Quelle: HBS
Magazin Mitbestimmung: Montage auf dem Tanzboden
FABRIKORGANISATION Der bayerische Autobauer BMW bereitet sich auf die Überalterung seiner Fachkräfte vor. Im Komponentenwerk Dingolfing geht jetzt eine Fertigungsanlage ans Band, die komplett nach ergonomischen Kriterien gebaut wurde.
Von MICHAELA NAMUTH, Journalistin in Rom/Foto: Sigrid Reinichs
Als Ludwig Lang in die BMW-Montage kam, musste er das Achsgetriebe noch selbst in die Hand nehmen. Heute bleibt das schwergewichtige Fahrzeugteil auf dem Band. Auch den automatisierten Druckschreiber, mit dem er heute arbeitet, gab es noch nicht. „Mir ham die Nummern noch mit dem Hammer eini ghaut“, erklärt der 58-Jährige in bestem Niederbayerisch. Er arbeitet seit 40 Jahren im Werk Dingolfing. Der Ort hat 18 000 Einwohner, das BMW-Werk inzwischen genauso viele Beschäftigte. Die Niederlassung beliefert alle BMW-Standorte weltweit mit Werkzeugen, Anlagen und Fahrwerkskomponenten. Langs Arbeitsplatz hat sich ständig verändert. Aber erst in den letzten Jahren konnten er und seine Kollegen in der Achsgetriebemontage direkt mitentscheiden, was sie bei der Arbeit entlasten würde. Deshalb hat Lang unter den Arbeitsschuhen jetzt einen Tanzboden, und hinter ihm steht ein Friseurstuhl. Der glatte Laminatboden erlaubt ihm und seinen Kollegen, dass sie sich leichter und schneller drehen können. Das schont die Gelenke. Auf den hohen Stuhl kann er sich im Stehen abstützen oder hinsetzen. Das Übungsmodell wurde aus einem Friseursalon ausgeliehen und den Bedürfnissen der Montagearbeiter angepasst. Heute wird der Stuhl eigens für sie gefertigt.
Tanzboden und Friseurstuhl sind Ergebnisse des Demografie-Projekts „Heute für morgen“, mit dem der BMW-Konzern 2004 gestartet ist und das inzwischen auf alle deutschen Werke ausgedehnt wurde. Bis jetzt hatte es einzelne ergonomische Verbesserungen an bestehenden Fertigungsanlagen gegeben. Jetzt geht in Dingolfing eine ganz neue, 20 Millionen Euro teure Montagelinie in Produktion. Es ist die erste von Grund auf „alternsgerecht“ gestaltete Komponentenfertigung, an der 200 Menschen täglich 4000 Achsgetriebe fertigen werden. Was der Buchstabe „n“ in dem Neuwort bedeutet, erklärt Stephan Huber. Er ist Ingenieur und Abteilungsleiter der Produktion Achsgetriebe und war bei der Entwicklung der neuen Fertigungsanlage von Anfang an dabei. „Alternsgerecht heißt, dass ältere Mitarbeiter genauso produktiv sind wie jüngere, wenn ihre Arbeitsplätze dementsprechend gestaltet werden. Es heißt aber auch, dass jüngere Mitarbeiter, die an ergonomisch konzipierten Anlagen arbeiten, nicht aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig ausscheiden müssen“, so Huber.
DIE ENTDECKUNG DER ÄLTEREN_ Mit dem Demografie-Projekt hat BMW frühzeitig auf eine Entwicklung reagiert, die die Wirtschaft umtreibt. Das Durchschnittsalter der Bevölkerung wird steigen. Demografen prognostizieren, dass schon 2015 in vielen deutschen Unternehmen der Anteil von Mitarbeitern über 50 mehr als die Hälfte der Belegschaft ausmachen wird. Junge Fachkräfte hingegen wachsen wenige nach. Die Unternehmen sorgen sich, dass sie künftig einer kostspieligen Konkurrenz um qualifizierte Mitarbeiter ausgesetzt sind. Zudem setzt sich im Arbeitgeberlager die Erkenntnis durch, dass sie den Kündigungsschutz in nächster Zukunft nicht aufweichen können, und bei den Arbeitnehmern die Gewissheit, dass sie wohl immer später in Rente gehen werden. Auch gibt es in den Unternehmen immer weniger Jobs für Ältere. Der ruhige Posten an der Pforte ist dem Outsourcing zum Opfer gefallen. Für die neuen Bürotätigkeiten reicht die Qualifizierung nicht mehr aus.
