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Magazin MitbestimmungBundestag: Die Bodenhaftung nicht verlieren
Vier Bundestagsneulinge erzählen über ihre ersten Wochen im Berliner Parlamentsbetrieb, über ihre Ziele und Erwartungen. Eines haben sie auf jeden Fall gemeinsam: Alle vier waren Stipendiaten der Hans-Böckler-Stiftung. Von Jeannette Goddar
Tanja Machalet (SPD) – Wahlkreis Montabaur
„Etwas für Pflegekräfte erreichen“
Zehn Jahre war ich Mitglied eines Landtags, in Rheinland-Pfalz. Dennoch war mein erster Tag als Parlamentarierin in Berlin besonders. Eine Bundestagspräsidentin wählt man nicht jeden Tag. Und man darf ja nicht vergessen, dass der Deutsche Bundestag einer der weltweit bedeutendsten parlamentarischen Orte ist.
Meine Zeit als Landtagsabgeordnete war einerseits wunderbar, die SPD war an der Regierung, ich konnte etwas gestalten. Doch bei meinen Themen – Arbeit und Soziales, Gesundheit und Pflege – geht vieles nicht ohne den Bund. Für die Betriebskostenfinanzierung der Krankenhäuser gilt das ebenso wie für die Pflegeversicherung. Deswegen finde ich gut, künftig auf Bundesebene etwas bewegen zu können.
Seit Jahren bin ich, obgleich Volkswirtin und gelernte Bankangestellte, Vorsitzendende des DRK-Ortsvereins Meudt. Als im Frühjahr 2020 Termine wegfielen – Jubiläen, Empfänge, ähnliches – habe ich in der freiwerdenden Zeit ehrenamtlich im Seniorenheim geholfen.
Ich will im Bundestag etwas für die Beschäftigten in der Pflege erreichen. Der Beruf ist so erfüllend, oder vielmehr: Er könnte es sein, hätten die Menschen mehr Zeit. Das gelingt nur mit einem besseren Personalschlüssel und dafür müssen wir mehr Menschen für den Beruf gewinnen. Bei anderen Themen, wie dem Mindestlohn, sehe ich bereits Bewegung, was mich sehr freut.
In die SPD bin ich schon mit 17 Jahren eingetreten, eine Zeitlang war ich dann auch stellvertretende Juso-Bundesvorsitzende. Schon wegen dieser Zeit, und natürlich als Alumna, verfolge ich bis heute, was in der Böckler-Stiftung los ist. Sowohl Bettina Kohlrausch, die Wissenschaftliche Direktorin des WSI, als auch die neue Geschäftsführerin Claudia Bogedan kenne ich aus meiner Juso-Zeit!
Tanja Machalet holte als erste SPD-Direktkandidatin seit 1998 den Bundestagswahlkreis Montabaur. Die ehemalige Stipendiatin der Hans-Böckler-Stiftung studierte Volkswirtschaftslehre und saß zuvor im rheinland-pfälzischen Landtag.
Matthias Mieves (SPD) – Wahlkreis Kaiserslautern
„Eine besondere Aufgabe“
Bis es im Bundestag richtig losgeht, dauert es etwas. Es ist Anfang November, und ich bin erst auf meiner zweiten Berlin-Reise als Bundestagsabgeordneter, zur zweiten Sitzungswoche. Auch ein festes Büro gibt es noch nicht. Immerhin habe ich seit neuestem zwei Mitarbeiterinnen. Das ist bereits deswegen gut, weil ich schon in der Woche nach der Wahl, also noch im September, fast 600 Mails bekam, die meisten aus meinem Wahlkreis. Es ist schon eine besondere Aufgabe, die wir Bundestagsabgeordnete haben. Bewusst wurde mir das beim ersten Betreten des Plenarsaals fast körperlich: Ich konnte spüren, dass das nicht irgendein Job ist, dem ich nun nachgehe. Dass in der Fraktionssitzung in der Woche die Ortskräfte in Afghanistan Thema waren, passte dazu nur zu gut.
Mein politisches Engagement begann an der Basis mit einem Problem, das mich selbst betraf, ganz klassisch. In unserer 8 000-Einwohner-Gemeinde sollte das marode Schwimmbad geschlossen werden. Also habe ich mit einigen anderen 5 000 Unterschriften gesammelt. Wir haben so lange Rabatz gemacht, bis es vom Land Zuschüsse zur Sanierung gab. Ich trat in die SPD ein, und wurde mit 18 Jahren Kreistagsabgeordneter, als mit Abstand Jüngster. Nach zehn Jahren politischer Pause wurde ich dann gebeten, als Direktkandidat anzutreten, und in einem basisdemokratischen Prozess nominiert.
Als Digitalexperte möchte ich vom Breitbandausbau bis zur Mobilfunkabdeckung die Infrastruktur voranbringen, vor allem in ländlichen Regionen. Ich sehe es auch als meine Aufgabe, die in meiner Region starke Automobil- und Zulieferindustrie auf ihrem Weg in eine nachhaltige Zukunft zu begleiten. „Fairer Wandel“ – so lautet ja ein Slogan der IG Metall, die mich letzte Woche bereits einlud. Ich finde, sie ist da auf dem richtigen Weg.
Matthias Mieves (SPD) zog als Direktkandidat im Wahlkreis Kaiserslautern in den Bundestag ein. Die Hans-Böckler-Stiftung förderte sein Diplom-Studium in Betriebswirtschaftslehre mit interkultureller Qualifikation/Anglistik in Mannheim, Sydney und Lima. Vor seiner Bundestagskandidatur leitete er das Innovations-Programm der Deutschen Telekom.
