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Magazin Mitbestimmung

: Modernes Arbeitsrecht für das Milliardenvolk

Ausgabe 07+08/2008

GLOBALISIERUNG Bewegung im Reich der Mitte: Mit einem Arbeitsvertragsgesetz will die Parteiführung Armut und Ausbeutung in den Griff bekommen. Arbeitsrechtler Professor Chang Kai informierte aus erster Hand bei einer Hans-Böckler-Tagung.

Von ANNETTE JENSEN, Journalistin in Berlin/Foto: Andrea Hold-Ferneck

Chinas Arbeiter haben erstmals das Recht auf einen schriftlichen Arbeitsvertrag. Auch Abfindungen und gleicher Lohn für Leiharbeit sind seit Anfang des Jahres gesetzlich verankert. Mit dem Arbeitsvertragsgesetz (siehe Seite 44) hat die chinesische Regierung auf die permanenten Streiks reagiert, mit denen sich vor allem Wanderarbeiter häufig mit drastischen Mitteln gegen katastrophale Arbeitsbedingungen gewehrt haben: Sie kletterten auf Hochhäuser und drohten, gemeinsam hinunterzuspringen, zerstörten Maschinen oder besetzten Amtsstuben. Die amtliche Nachrichtenagentur Xinhua hatte Ende 2006 solche Ausstände als "die größte Gefahr für die Stabilität des Landes" bezeichnet.

Viele ausländische Investoren, die China vor allem als billige Werkbank sehen, stehen dem neuen Arbeitsgesetz kritisch gegenüber. Bei einer Umfrage unter 400 US-Firmen erwartete etwa die Hälfte "negative bis sehr negative Auswirkungen" für ihr China-Engagement. Die US-amerikanische Handelskammer hatte, nachdem der Staatsrat den ersten noch deutlich weiter gehenden Entwurf veröffentlicht hatte, diesen als Rückkehr zur Planwirtschaft diffamiert und versucht, den Arbeitsrechtsentwurf abzumildern oder ganz zu verhindern. Ihr Argument war, er werde "Chaos in den Arbeitsmarkt" bringen.

Die Europäische Handelskammer gibt sich auf ihrer Homepage inzwischen äußerst zufrieden mit den neuen Regeln. Doch auch sie hatte gegen "zu arbeitnehmerfreundliche" Regelungen interveniert, für die laut Financial Times Deutschland das deutsche Recht Pate stand. Und hinter vorgehaltener Hand stöhnen westliche Manager noch immer, weil die starke öffentliche Präsenz des Themas das Selbstbewusstsein der chinesischen Arbeiter stärke und die Zahl der Arbeitsgerichtsprozesse sprunghaft angestiegen sei, berichtet das Blatt.

Für die chinesische Führung ist die Neuerung ein zentraler Baustein für die "harmonische Gesellschaft", die sie vor zwei Jahren als Leitbild ausgegeben hat. Dahinter steht das Ziel, mehr Menschen am wachsenden Wohlstand teilhaben zu lassen - um so das politische System zu stabilisieren. "Niedriglöhne können nicht die Basis für langfristige Arbeitsbeziehungen sein. Und allein durch Ausbeutung kann es auf Dauer keine wirtschaftliche Entwicklung geben", sagte Professor Chang Kai von der Volksuniversität Peking auf einer China-Tagung von Hans-Böckler-Stiftung und DGB-Bildungswerk in Zusammenarbeit mit der FES und der IG Metall. Auch volkswirtschaftlich mache es Sinn, Binnenmarkt und Inlandskonsum zu fördern. Deshalb sei es wichtig, die Rechte der Arbeitnehmer zu stärken, so der Pekinger Arbeitsrechtler, der Regierungsberater ist und am Arbeitsvertragsgesetz mitgearbeitet hat (Interview Seite 42).

Noch erzielt ein einfacher Arbeiter mit einer 60-Stunden-Woche in den Industriezonen im südlichen China nicht mehr als umgerechnet rund 150 Euro. Allein für Nahrungsmittel gehen 40 Prozent weg. Gegenwärtig machen die Löhne in China gerade einmal 14 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus (in Deutschland 64,7 Prozent), berichtete Chang Kai in Hattingen.

