handhabbarer Umfang? Von der Mehrarbeit mal ganz zu schweigen. Wenn wir das Arbeitsvolumen zwischen Frauen und Männern gleichberechtigter verteilen wollen, dann müssen wir darüber nachdenken, ob nicht 32 Stunden eine neue Norm sein könnten, aber eben nicht starr, sondern als Richtgröße, von der je nach Lebensphase und -form nach oben oder unten abgewichen werden kann. 

Familienministerin Schwesig hat den Vorschlag 32/32-Stunden für Eltern gemacht. Aber gerade mal ein Drittel der berechtigten Männer nutzt die Vätermonate. Besteht das Problem nicht darin, dass Männer solche Angebote nicht annehmen? 

Es braucht immer Erfahrungszusammenhänge. Ich habe in den 1990er Jahren eine Studie zur Viertagewoche bei Volkswagen durchgeführt. Alle Männer haben gesagt, sie hätten von sich aus die Arbeitszeit nie verkürzt. Aber die konkreten Erfahrungen mit der 28-Stunden-Woche und das Wissen, dass auch das gesamte soziale Umfeld in diesem Rhythmus arbeitet, hat zur Akzeptanz geführt. Die Männer hatten nicht das Gefühl, sich gegenüber Kollegen oder Vorgesetzten rechtfertigen zu müssen. In dem Moment, wo es eine solche Norm als gelebte Realität gibt, können auch Fantasien für ein anderes Leben entstehen. 

Viele Jüngere fühlen sich bevormundet, wenn es um Arbeitszeitregulierung geht. Das ist für Gewerkschaften nicht unproblematisch: Sie wollen die jüngeren Beschäftigten organisieren, stoßen aber mit ihrem Schutzangebot auf Vorbehalte.

Deshalb sind Normen so wichtig, sie haben Signalwirkung. Wenn die neue Norm eine 32-Stunden-Woche für Männer und Frauen gleichermaßen wäre, würden die jüngeren Generationen ganz selbstverständlich mit diesem Leitbild in den Arbeitsmarkt einsteigen. Jugendstudien belegen den Wunsch junger Menschen, dass in ihrem Leben auch anderes stattfindet als Arbeit. Viele haben erlebt, dass ihr Vater durch den Job absorbiert war. Und wenn ihre Eltern versucht haben, sich die Arbeit in Familie und Beruf zu teilen, haben sie deren täglichen Spagat mitbekommen und den Stress und Zeitdruck, den das bedeutet hat. Deshalb nehmen sich viele Jüngere vor, dass es bei ihnen anders laufen soll. Und sie erwarten von den Betrieben und der Politik, dass sie entsprechende Rahmenbedingungen liefern. Aber es gilt auch: Viele erkennen den Zweck von Limits erst, wenn sie betroffen sind, also Familie gegründet haben oder mit dem Tempo der Arbeitswelt nicht mehr mithalten können.

Sie sprechen von neuen Allianzen. Wie kann es gelingen, da mehr Schwung reinzubringen? 

Es braucht neue Allianzen, die sowohl zwischen Arbeits-, Familien- und Gesundheitspolitik als auch auf sozialpartnerschaftlicher und betrieblicher Ebene zu schmieden sind. Die Familienministerin setzt ja schon klare Akzente mit ihrem Vorstoß für eine 32-Stunden-Woche in Familienphasen. Auch der Ausbau der Kinderbetreuung findet bereits statt, und es gibt die Elternzeit. Aber man kann sich familienpolitisch noch so sehr bemühen – wenn die Arbeitswelt nicht parallel entsprechende Bedingungen schafft, wird man ins Leere laufen. Insofern ist die Abstimmung mit der Arbeitspolitik und den Tarifpartnern wichtig. Es gibt bereits viele positive Beispiele von Unternehmen, die sich auf die Arbeitszeitwünsche der Beschäftigten einstellen, weil sie um hochqualifizierte Arbeitskräfte konkurrieren. Aber es müssen auch Lösungen für weniger Privilegierte gefunden werden. Mitbestimmung muss das beständig in Erinnerung rufen.

Die von Ihnen geleitete Kommission sucht nach einem neuen Leitbild für das künftige Normalarbeitsverhältnis. Was ist aus Sicht der Soziologin dafür unverzichtbar?

Prioritär ist, über die materielle Basis zu sprechen: Die Menschen wollen von der von ihnen geleisteten Arbeit leben können. Darüber hinaus können wir nicht mehr davon ausgehen, dass wir erwerbslebenslang in Vollzeittätigkeit bis zur Rente arbeiten, sondern dass wir Auszeiten nehmen oder die Arbeitszeit reduzieren, um Sorgearbeit zu leisten, für die Erholung oder Weiterbildung. Wenn wir uns in eine digitalisierte Arbeitswelt hineinbewegen, müssen sich alle dafür fit machen können. Und es wird weiterhin Berufe geben wie im Baugewerbe, wo es möglich sein muss, dass die Beschäftigten ab 50 Jahren noch mal in andere Arbeitsfelder umsteigen und dafür Zeit zur Umschulung haben. Wir brauchen also neue Leitbilder von Arbeit, die den veränderten Arbeitsrealitäten, aber ebenso auch den basalen Bedürfnissen der Menschen Rechnung tragen.

Zur Person

Als Professorin für Mikrosoziologie an der Universität Kassel beschäftigt sich Kerstin Jürgens, 45, mit den widersprüchlichen Handlungsanforderungen, denen sich Beschäftigte heute ausgesetzt sehen. Sie hat die Einführung der Viertagewoche bei VW untersucht, erforscht Burn-out und Erschöpfung, Vereinbarkeitsfragen, Prekarisierungstendenzen und den Wandel der Arbeitswelt durch Digitalisierung und Demografie. Arbeits-, Familien- und Geschlechtersoziologie gehören in ihrer Forschung über die Balance von Arbeit und Leben untrennbar zusammen. Zudem teilt sich die Soziologin mit dem DGB-Vorsitzenden Reiner Hoffmann den Vorsitz der Kommission „Arbeit der Zukunft“, die die Hans-Böckler-Stiftung 2015 initiiert hat. Im Frühjahr 2017 wird das 34-köpfige Expertengremium seinen Abschlussbericht veröffentlichen. Ziel ist es, eine konzise Diagnose zu den aktuellen Herausforderungen zu liefern und zu konkretisieren, welche Weichenstellungen vorgenommen werden müssen, um Arbeit zukunftsfähig aufzustellen.

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