Sara Nanni (Grüne) – NRW-Landesliste
„Betroffene im Blick halten“
Der Bundestag ist mein erstes Parlament. Zuvor war ich Sprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Frieden und Internationales von Bündnis 90/Die Grünen, und hatte auch beruflich eher mit Themen zu tun, die in Kommunen und Ländern oft keine Rolle spielen. Als BAG-Sprecherin war mir immer wichtig, mit allen Flügeln und Akteuren auch außerhalb der Partei im Kontakt zu sein.
Denn meines Erachtens fehlt der deutschen Außenpolitik vor allem die Aufmerksamkeit für konkrete Probleme. Wer immer wieder dabei anfängt, ob es die Bundeswehr geben sollte, kommt kaum dazu, sich konkret zum Beispiel mit der Lage in Afghanistan und dem Einsatz dort zu befassen. Und viele Menschen haben kaum Berührungspunkte zur Bundeswehr, kennen diese nur aus Erzählungen. Mir ist die Verbindung in die vielfältigen Lebenswelten unserer Gesellschaft wichtig. Und wenn du als Abgeordnete ehemalige Soldaten in der Familie hast, entscheidest du anders über Militäreinsätze. Überhaupt, wenn wir Politik gestalten, müssen wir immer die Betroffenen im Blick halten. Daran dachte ich auch, als ich das erste Mal durch die Bundestagsgänge lief, wo sich fast jede Tür automatisch öffnet. Man muss aufpassen, nicht die Bodenhaftung zu verlieren.
Einerseits möchte ich mich als Parlamentarierin für eine europäische Außenpolitik einsetzen, die von unten wächst, unter Beteiligung der nationalen Parlamente. Andererseits will ich den Kontakt zu vielen verschiedenen Menschen und gesellschaftlichen Gruppen wahren.
Auch durch die Böckler-Aktion Bildung (BAB) kam ich in Kontakt mit Menschen, die ich sonst im Studium nicht um mich hatte. Nach meinem Eindruck war das Stipendium für uns alle nicht nur eine finanzielle Hilfe. Es hat uns auch persönlich gestärkt.
Sara Nanni (Grüne) zog über die NRW-Landesliste in den Bundestag ein. Die BAB-Stipendiatin absolvierte einen Bachelor in deutsch–französischen Sozialwissenschaften und einen Master in Internationale Studien/Friedens- und Konfliktforschung.
Helmut Kleebank (SPD), Wahlkreis Berlin-Spandau
„Wir haben eine Jahrtausendaufgabe“
Die ersten Sitzungswochen sind vollbracht, mit all den Herausforderungen einer neuen Wahlperiode, einer neuen Fraktion. Alles muss neu organisiert werden. Doch nach zehn Jahren als Bezirksbürgermeister habe ich Stehvermögen. Viele Menschen machen sich kaum klar, was für eine 24/7-Tätigkeit das ist. In Berlin-Spandau leben fast 250.000 Menschen. Im Prinzip ist das eine Stadt.
Vor rund einem Jahr fragte ich mich: Du bist bald 57, machst du weiter, bis du 62, oder 67 Jahre alt bist? Auch wenn ich nicht aus der kommunalen Verantwortung fliehen wollte, hat mich der Weg von der Exekutive ins Parlament dann sehr gereizt. Die Gesetzentwürfe der Regierung werden im Bundestag häufig noch einmal deutlich verändert. Für die Menschen in Deutschland ist das von großer Bedeutung.
Seit dieser Woche bin ich Mitglied in den Ausschüssen, die ich mir gewünscht hatte, für Klimaschutz und Energie und für Umwelt, Naturschutz, Reaktorsicherheit und Verbraucherschutz. Mit je zehn Abgeordneten sind wir von der SPD vertreten. Die Arbeit teilen wir so auf, dass jeder Teilbereich einen Berichterstatter bekommt. Wir haben eine Jahrtausendaufgabe: Die Dekarbonisierung der Gesellschaft so hinzubekommen, dass sich alle mitgenommen fühlen – und das Leben bezahlbar bleibt. Bereits darüber, wie ein einzelner Landwirt seinen Hof gut neu aufstellen kann, könnte man stundenlang reden. Zugleich läuft uns die Zeit weg.
Bei der Böckler-Stiftung habe ich mich beworben, als es mit der Selbstfinanzierung meines Mathe- und Physikstudiums eng wurde: Auf einer halben Stelle ging ich nebenbei meinem ersten Beruf als Krankenpfleger nach. Dann wurde ich mehrmals Vater, zeitlich war das kaum mehr unter einen Hut zu bringen. Als Mitglied der damaligen ÖTV lag eine Bewerbung nahe. Außerdem war ich gewerkschaftlich aktiv: Ich war Gitarrist und Sänger einer Band aus jungen Gewerkschaftern, am 1. Mai und auf Demonstrationen haben wir gespielt. Einen Bandnamen hatten wir auch: Das Gelbe vom Ei.
Für die SPD setzte sich Helmut Kleebank als Direktkandidat in dem Berliner Wahlkreis Spandau – Charlottenburg-Nord durch. Er studierte Mathematik und Physik auf Lehramt an der TU Berlin, war Lehrer und Schulleiter, dann von 2011 bis 2021 Bezirksbürgermeister von Berlin-Spandau.