ALLCHINESISCHE GEWERKSCHAFTEN_ "Tastend, pragmatisch und Schritt für Schritt Neues ausprobierend", beschreibt Sergio Grassi, Chinaexperte der Friedrich-Ebert-Stiftung, das Vorgehen der Regierung in Peking. Es gebe keinen Masterplan für die weitere Entwicklung, ist er überzeugt. Vielmehr beobachte die Regierung genau, wie soziale und ökonomische Entwicklungen in anderen Ländern gelaufen seien und welche Teile man daraus übernehmen wolle.

Auch die Rolle, die dem Allchinesischen Gewerkschaftsbund (ACGB) zufällt, ist keineswegs eindeutig. Zum einen hat KP-Generalsekretär Hu Jintao im vergangenen Herbst angekündigt, dass die Löhne parallel zur Inflation automatisch steigen sollen. Das würde die Rolle der Gewerkschaften, die in den Betrieben für Lohnverhandlungen zuständig sind, deutlich schwächen. Zum anderen gelten die Gewerkschaften aber auch als wichtiger Transmissionsriemen, mit dem die Kommunistische Partei nicht nur in den ehemaligen Staatsbetrieben, sondern in fast jedem Privatunternehmen präsent ist.

Der Allchinesische Gewerkschaftsbund hat sich selbst das Ziel gesteckt, einen erheblichen Teil der Wanderarbeiter zu organisieren. Außerdem wollte er bis Anfang diesen Jahres in 80 Prozent der etwa 100.000 ausländischen Firmen eine Betriebsgewerkschaft gründen, was ihm nach eigenen Angaben auch gelungen ist.

Theoretisch gibt es in China zwei Wege zu einer Betriebsgewerkschaft. In der Regel geht die regionale Gewerkschaft auf die Unternehmensleitung zu und schlägt die Gründung einer Betriebsgruppe vor. Ist die Geschäftsführung für diese Idee offen, kann sie sich die Mitarbeitervertretung meist selbst aussuchen und bekommt oft auch noch jahrelang die Gewerkschaftsbeiträge erlassen. "Nur wenn man dumm ist, macht man es wie Wal-Mart", sagt Sergio Grassi. Der US-Konzern hatte behauptet, seine Belegschaft habe kein Interesse an einer Betriebsgewerkschaft, und lehnte Verhandlungen darüber ab. Als sich dann aber doch 25 Arbeiter fanden und damit das nötige Quorum für eine Gründung "von unten" erreicht war, bekam auch Wal-Mart eine Betriebsgewerkschaft. Deren Einfluss bleibt freilich begrenzt: "Das zentrale Strukturproblem ist die personelle und finanzielle Abhängigkeit der Betriebsgewerkschaften von der Unternehmensleitung", betont Grassi. Wer sich zu stark engagiert, muss mit der Kündigung rechnen - und kein Gesetz schützt ihn davor.

Doch alle China-Experten auf der Veranstaltung in Hattingen waren sich einig: Eine Alternative zum ACGB wird es in absehbarer Zeit nicht geben. "Die Reform muss von innen heraus kommen", ist Ellen Friedman von der Harvard Universität überzeugt, die regelmäßig als Gastdozentin in China unterrichtet. Die vielen Streiks sieht sie als ermutigendes Zeichen einer Selbstorganisation der Arbeiter. Zwar übernehmen die Gewerkschaften dabei stets die Rolle der Brücke zwischen Belegschaft und Management. Doch insbesondere in Firmen, die nicht allein auf billige Massenfertigung setzen, haben die Beschäftigten inzwischen oft durchaus keine schwache Position mehr. Hinzu kommt, dass die Auftragsfertiger wie sie in der Elektronik- und Bekleidungsbranche vorherrschen, technisch hochwertige Produktionen aufbauen.

Dafür ist zum Beispiel die Struktur des taiwanesischen Unternehmens Foxconn typisch, sagt Boy Lüthje, Industriesoziologe vom Frankfurter Institut für Sozialforschung. Der weltweit größte Elektronikhersteller betreibt in China eine 270.000-Einwohner-Fabrikstadt, in der für Apple, Intel, Dell, Sony, Nokia, Motorola und weitere westliche Markenfirmen Module oder ganze Geräte produziert werden. Obwohl zum Beispiel alle Teile eines iPod in China gefertigt und zusammengebaut werden, fließen nur vier Prozent des Verkaufspreises dorthin und 60 Prozent ins Silicon Valley, hat die New York Times ausgerechnet. Dabei sind in China keineswegs nur Fließbandarbeiter im Einsatz, auch tausende von chinesischen Ingenieuren halten die Maschinen am Laufen. "Manche US-Ökonomen prognostizieren schon eine Modularitätsfalle, in die die Westfirmen durch die komplette Auslagerung ihrer Produktion geraten", so Lüthje.

