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Kind Tafel Magazin Mitbestimmung

Bildung: Mit Widerstand ist zu rechnen

Ausgabe 04/2022

In Deutschland hängt Bildungserfolg noch immer stark von der sozialen Herkunft ab. Wissenschaftler machen die frühe Aufteilung der Kinder auf verschiedene Schulformen dafür verantwortlich. Doch eine längere gemeinsame Schulzeit stößt auf erbitterten Widerstand. Vielleicht muss auch an anderer Stelle Druck aus dem System genommen werden. Von Fabienne Melzer

Die Worte klangen bedrohlich. Von einer Didaktik der Verwahrlosung, einem pädagogischen Abgrund und anderem Unheil sprach der Philologenverband Rheinland-Pfalz in einer Pressemitteilung Anfang Juli. Die Wurzel dieses Übels sieht er in den derzeitigen Grundschulmethoden. Sobald es in Deutschland um die Leistungen von Schulkindern geht, bricht ein Glaubenskrieg aus, und Kämpfer wie der Philologenverband rüsten verbal auf. Selbst in der Politik ist die Kriegsrhetorik bei diesem Thema nicht weit. So schloss die rot-grüne Minderheitsregierung in Nordrhein-Westfalen 2014 mit der CDU einen „Schulfrieden“. Demnach soll das gegliederte Schulsystem bis 2023 nicht angefasst werden. 

Befürworter und Gegner des dreigliedrigen Schulsystems liegen sich nicht erst seit den Ergebnissen der ersten Pisa-Studie vor mehr als 20 Jahren in den Haaren. Die Studie heizte die Diskussion jedoch an. Denn zum Schrecken vieler entpuppte sich das Land der Dichter und Denker im internationalen Vergleich als Mittelmaß. Nirgends sonst hing der Schulerfolg so sehr von der sozialen Herkunft ab wie in Deutschland. Und mit jeder neuen Studie geht der Streit weiter.

Mit der Pressemitteilung reagierten die rheinland-pfälzischen Philologen auf eine Untersuchung im Auftrag der Kultusministerkonferenz. Danach waren die Leistungen von Viertklässlern 2021 im Vergleich zu 2016 deutlich gesunken. Gleichzeitig hatte sich der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und schulischer Leistung verstärkt. In der Rechtschreibung erreichen nur noch 44 Prozent der Schüler den Regelstandard, fast ein Drittel verfügt nicht einmal über Mindeststandards.

Der Philologenverband forderte daher nicht nur eine Rückkehr zu Lernmethoden des vorigen Jahrhunderts, auch die Leistungsstandards müssten angehoben werden. Maike Finnern, die Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), schüttelt da nur den Kopf: „Standards und Tests können als Diagnoseinstrumente sinnvoll sein. Aber dazu wurden sie nicht genutzt.“ Auf dem Papier sei die individuelle Förderung zwar wichtiger geworden, in den Bildungseinrichtungen fehlten aber Mittel und Menschen dafür. In einem selektiven Schulsystem sind auch die Beschäftigten gefangen und müssen anhand der Testergebnisse Entscheidungen über den weiteren Bildungsweg treffen. „In Bayern beginnt das Lernen fürs Gymnasium ab Klasse drei“, sagt Maike Finnern. „Standards führen nur dann zu mehr Chancengleichheit, wenn wir dafür sorgen, dass alle sie erreichen.“ 

Wer also die Latte höher legen will, wie der Philologenverband, wird unter den derzeitigen Bedingungen höchstwahrscheinlich nur die Zahl derer erhöhen, die sie reißen. Der Verband vertritt Beschäftigte an Schulen, die zum Abitur führen. Mitglieder unter den Gymnasialehrkräften würden seit Jahren mangelhafte Rechtschreibung und Rechenkenntnisse bei Fünftklässlern beklagen. Die Klagen könnten auch mit einer Entwicklung zusammenhängen, die Aladin El-Mafaalani, Soziologe an der Universität Osnabrück und Vertrauensdozent der Hans-Böckler-Stiftung, beobachtet: „Fast 50 Prozent der Grundschüler wechseln mittlerweile aufs Gymnasium. Lehrkräfte haben dort inzwischen eine sehr diverse Schülerschaft, aber den Unterricht noch nicht entsprechend angepasst.“

Sozialer Filter

Zwar hat sich seit der ersten Pisa-Studie einiges getan, Deutschland steht im Vergleich nicht mehr ganz so schlecht da. Doch das Bildungssystem funktioniert immer noch als sozialer Filter. Während 2016 von 100 Akademikerkindern 83 eine gymnasiale Oberstufe und 72 eine Hochschule besuchten, waren es von 100 Nichtakademikerkindern lediglich 46 und 21. Einer der Gründe: Das Schulsystem setzt auf die Unterstützung der Eltern. Wie fatal das ist, wurde unter Coronabedingungen sichtbar. Das beobachtete auch Claudia Caspari, Geschäftsführerin des Kreisjugendrings in München, eines Trägers von Kindertages- und Freizeiteinrichtungen. „Als Kinder von einem Tag auf den anderen in den Distanzunterricht geschickt wurden, mussten Eltern den Schultag oder sogar die Schulwoche strukturieren“, sagt Caspari. „Aber Eltern in systemrelevanten Berufen waren gar nicht zu Hause.“ Sie weiß: Je weniger Einkommen eine Familie hat, desto wahrscheinlicher arbeiten Vater und Mutter. Sie haben weder das Geld noch die Zeit, ihre Kinder zu unterstützen. Ihre Kinder treten dann in der Schule gegen den Nachwuchs von Akademikern an, der bereits im Ballett tanzt, die musikalische Früherziehung besucht hat und demnächst Klavier lernt.   

Die ungleichen Bedingungen der Kinder zu Hause werden in der Schule viel zu wenig berücksichtigt, findet GEW-Vorsitzende Maike Finnern. Ihrer Ansicht nach sollten Schulen, die von vielen Kindern mit größeren Schwierigkeiten besucht werden, auch mehr Mittel bekommen, um unterschiedliche Startbedingungen auszugleichen. Doch die Verteilung von Bundesmitteln orientiert sich an Bevölkerung und Steueraufkommen. So spielten soziale Lebensumstände von Kindern und Jugendlichen selbst beim Corona-Aufholpaket keine Rolle, dabei sollte es die unterschiedlichen Bedingungen der Kinder im Homeschooling ausgleichen. Würde das bei der Verteilung der Gelder berücksichtigt, bekäme Nordrhein-Westfalen mehr und Bayern weniger aus dem Bundestopf.

Ähnlich sieht es für Hochschulen und Kitas aus. Elke Alsago, Bundesfachgruppenleiterin bei Verdi, arbeitet seit 30 Jahren im Kitabereich. Nach dem Pisa-Schock habe sich in den Kitas viel getan. Sprachförderung wurde in den Alltag integriert. Im Projekt „Brückenjahr“ arbeiteten Kitas und Grundschulen zusammen, um die Kinder auf den Übergang vorzubereiten. „Die Fachkräfte haben sich weiterentwickelt“, sagt Alsago. Doch was nützt ihnen dieses Wissen, wenn sie tagein, tagaus nur noch den Mangel verwalten? Zwar habe der Gesetzgeber einen Anspruch auf einen Kitaplatz geschaffen, dabei aber leider versäumt, genügend Personal aufzubauen. Kommunen schließen inzwischen Gruppen und reduzieren Öffnungszeiten. Zum Schutz des Personals und der Kinder sei das richtig, im Hinblick auf die Bildung aber langfristig keine Lösung. 