All dies zwingt die Strategen in den Chefetagen zum Umdenken. Die Annahme, dass ältere Arbeitnehmer weniger produktiv sind als jüngere, kommt jetzt als ausgedientes Vorurteil in die Ablage der Industriegeschichte. Das freut die Betriebsräte. „Keiner glaubt mehr ernsthaft, dass man einen erfahrenen alten Hasen kündigen sollte. Es merken jetzt alle, dass sie in die Zukunft investieren müssen“, sagt Erwin Gegenfurtner, stellvertretender Betriebsratsvorsitzender im BMW-Werk Dingolfing. Die Pilotprojekte wurden von Anfang an mit dem Betriebsrat abgesprochen. Spezielle Betriebsverein¬barungen gibt es nicht. „Das war nicht nötig, denn die Maßnahmen enthalten keine neuen oder problematischen Elemente der Arbeitsorganisation oder der Arbeitsplatzgestaltung“, so Gegenfurtner. Neu ist für ihn etwas anderes. „Ich habe den Eindruck, dass es das Unternehmen mit der Integration von Älteren und Mitarbeitern mit körperlichen Problemen diesmal wirklich ernst meint“, sagt er.
BMW und andere Unternehmen orientieren sich an den Ergebnissen neuer Demografie-Studien. Dazu gehört auch eine Untersuchung der Ökonomen Axel Börsch-Supan und Matthias Weiss des Mannheim Research Institute for the Economics of Aging (MEA). Die Autoren kommen zu dem Resultat, dass ältere Arbeitnehmer besser mit Stress umgehen können, weniger grobe Fehler machen und besser improvisieren können als jüngere. Die Studie wurde im Wörther Lkw-Werk von Mercedes-Benz durchgeführt und unter anderem von der Hans-Böckler-Stiftung gefördert. Andere Forschungsarbeiten verweisen darauf, dass ältere Arbeitnehmer über mehr Erfahrung, ein stärkeres ganzheitliches Verständnis für ihre Arbeit und eine größere Loyalität für ihren Betrieb verfügen. Der Rat der Forscher an die Manager: Wer seine Mitarbeiter pflegt, kann ihre Produktivität erhalten.
SIMULATION DER ZUKUNFT_ Begonnen hat das Zukunftsprojekt bei BMW mit den Prognosen der Demografen. Danach wird der Altersdurchschnitt der Belegschaft im Jahr 2017 von 39 auf 47 Jahre gestiegen sein. Im Werk 2.1., an einem Band der Hinterachsgetriebemontage, wurde diese Altersstruktur in einer Arbeitsgruppe simuliert. Die Gruppe aus Montagearbeitern, Instandhaltern, Meistern und Logistikern aus den Abteilungen Planung, Einkauf und Arbeitssicherheit hat gemeinsam neue Arbeitsplätze gestaltet, die die körperliche und psychische Belastung erheblich verringern sollen. Johann Buch, der bei Weitem noch unter dem künftigen Durchschnittsalter liegt, war auch Mitglied dieser Gruppe. Er ist Meister und somit der wichtigste Schnittpunkt zwischen Produktion und Verwaltung. Buch zeigt auf eine seltsame Konstruktion aus Holz und Karton. „Dies ist das Ergebnis unserer gemeinsamen Arbeit und das Modell für die Konstruktion der neuen Fertigungsanlage“, erklärt er und nimmt einen Meterstab in die Hand, der im unteren und im oberen Bereich rot markiert ist. „Wir haben Handgriffe und Bewegungen gemessen, die die Kolleginnen und Kollegen tausendmal am Tag machen“, so Buch. Wenn diese im roten Bereich lagen, verursachten sie Schmerzen im Rücken oder in Schultern und Armen und wurden so weit wie möglich verändert. An einem der nagelneuen Arbeitsplätze wird der Radsatz mit Getriebeausgleichsscheiben eingestellt. Für die Ablage der Scheiben muss sich jetzt niemand mehr bücken. Die Regale mit den verschiedenen Scheiben sind um den Arbeiter herum angeordnet. Früher standen sie weiter weg an der Wand.
Neben den Arbeitsplätzen hat sich auch die Arbeitsorganisation verändert. Diese Maßnahmen sollen vor allem die psychische Belastung der Montagearbeit abfedern. Um diesen Aspekt hat sich der Werksarzt Peter Lang gekümmert, der für die medizinisch-psychologische Betreuung der Gruppe zuständig war. „Das Experiment hat gezeigt, wie hoch die psychische Belastung vor allem für ältere Bandarbeiter ist“, erzählt er. Sie seien „maximal unfrei“, denn eine Verzögerung im Montagetakt kann nicht mehr aufgeholt werden. Wenn einer murkst, müssen die anderen am Samstag nacharbeiten. „Das schafft Stress“, sagt Lang. Die Erfahrung der Gruppe war aber, dass Mitarbeiter, die weniger Stress und mehr Wertschätzung durch Kollegen und Vorgesetzte haben, produktiver sind. Deshalb gibt es in der neuen Werkshalle, aber auch bereits in anderen Abteilungen eine Rotation zwischen den Arbeitsplätzen. Jeder soll mehr als eine Tätigkeit beherrschen, um für die Kollegen einspringen zu können. Flexibilität wird immer stärker von den Beschäftigten gefordert. Denn das Demografie-Projekt sichert zwar langfristig ihren Arbeitsplatz, verlangt aber auch die Bereitschaft zum ständigen Dazu- und Umlernen. Viele Elemente erinnern an die alte Idee der Gruppenarbeit. Neu ist der ganzheitliche Ansatz und die Tatsache, dass das Unternehmen seine Beschäftigten zur Beteiligung auffordert – und nicht umgekehrt.