HARTER KAMPF UM FACHKRÄFTE_ In den östlichen Boomregionen gibt es inzwischen vielerorts einen enormen Facharbeitermangel, und die Firmen haben mit extremer Fluktuation zu kämpfen. Bei der Befragung von 17 deutschen Unternehmen überwiegend aus dem Metallbereich, die die deutsche Handelskammer in China in der 500?000-Einwohner-Stadt Taicang nordöstlich von Shanghai durchführte, stellte sie zum Teil über 300-prozentige Differenzen bei den Löhnen fest. "Kein Wunder, dass die Leute häufig über die Straßenseite wechseln. Es lebe der Flächentarifvertrag", kommentiert das Wolfgang Müller von der IG Metall Bayern.

Noch sind die Kontakte zwischen deutschen Betriebsräten und den Belegschaftsvertretungen der chinesischen Schwester- oder Tochterunternehmen überaus dünn. "Wir wissen da fast gar nichts", sagt Winfried Krag von Dystar Textilfarben. Die Chemiefirma hat in den vergangenen Jahren in China und Indonesien neue Standorte auf- und Arbeitsplätze in Deutschland abgebaut. Nur über Kollegen, die zur Einrichtung der Maschinen mal vor Ort waren, haben die Betriebsräte gehört, dass die Fluktuation sehr groß und die Ausbildung der chinesischen Kollegen unzureichend sein soll.

INTERESSE AN KONTAKTEN_ Der Gesamtbetriebsrat von Bosch war dagegen schon einmal in Hangzhou, und ein Chinese nahm vor zwei Jahren am Bosch-Arbeitnehmer-Welttreffen teil. Auch bei BMW, Bayer, Daimler und Otis gibt es Kontakte. "Aber das ist alles nicht sehr intensiv", berichtet IG-Metall-Mann Wolfgang Müller. Nach mehreren Besuchen im Reich der Mitte ist er davon überzeugt, dass von chinesischer Seite großes Interesse an betrieblichen Kontakten besteht und diese durchaus sinnvoll sind, um die Transformation der Gewerkschaften zu unterstützen.

Wenn Betriebsräte Kontakt zu den Kollegen in China aufbauen wollen, ist die Rechtslage durchaus auf ihrer Seite, versichert Arbeitsrechtler Wolfgang Däubler von der Uni Bremen. Mehrere Urteile bestätigen, dass nicht nur E-Mails, sondern auch Telefonate und persönliche Treffen vom Unternehmen zu finanzieren sind, wenn der Aufwand verhältnismäßig und der Betriebsbezug klar erkennbar ist. Wolfgang Müller ist sogar davon überzeugt, dass viele Konzernführungen einem solchen Ansinnen ihres Betriebsrats sehr offen gegenüberstehen würden. "Die finden es gut, wenn sich der Betriebsrat positiv zum Chinaengagement stellt." Mit der Chefetage die gewünschte Kontaktaufnahme besprechen, hinreisen und vor Ort gucken, mit wem man es dort zu tun hat - so sein Tipp.

 

INTERVIEW
"Vom Gewinn abgeben"
Prof. Chang Kai, Arbeitsrechtler an der Volksuniversität Peking, fordert die westlichen Gewerkschaften auf, Druck auf die großen Markenfirmen auszuüben, damit die Arbeitsverhältnisse in China besser werden.


HERR CHANG, SIE HABEN AM NEUEN ARBEITSVERTRAGSGESETZ MITGEARBEITET. WIRD ES DIE ARBEITSBEZIEHUNGEN IN CHINA GRUNDLEGEND ÄNDERN? Man kann nicht erwarten, dass das Gesetz alle Probleme lösen wird - aber klar ist auch, dass ohne das Gesetz die Probleme auf dem Arbeitsmarkt nicht zu lösen sind. Das Gesetz reguliert die Arbeitsverhältnisse und stärkt die individuellen Rechte der Arbeitnehmer. Sie werden sich ihrer Rechte durch das Gesetz bewusster und stellen mehr Forderungen an die Gewerkschaften.

WAS BEDEUTET DAS FÜR DEN ALLCHINESISCHEN GEWERKSCHAFTSVERBAND? Der hat jetzt mehr Verantwortung zu tragen. Eine wichtige Frage für die Zukunft ist, inwieweit es den Arbeitern gelingt, ihre Rechte auch durch kollektive Verhandlungen durchzusetzen. Wir werden eine Untersuchung durchführen, wie die Gewerkschaften mit dem neuen Gesetz umgehen.

WANN GIBT ES FREIE GEWERKSCHAFTEN IN CHINA? Die Voraussetzungen für autonome Gewerkschaften sind in China gegenwärtig nicht gegeben. Aber die jetzige Gewerkschaft wird sich verändern.

WIE STELLEN SICH DIE ARBEITGEBER ZUM NEUEN ARBEITSRECHT? Manche Arbeitgeber klagen und fordern eine Aufweichung des Gesetzes. Aber die Regierung hat klar gesagt: Es geht jetzt um die Umsetzung. Nur stabile Arbeitsverhältnisse und höhere Löhne ermöglichen Entwicklung und mehr Inlandskonsum.

TÄGLICH GIBT ES DUTZENDE VON STREIKS IN CHINA. SIND DIE LEGAL? Streiks sind in China weder erlaubt noch verboten. Sie werden nicht gefördert, aber auch nicht strafrechtlich verfolgt. Die Regierung versucht, zu schlichten und die Leute zu beruhigen. Ich erwarte nicht, dass es bald eine recht-liche Regelung dazu gibt.

WELCHE ROLLE SPIELEN DIE GEWERKSCHAFTEN BEI DEN STREIKS? Die meisten Streiks entstehen autonom. Bei der Beilegung der Streitigkeiten übernehmen die Gewerkschaften die Rolle eines Vermittlers, einer Brücke bei den Verhandlungen.

WAS KÖNNTEN DEUTSCHE GEWERKSCHAFTEN TUN, UM DIE BESCHÄFTIGTEN IN CHINA ZU UNTERSTÜTZEN? Die internationalen Gewerkschaften sollten Druck ausüben auf die großen Markenfirmen, damit sie etwas von ihrem Gewinn abgeben. Der Druck auf die Zulieferer ist extrem, was die Lieferfristen und die Kosten angeht. Da möchte ich durchaus etwas hören von den deutschen Gewerkschaften!

Die Fragen stellte ANNETTE JENSEN.

 

 

CHINESISCHES ARBEITSRECHT

Verbot von Leiharbeit

Der erste Entwurf des chinesischen Arbeitsvertragsgesetzes sah vor, dass eine Beschäftigtendelegation mit der Geschäftsführung über die "Arbeitsordnung" im Betrieb verhandelt. Bei Nichteinigung sollte der Entwurf der Arbeitnehmer gelten. Sowohl internationale als auch chinesische Unternehmensvertreter liefen dagegen Sturm, so dass nun dieser Passus gestrichen wurde.

Das neue Arbeitsvertragsgesetz soll die individuellen Rechte der Arbeiter stärken, indem sie ein Recht auf einen schriftlichen Vertrag haben, was bisher nach offiziellen Angaben 80 Prozent der Beschäftigten in Privatunternehmen verwehrt wird. Nun gelten sie nach einen Jahr ohne schriftlichen Kontrakt automatisch als unbefristet angestellt. Auch nach zehn Jahren oder zwei Verlängerungen eines befristeten Vertrags haben sie das Recht auf eine Festanstellung. Abfindungen und Vertragsverlängerungen bei Krankheit oder Schwangerschaft wurden geregelt.

Bisher laufen zwei Drittel der Arbeitsverträge kürzer als ein Jahr. Die Leiharbeit schränkt das neue Arbeitsvertragsgesetz extrem ein. Chinesische Unternehmen dürfen nicht mehr selbst Leiharbeitsfirmen gründen, um die dort Beschäftigten im eigenen Betrieb einzusetzen. Vor allem aber gilt ohne Ausnahmen das Prinzip: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit.

Außerdem verbietet das Gesetz Arbeitgebern, Personalausweise von Beschäftigten einzubehalten oder eine Kaution zu verlangen - was bisher häufig geschah, um Arbeitnehmer davon abzuhalten, irgendwann nicht mehr aufzutauchen.
Wem der Lohn vorenthalten wird, kann sich bei der lokalen Arbeitsbehörde beschweren, die dem Arbeitgeber eine Frist setzt. Passiert auch bis dahin nichts, muss der Arbeitgeber eine saftige Extrazahlung in Höhe von 50 bis 100 Prozent der ausstehenden Löhne zahlen. Keine Schutzregeln gibt es aber für Teilzeitjobs. Experten fürchten, dass viele Firmen sie nun als Schlupfloch nutzen könnten.

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