Das knappe Angebot benachteiligt ohnehin jene, die es am meisten brauchen. Nur knapp ein Viertel der Kinder von Müttern ohne Abitur besuchte 2016 eine Kita. Bei Kindern von Müttern mit Abitur waren es rund 40 Prozent. Fragt man die Eltern, ob sie sich eine Betreuung wünschen, fällt die Differenz mit acht Prozent deutlich kleiner aus. Eltern mit geringerer Bildung haben demnach auch geringere Chancen, einen Platz für ihr Kind zu ergattern, so der Schluss eines Forschungsteams des DIW in Berlin. Daran änderte auch der Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz seit 2013 nichts. Im Gegenteil: Zwischen 2012 und 2016 vergrößerten sich die Unterschiede zwischen den Bildungsgruppen. Mehr Angebote könnten die Situation verbessern.

Doch mit einem Ausbau der Ganztagsplätze ist es nicht getan. In den Kitas bröckelt der Anspruch an frühkindliche Bildung angesichts des Personalmangels. Die offene Ganztagschule (OGS) ist nur ein Betreuungsmodell, wo Kinder nach der Halbtagsschule ein Mittagessen bekommen, bei den Hausaufgaben betreut werden und Beschäftigte ihnen Freizeitangebote machen. „Es reicht nicht, die Kinder nachmittags zu betreuen“, sagt Claudia Caspari vom Münchner Kreisjugendring. Der gesetzliche Anspruch auf einen Betreuungsplatz ist ausschließlich der Not berufstätiger Eltern geschuldet und wird nicht von der Frage geleitet, wie Kinder sich am besten entwickeln können. „Kinder brauchen Raum, sich auszuprobieren, sich zu entfalten, und müssen dabei pädagogisch gut begleitet werden“, sagt Claudia Caspari. „Bildungsgleichheit kann nur gelingen, wenn eine Rhythmisierung von schulischen und außerschulischen Angeboten in einer Ganztagsschule installiert wird.“

Doch stattdessen muss auch sie den Mangel verwalten. Beschäftigten im offenen Ganztag kann sie nur 17- oder 18-Stunden-Stellen anbieten. „Da schaffen wir prekäre Beschäftigungsverhältnisse“, sagt Caspari. Auch Maike Finnern kritisiert die schlechte Ausstattung mit Personal und Mitteln. „Wir wollen Inklusion, aber die Integrationsklassen bekommen keine zweite pädagogische Kraft. Pädagogische Kräfte werden nur befristet angestellt, sie bekommen digitale Geräte, aber keine technische Unterstützung“, sagt die GEW-Vorsitzende und fasst die Misere in einem Satz zusammen: „Wir wollen gute Bildung, aber sie ist uns nichts wert.“

Auch Bettina Kohlrausch, Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung, hält das Bildungssystem für unterfinanziert. Für Schulen bezifferte die Kreditanstalt für Wiederaufbau allein den Investitionsrückstand auf 46 Milliarden Euro, für Hochschulen kommen noch einmal 40 Milliarden Euro hinzu. „Aber wenn wir einfach nur mehr Geld in die bestehenden Strukturen pumpen, ändert das nichts an den ungleichen Bildungschancen“, sagt Bettina Kohlrausch. Sie sieht die Ursache nicht in Defiziten bestimmter Gruppen, sondern in der Struktur: „Der Hauptgrund für die Ungleichheit ist die frühe Verteilung der Kinder auf verschiedene Schulformen. Das System gleicht Unterschiede nicht aus, sondern legitimiert sie, indem es vorgibt, nach Leistung zu sortieren.“

Viele Pisa-Siegerländer zeigen, dass es auch anders geht. Meist schauen Bildungsforscher nach Skandinavien. Der Osnabrücker Soziologe El-Mafaalani möchte den Blick lieber nach Kanada lenken, das der deutschen Gesellschaft ähnlicher ist als Schweden oder Finnland. Auch Kanada schneidet gut ab mit einer umfassenden Ganztagsschule, in der die Kinder bis 15 Jahre gemeinsam lernen. El-Mafaalani hält den Kampf gegen das dreigliedrige Schulsystem in Deutschland dennoch zumindest im Moment für aussichtslos. „Bildungsreformen funktionieren nicht wie eine Impfung. Wenn sie im Bildungssystem etwas gegen Eltern und Lehrer verändern, bringen sie enorme Unruhe in ein schwach aufgestelltes System“, sagt El-Mafaalani. Wichtiger sei es, den offenen Ganztag qualitativ auszubauen.