Beteiligung ist auch bei dem begleitenden Gesundheits- und Präventionsprogramm gefragt. BMW investiert in die Gesundheit seiner Beschäftigten und erwartet, dass sie auch selbst etwas dazu beitragen. Die Beschäftigten dazu anzuhalten ist die Aufgabe der Physiotherapeutin Daniela Arndt. Sie macht mit der Truppe aus der neuen Achsgetriebemontage Streck- und Fitnessübungen. An jedem Arbeitsplatz hängen Schilder mit der passenden Gymnastik. Der Erfolg ist allerdings noch nicht durchschlagend. „Wer Probleme hat und spürt, dass ihm die Übungen guttun, macht weiter. Aber vor allem von den Jüngeren glauben noch viele, dass sie das nicht brauchen“, erzählt sie. Ähnlich zäh gestaltet sich auch die Erziehung zur gesunden Ernährung. Zwar ist der Salat in der Betriebskantine mit einem grünen und der Leberkäs mit einem alarmierend roten Punkt gekennzeichnet. Doch einen bayerischen Montagearbeiter davon zu überzeugen, lieber Gras statt Fleisch zu essen, dürfte ein sehr langfristig angelegtes Projekt sein.
PROBLEMZONE AUTOMONTAGE_ Die Frage, ob die Demografie-Strategie bei BMW funktioniert oder nicht, hängt aber bestimmt nicht am Leberkäs. „Man muss jetzt sehen, ob das alles flächen¬deckend und nicht nur in der Vorfertigung funktioniert“, so Horst Lischka, Erster Bevollmächtigter der IG Metall München, der die Initiative alles in allem begrüßenswert findet. Für ihn ist der Praxistest aber „der schnelle Taktbereich der Automontage, wo die meisten BMW-Arbeiter beschäftigt sind“. Der BMW-Vorstand wiederum versichert, dass bis Ende dieses Jahres in Deutschland über 100 Fertigungsbereiche mit rund 4000 Mitarbeitern einbezogen sein sollen.
In Dingolfing experimentiert man seit 2009 mit der altersgerechten Automontage. In der Kabelbaum- und Schwenkmontage der Halle TD 44 arbeiten rund 400 Männer am Band. „Viele sind über 40 oder Leistungswandler“, erklärt Abteilungschef Wolfgang Kulzer. „Leistungswandler“ heißen im neuen BMW-Jargon alle, die nicht mehr in den besten Mannesjahren stehen oder in irgendeiner Form körperlich eingeschränkt sind. Das Wort „Wandel“ soll signalisieren, dass man auf die Leistung dieser Beschäftigten nicht verzichten, sondern sie anders nutzen möchte. In Kulzers Abteilung werden die 5er-, 6er- und 7er-Modelle gebaut: 260 unterschiedlich ausgestattete Autos pro Schicht. Die in der Achsgetriebemontage umgesetzten ergonomischen und organisatorischen Prinzipien wendet man hier auf ein bereits bestehendes System an. Die Karosserien werden zum einen mit einem Schwenkband transportiert, an dem der Autoboden seitlich und nicht mehr beschwerlich über dem Kopf montiert wird. Auf der anderen Seite rollt ein Schubplattenband, das je nach Arbeitsgang hoch- und runtergefahren wird.
Auch hier wird zwischen den Arbeitsplätzen rotiert. Da die Arbeitsvorgänge aber komplexer und die Mitarbeiterzahlen höher sind, muss das komplizierte Rotationssystem per Computer gesteuert werden. Meister Hans Trippl zeigt auf einen Bildschirm mit bunten Tabellen, die abwechselnd aufblinken. „Der Arbeitsplatzwechsel kommt bei 80 Prozent hier gut an. Ihre Arbeit ist interessanter geworden“, sagt er. Der Schwachpunkt des ausgeklügelten Systems ist aber auch hier das begleitende Gesundheits- und Fitnessprogramm. An allen Arbeitsplätzen sind Schilder mit Gymnastikübungen angebracht. Kaum ein Kollege möchte aber vor den anderen zeigen, was er bei der Physiotherapeutin im Stretching gelernt hat. Deshalb haben die Männer aus der Halle TD 44 jetzt einen kleinen, abgeschlossenen Übungsraum bekommen, wie er für alle Abteilungen vorgesehen ist, die an dem Programm teilnehmen. Dort gibt es Matten, einen Gymnastikball und Klettersprossen. Es riecht nach neuem Gummi. Meister Trippl probiert kurz die Ringe aus. Dann gibt er zu: „Do geh i net nei.“
Die Zukunftsstrategen bei BMW fürchten derzeit noch nicht, dass ihr Demografie-Projekt an den Turnübungen scheitert. Sie planen langfristig und gehen davon aus, dass es sieben Jahre dauert, bis sich ein neues Verhalten durchgesetzt hat. Dann haben die über 50-Jährigen schon die Mehrheit am Montageband.