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Magazin Mitbestimmung

: Nachbessern, wo es geht!

Ausgabe 01+02/2008

RENTENPOLITIK Die Rente mit 67 steht. Die Gewerkschaften kämpfen nun um Ausnahmen für den flexiblen Berufsausstieg und drängen auf Arbeitsbedingungen, unter denen Beschäftigte länger durchhalten können.

Von HENDRIK ANKENBRAND. Der Autor arbeitet als freier Journalist in Köln.


Früher frei..." - so schlicht wirbt die Fondsgesellschaft DWS in ihren Anzeigen. Der Slogan soll deutschen Unternehmen ein Vergütungsmodell schmackhaft machen, das nicht nur Personalchefs interessiert, sondern derzeit auch unter Gewerkschaftsführern hoch gehandelt wird - als künftiger Baustein im System der deutschen Altersvorsorge. Der Name: Zeitwertkonten. Wie auf ein Sparbuch kann der Arbeitnehmer auf ein persönliches Konto Teile seines monatlichen Entgelts, Weihnachtsgeld, vergütete Überstunden und Urlaubstage. Die Beträge werden in einem Fonds angelegt und verzinst. Will der Kontoinhaber bereits vor dem gesetzlichen Rentenalter aufhören zu arbeiten, stellt ihn das Unternehmen frei.

Bei seinem Arbeitgeber ist er weiterhin sozialversicherungspflichtig beschäftigt und erhält monatliche Bezüge von seinem Wertguthaben. Zeitwertkonten sind besonders bei großen Banken und Versicherungen im Dienstleistungssektor verbreitet, auch in der Chemiebranche haben sie längst Einzug in die Tarifverträge gefunden. Wenn sich der IG-BCE-Vorsitzende Hubertus Schmoldt in jüngster Zeit zu der Frage äußert, wie künftig Menschen früher als vor dem gesetzlichen Rentenalter aus dem Berufsleben ausscheiden können, fällt der Begriff "Zeitwertkonto" stets ebenso wie "Teilrente" und "Nachfolgeregelung" für die Altersteilzeit. Es sind Stichwörter, die aus der Not geboren sind.

Die Gewerkschaften reagieren auf eine politische Entscheidung, von der nur wenige gedacht hatten, dass sie schon im Februar 2007 Wirklichkeit werden würde: Das Vorhaben, wegen der demografischen Entwicklung die Menschen künftig zwei Jahre länger arbeiten zu lassen, ist nun Gesetz - verantwortet von der Großen Koalition. Auch die Gewerkschaften glauben wohl nicht mehr, dass irgendjemand diese Säule wieder umstürzen könnte. Aber daran feilen, das geht durchaus: Ausnahmen und Differenzierungen durchsetzen, tarifpolitische Modelle für einen flexiblen Ausstieg aus dem Erwerbsleben aushandeln - nachbessern, wo es geht, das scheint das Gebot der Stunde zu sein.

Damit verbindet sich die Hoffnung, im Detail doch noch bessere Lösungen auszuhandeln oder die Lasten des demografischen Wandels sozial gerechter zu verteilen. So muss man wohl Äußerungen von Schmoldt oder vom IG-Metall-Vorsitzenden Berthold Huber verstehen, über die Rente mit 67 sei das letzte Wort noch nicht gesprochen. Ein flexibler Altersübergang gehört deshalb zur aktuellen Agenda der Gewerkschaften. Nicht, dass es zuvor keinen Widerstand gegeben hätte. Eine "sozialpolitische Sackgasse" nannte der DGB die Pläne des damaligen Bundesarbeitsministers Franz Müntefering (SPD), die neue Altersgrenze durch Kabinett und Bundestag zu peitschen.

IG-Metall-Chef Berthold Huber bezeichnete das neue Gesetz als "Schlag ins Gesicht" derjenigen, "die oft seit Jahrzehnten in Betrieben Tag für Tag Knochenarbeit leisten". Ein Jahr wurde heftig diskutiert, genützt hat es nichts. Das Gesetz regelt, dass von 2012 an die gesetzliche Altersgrenze für den Rentenbeginn schrittweise bis 2029 von 65 auf 67 Jahre ansteigt. Arbeitnehmer, die 1947 geboren sind, können im Jahr 2012 erst einen Monat nach dem 65. Geburtstag ohne Abschläge in Rente gehen. Ab dem Jahrgang 1948 steigt die Altersgrenze in den Jahren bis 2023 für jeden neuen Rentnerjahrgang um jeweils einen Monat.

Von 2024 an geht die Verlängerung der Lebensarbeitszeit dann in Zwei-Monats-Schritten voran. 2029 - also für Arbeitnehmer des Geburtsjahrgangs 1964 - gilt dann erstmals die neue Altersgrenze von 67 Jahren. Auch die übrigen Rentenarten sind betroffen. Schwerbehinderte können künftig erst ab 65 statt ab 63 Jahren eine abschlagsfreie Altersrente beziehen, mit Abschlägen erst ab 62 statt wie bisher ab 60 Jahren. Schwerarbeitern wie Bergleuten wird nun erst ab einem Eintrittsalter von 64 Jahren nichts von der Rente abgezogen statt wie bislang ab 62. Die Altersgrenze für die "große Witwenrente" steigt von 45 auf 47 Jahre.

