zurück
Magazin Mitbestimmung

Branchenreport: Nah an den Stahlkochern

Ausgabe 11/2012

Die Stahlbranche ist hochinnovativ und produktiv: Nur so kann sie ihrer Schlüsselrolle weiter gerecht werden. Von Dirk Schäfer

Er spricht von Mangan- und Kohlenstoffatomen, beschreibt neuartige Wärmebehandlungen, schwärmt von optimierter Verformbarkeit – hört man Götz Heßling zu, öffnet sich ein kleines Paralleluniversum. „Um dem Stahl neue Eigenschaften zu geben, dringen wir heute ins Subatomare vor“, sagt der Akademische Direktor des Instituts für Eisenhüttenkunde (IEH) der RWTH Aachen. Lange galt Forschern die Entwicklung von Stahl als ausgereizt. Seit einer Weile jedoch geben Wissenschaftler wie Götz Heßling Impulse für neue Stahlsorten, die noch härter und zugleich besser formbar und noch dazu leichter sind.

Auch die IG Metall und deren Betriebsräte machen sich verstärkt Gedanken um die Zukunft des Stahls. Seit Jahren ist der Markt geprägt von enormen Überkapazitäten. Man kämpft gegen den Preisverfall bei den Produkten und gegen die steigenden Rohstoffpreise. Was immer wieder zu der Frage führt, wie sich die Stahlkocher in Deutschland behaupten können. Die Antwort sind Innovationen, hohe Qualität und hochproduktive Belegschaften. Und ein Verbund: „Stahl war, ist und bleibt eine Schlüsselbranche des Industriestandortes Deutschland“, sagt Detlef Wetzel, Zweiter Vorsitzender der IG Metall, auf der Stahlkonferenz, bei der die Gewerkschaft einmal im Jahr ihre Betriebsräte zum Branchendialog lädt – diesmal Ende September im westfälischen Hamm.

Ob Fahrzeughersteller, Maschinenbauer, Bauindustrie oder Metallbauer: „Mehr als ein Drittel der industriellen Wertschöpfung Deutschlands ist an den Stahl gekoppelt“, so Wetzel. Mitsamt Abnehmerbranchen und zahlreichen Forschungseinrichtungen ist die einstige Vorleistungsindustrie Stahl heute Teil eines eng miteinander verflochtenen Produktions- und Innovationsclusters, stellt das Rheinisch Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) fest. Das wirke sich positiv auf die gesamte Wirtschaft aus: Innovationskraft, Produktqualität und technologische Standards in der Stahlindustrie und den Abnehmerbranchen sind hoch. Und: Ohne die Nähe zu den Stahlkochern wäre der Erfolg der deutschen Vorzeigeindustrien Fahrzeug- und Maschinenbau nicht denkbar – und andersherum.

GLOBAL AUFGESTELLT

Blickt man in die Liste der größten Stahlproduzenten in der Republik, folgt hinter ThyssenKrupp und Salzgitter der weltgrößte Stahlproduzent ArcelorMittal. Der luxemburgische Stahlgigant betreibt in Deutschland vier Werke. Insgesamt stammt knapp ein Viertel des in Deutschland produzierten Stahls aus Hütten, die Besitzern aus dem Ausland gehören. An den engen Banden hat das indes kaum etwas geändert. An der Sprachregelung schon: Die Wirtschaftsvereinigung Stahl (WV Stahl) spricht nicht mehr von der „deutschen Stahlindustrie“, sondern von der „Stahlindustrie in Deutschland“. Zudem gehören zum Stahl-Cluster nicht nur Abnehmer in Deutschland. Ein Drittel der Produktion geht ins Ausland, vornehmlich in EU-Länder.

Die Verflechtungen, deren Ergebnis oft hochwertige und speziell auf die Wünsche der Abnehmer abgestellte Produkte sind, halten auch aktuell die Öfen auf Temperatur. Obwohl zwei der Hauptexportmärkte für Stahl aus Deutschland, Spanien und Italien, eingebrochen sind, sind die Produkte international gefragt. Im Schnitt sind die Stahlwerke in Deutschland derzeit zu 85 Prozent ausgelastet, weltweit liegt die Quote bei 75 Prozent. In China, das inzwischen knapp die Hälfte des Weltmarkts ausmacht, arbeiten die Stahlwerke gar nur mit halber Kraft, so Zahlen der WV Stahl.