Niemand will sich die Finger verbrennen

Mit Widerstand der Eltern ist auf jeden Fall zu rechnen. Als der schwarz-grüne Senat in Hamburg 2009 die gemeinsame Schulzeit nur um zwei Jahre verlängern wollte, formierte sich eine Bürgerinitiative um den Rechtsanwalt Walter Scheuer. Die Initiative sammelte mehr als 184 000 Unterschriften gegen die Reform und kippte sie mit knapper Mehrheit in einem Volksentscheid. An der Debatte um eine längere gemeinsame Schulzeit will sich in der Politik niemand mehr die Finger verbrennen. 

Wenn sich schon keiner den großen Wurf traut, sollte die Politik sich zumindest um jene kümmern, die komplett durchfallen, meint GEW-Vorsitzende Maike Finnern. „Jedes Jahr verlassen 50 000 junge Menschen die Schule ohne Abschluss, in den vergangenen beiden Jahren waren es sogar je 100 000. Das können wir doch nicht einfach hinnehmen.“ Deshalb sollte die Politik Schulen mit besonderen Herausforderungen auch besonders unterstützen.

Zumal es nicht hilft, Schulen einfach einen anderen Namen zu geben. Schließlich werden Lehrkräfte noch immer nach unterschiedlichen Schulzweigen ausgebildet. Die Lehrerausbildung zu verändern, hieße aber, Universitäten zu verändern. „Und das“, sagt El-Mafaalani, „ist noch schwerer, als Schulen zu verändern.“

Er würde bei der Fortbildung ansetzen. „Denn selbst wenn wir heute nach den modernsten Erkenntnissen ausbilden, kann das in zehn Jahren schon wieder überholt sein“, sagt der Universitätsprofessor, der selbst Lehrer war und heute Lehrer ausbildet. Doch gerade bei der Fortbildung liege vieles im Argen. Die Länder hätten kein Geld für Fortbildung, und bei den Anbietern fehle jede Qualitätskontrolle.

El-Mafaalani plädiert dafür, Stress aus dem System zu nehmen. „Schauen wir uns doch erst einmal an, wie es sich in Bundesländern entwickelt, die nur noch zwei Schulformen haben“, schlägt er vor. Vielleicht lassen sich daraus Reformen entwickeln, die eine Mehrheit akzeptiert.

GEW-Vorsitzende Maike Finnern sieht das Bildungssystem dagegen an einer Wegscheide. „Wir brauchen eine Wende, weil sonst niemand mehr in diesem System arbeiten will, unsere Kinder und Jugendlichen nicht fit fürs Leben werden und unsere Demokratie gefährdet wird.“ Auch der sozialökologische Wandel hänge davon ab. „Das funktioniert nur mit einem enormen Bildungsschub – und zwar für alle Altersklassen.“

WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch würde aber noch an anderer Stelle ansetzen. Schließlich ist der Klassenkampf im Bildungssystem am Ende ein Kampf um die besten Plätze auf einem Arbeitsmarkt, der zwar viele Jobs, aber wenig Sicherheit bietet. „Solange das so ist, wird es immer einen Kampf um Ressourcen geben“, sagt Bettina Kohlrausch. „Und Bildung ist eine wichtige Ressource für soziale Mobilität.“ Vielleicht würden mehr Menschen ein faireres Bildungssystem akzeptieren, wenn am Arbeitsmarkt weniger Druck herrschte.

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