STREIT UM DIE LEBENSARBEITSZEIT_ Nur den, der bereits besonders lang versichert ist, trifft die Rente mit 67 nicht: Arbeitnehmer, die mehr als 45 Beitragsjahre vorweisen können, dürfen auch in Zukunft ohne finanzielle Einbußen mit 65 Jahren in Rente gehen - derzeit sind das nach Auskunft der Rentenversicherer 27 Prozent der Männer und vier Prozent der Frauen.
Das sind die Fakten - und seitdem sie existieren, gibt es mächtig Streit. Die Regierung führt ihrerseits ins Feld: Wieso soll man unter enormen Kosten Menschen gut ausbilden und diese dann mit 55 Jahren in den Vorruhestand oder die Langzeitarbeitslosigkeit entlassen?

Zudem steigt mit der Lebenserwartung auch die Rentenbezugszeit - und belastet die Rentenkassen. Allerdings haben ältere Arbeitnehmer schon heute trotz der guten Konjunktur kaum noch Chancen, einen neuen Job zu finden. In der Anhebung der Altersgrenze können viele daher nichts anderes als eine Rentenkürzung sehen, die ältere Arbeitslose zwingt, bis zur Rente noch länger von Hartz IV oder den eigenen Ersparnissen zu leben. Stimmt nicht, sagen die Renten-Experten der Koalition, wer heute zur älteren Generation gehöre, sei ja von der Regelung gar nicht oder nur gering betroffen. Und dass es angesichts der zukünftigen demografischen Entwicklung künftig mehr Ältere am Arbeitsmarkt geben müsse, sei doch wohl Konsens.

Tatsächlich wird die Zahl der 55- bis 64-Jährigen in Deutschland bis zum Jahr 2020 gegenüber dem Jahr 2002 um fast ein Drittel zunehmen, schätzt das Forschungsinstitut Prognos AG. Doch bislang sind nur 56 Prozent (West) und 45 Prozent (Ost) der Männer in dieser Altersgruppe erwerbstätig, bei den Frauen sind es gar nur 38 Prozent im Westen und 35 Prozent im Osten. Die Rente mit 67 soll auch den demografischen Rückgang des Arbeitskräftepotenzials verzögern. Damit aber tatsächlich mehr Ältere in den Arbeitsmarkt gelangen, muss sich deren Beschäftigungsfähigkeit erhöhen.

DIE POSITIONEN DER PARTEIEN_ Die Unionsparteien sehen vor allem die Arbeitnehmer in der Pflicht, die sich weiter qualifizieren und auf ihre Gesundheit achten sollen. Angesichts des Widerstands auch in den eigenen Reihen diskutiert die SPD hingegen ernsthaft über flexible und gleitende Übergänge vom Berufsleben in die Rente. "Ein Ventil" solle erarbeitet werden, "um das Ganze alltagstauglich zu machen", hatte SPD-Chef Kurt Beck noch kurz vor der Bundestagsabstimmung über die Rente mit 67 angekündigt und eine Arbeitsgruppe eingesetzt.

Diese forderte dann sechs Monate später in ihrem 38-seitigen Abschlussbericht einen leichteren Zugang zu Teilrenten und die Möglichkeit, durch frühzeitige Zusatzbeiträge spätere Abschläge beim vorzeitigen Ausscheiden zu verhindern. Beide Vorschläge würden die Rentenkassen nicht zusätzlich belasten - und fanden so auch die Unterstützung von Arbeitsminister Franz Müntefering.
Die Gewerkschaften hatten ihre Hoffnung jedoch in den ursprünglich dritten Vorschlag der SPD-Arbeitsgruppe gesetzt, der sich noch in einem Zwischenbericht vom September gefunden hatte: die massive Ausweitung der Erwerbsminderungsrente.

Diese sollte jeder Arbeitnehmer erhalten, der 60 Jahre alt ist oder 35 Jahre eingezahlt hat - und keine schweren Tätigkeiten mehr ausüben kann. Damit sei massenhafter Missbrauch programmiert, kritisierten prompt zahlreiche Rentenexperten. Müntefering war der Vorschlag vor allem zu teuer. Um den Arbeitsminister nach seiner Niederlage beim Streit um ein verlängertes Arbeitslosengeld I nicht weiter zu beschädigen, stoppte das SPD-Präsidium den Passus. So forderte Kurt Beck auf dem folgenden SPD-Parteitag zwar Sonderregelungen für belastende Berufe wie etwa Dachdecker.

Doch den erleichterten Zugang zur Erwerbsminderungsrente bedachten die Delegierten nach der Intervention der Parteispitze nur mit einem reichlich unkonkreten "Prüfauftrag". Als "eine herbe Enttäuschung" und "völlig unzureichend" kritisierte daraufhin der DGB das Manöver. Wer heute sechs Stunden am Tag arbeiten könne, gesundheitlich angeschlagen sei und keinen Job finde, bleibe auf der Strecke. Auch die Abschläge bei der Erwerbsminderungsrente von derzeit 10,8 Prozent seien völlig unangemessen, da sich die Betroffenen nicht aussuchen könnten, ob sie in Rente gingen.

HOHES FRÜHVERRENTUNGSRISIKO_ Am Grundproblem, dass künftig weit mehr ältere Beschäftigte länger arbeiten müssten, aber nur schwer einen Job finden, würden Ausnahmeregelungen freilich nichts ändern. Die Hoffnung, dass mit der Anhebung des Rentenalters auf 67 automatisch auch mehr Ältere im Arbeitsmarkt verbleiben, sei falsch, sagt Andreas Ebert vom Internationalen Institut für Empirische Sozialökonomie (INIFES). Denn seit einigen Jahren fallen der Berufsaustritt und der Renteneintritt zeitlich immer stärker auseinander.

Besonders Berufe mit starken körperlichen Belastungen oder mit viel Lärm und hohem Zeitdruck tragen ein "deutlich höheres Frühverrentungsrisiko". In der Wissenschaft gelten Statistiken über den Anteil der Erwerbsminderungsrenten an den neuen Versichertenrenten als guter Indikator dafür, wie stark die Belastungen sind, denen eine Berufsgruppe ausgesetzt ist - so sind Erwerbstätige aus Bauberufen oder auch aus dem Gesundheitsdienst erheblich stärker gefährdet als Kaufleute oder Ingenieure.

Nur etwa jeder zehnte Beschäftigte arbeitet unter guten Arbeitsbedingungen, die eine Weiterarbeit bis zum 67. Lebensjahr ermöglichen würden. Doch nicht nur zwischen den einzelnen Berufsgruppen gibt es erhebliche Unterschiede, was den Übergang in den Ruhestand in Deutschland angeht. Dieser sei auch durch "extreme regionale Unterschiede" gekennzeichnet, sagt Ernst Kistler vom INIFES. Dessen Forscher haben zum ersten Mal für alle Landkreise und Städte Deutschlands das Rentenzugangsalter ermittelt. Das Ergebnis: In manchen Kreisen gehen die Versicherten im Schnitt bis zu vier Jahre früher in den Ruhestand als andernorts.

Wollen Regierung und Gewerkschaften das Ziel erreichen, künftig mehr Ältere in Arbeit zu bringen, um so die volkswirtschaftliche Verschwendung zu reduzieren, die Rentenkasse zu schonen und auf den ab 2030 zu erwartenden Arbeitskräftemangel zu reagieren, muss eine Doppelstrategie her: Neben den Ausnahmeregelungen für physisch und psychisch belastende Berufe müssen sich die Arbeitsbedingungen verbessern - die der heute Älteren ebenso wie die der künftigen Rentnergenerationen. Die Wissenschaft hat dafür die Begriffe "altersgerechtes" sowie "alternsgerechtes Arbeiten" erfunden.

Die entscheidende Frage sei, wie es um die Arbeitsfähigkeit nicht nur der heute Älteren, sondern auch derjenigen bestellt sei, die zur Generation der Babyboomer gehören und erst in 15 Jahren zu den älteren Erwerbspersonen gehören, sagt Ernst Kistler. Angesichts der Tatsache, dass das Angebot an Arbeitskräften insbesondere in den oberen Altersgruppen massiv steigen werde, müssten die Betriebe weitaus stärker als bisher die Kompetenz, die Gesundheit und Motivation ihrer Mitarbeiter in den Blick nehmen. Es sei jedoch durch zahlreiche Studien belegt, dass sich in der jüngeren Vergangenheit die Arbeitsbedingungen nicht verbessert hätten.

So haben die körperlichen Belastungen in vielen Berufen zugenommen, und durch den zunehmenden Zeitdruck im Arbeitsalltag stiegen auch die psychischen Anforderungen. Nicht zuletzt trägt auch die steigende Angst um den Arbeitsplatz dazu bei, dass nach dem Gute-Arbeit-Index des DGB aus dem vergangenen Jahr jeder dritte Beschäftigte glaubt, nicht bis zum Rentenalter durchhalten zu können - drei Jahre zuvor glaubte das nach einer Erhebung des INQA noch nicht mal jeder vierte. Der Beschluss der Rente mit 67 hat zu den düsteren Zukunftserwartungen sicher mit beigetragen, meint auch Kistler - er fordert weitere Anstrengungen für eine humanere Arbeitswelt: "Die Gewerkschaften müssen in dieser Richtung noch mehr Druck machen."

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