Trotzdem muss die Stahlbranche in Deutschland in diesem Jahr und vermutlich auch im nächsten Rücksetzer verkraften. Von einer tief greifenden Krise will die IG Metall aber nicht sprechen. „Je nach Segment leiden im Moment einige“, sagt Bernd Lauenroth, Gewerkschaftssekretär im Zweigbüro des Vorstandes der IG Metall in Düsseldorf, „bei anderen dagegen ist die Geschäftslage zurzeit noch auskömmlich.“ Absehbar werde sich der Knick begradigen. Für Europa wird zumindest kein Minus erwartet.
Global dürfte der Stahlmarkt bis zum Ende der Dekade um jährlich drei Prozent zulegen und das auf hohem Niveau, prognostiziert die WV Stahl. Ihr zufolge wird in diesem Jahr der Ausstoß der weltweiten Hütten rund 1,45 Milliarden Tonnen erreichen, im Jahr 2020 sollen es 2,3 Milliarden Tonnen sein. Weil Peking auf die Wachstumsbremse tritt, wird nicht mehr China der größte Treiber sein. Stattdessen werden Indien und andere Schwellenländer in den Fokus rücken. Unternehmen, die nicht schon in den Wachstumsländern präsent sind, dürften es schwer haben. Denn nach einer Phase der globalen Expansion bilden die Produzenten in Asien mit den Abnehmern zunehmend regionale Cluster. Deutsche Anbieter, die nur in geringem Maß in Länder außerhalb Europas exportieren, könnten ihre Position höchstens halten, meint die WV Stahl.

DER ÖKOLOGISCHE RUCKSACK WIEGT SCHWER

Auch um die engen Bande des Stahl-Clusters zu festigen und auszubauen, fordert die IG Metall seit Längerem eine „Nationale Plattform Energiewende“. Ausgerechnet in diesem Bereich, den Stahlkocher eher missmutig beäugen, offenbaren sich neue Chancen. Windkraftanlagen und neue, effizientere Kohle- und Gaskraftwerke benötigen immense Mengen an Stahl, und auch effiziente Motoren von E-Autos kommen nicht ohne speziellen Stahl aus. Weil solche Produkte während ihrer Lebenszeit Energie und CO² einsparen, reduzieren sie zugleich den ökologischen Rucksack des Stahls.

Den Energieverbrauch sucht die Branche auch selbst weiter zu reduzieren. So haben die Hersteller mit neuen Verfahren den Stromverbrauch pro Tonne Stahl bis heute nahezu halbiert und den CO²-Ausstoß um mehr als 40 Prozent verringert. Doch nach wie vor benötigen Stahlwerke beträchliche Mengen an Strom und Brennstoffen, weshalb steigende Energiepreise und der Emissionsrechtehandel immer wieder zu Standortdiskussionen führen. „Energieeffizienz ist inzwischen eine feste Kategorie. Da sind noch Quantensprünge möglich“, sagt IG-Metall-Vize Wetzel. Zugleich könnte die Branche mit energieeffizienten und klimafreundlichen Verfahren nicht nur im eigenen Land, sondern weltweit punkten. Gerade auch in Schwellen- und Entwicklungsländern sind effiziente Anlagen zur Stahlherstellung gefragt, so die Studie „Zukunftsmarkt Energieeffiziente Stahlherstellung“ des Fraunhofer Instituts für System- und Innovationsforschung.

Der Produktions- und Innovationscluster „Stahl Deutschland“ hilft auch hier. Die Forscher des Aachener IEH arbeiten daran, bei bestimmten Stahlprodukten nachträgliche Wärmebehandlungen überflüssig zu machen. „Da ist erhebliches Potenzial“, befindet Götz Heßling.

Der Beitrag wurde zu Ihrerm Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen