Quelle: HBS
Magazin Mitbestimmung: Mit radikalen Strukturreformen aus der Krise?
Derzeit werden der Arbeitsmarkt dereguliert und der Sozialstaat abgebaut. Im internationalen Vergleich zeigen sich deutsche Insitutionen nicht "verkrustet". Wären Geld- und Finanzpolitik das probatere Heilmittel zur Bekämpfung einer Wirtschaftskrise?
Von Eckhard Hein und Achim Truger
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Achim-Truger@boeckler.de
Die deutsche Wirtschaft steckt in der tiefsten Krise der Nachkriegszeit. Nachdem das Wachstum des realen Bruttoinlandsproduktes (BIP) im Jahr 2000 noch bei 3,1 Prozent gelegen hatte, stürzte die Wachstumsrate 2001 auf nur noch 1,0 Prozent ab. Seit 2002 verharren die Wachstumsraten praktisch bei null. Die Folge ist ein deutlicher Anstieg der Arbeitslosigkeit und des gesamtstaatlichen Haushaltsdefizits.
Auch für 2004 wird mit 1,4 Prozent nur ein moderates BIP-Wachstum erwartet, das nicht ausreichen wird, um die Arbeitslosigkeit zu senken. Das gesamtstaatliche Haushaltsdefizit wird im dritten Jahr in Folge das Defizitkriterium des Maastricht Vertrages und des Stabilitäts- und Wachstumspaktes von einem Anteil von drei Prozent am BIP verfehlen. Dabei steht gegenwärtig in den Sternen, ob denn selbst dieses geringe Wachstum überhaupt erreicht werden wird: Einige Frühindikatoren, wie der Ifo-Geschäftsklima-Index und die ZEW-Konjunkturerwartungen, signalisierten jüngst ein Abkühlen der Wachstumserwartungen.
Wachstum schon länger unter dem EU-Schnitt
In dieser Situation werden die Forderungen nach einer Verschärfung des Tempos der strukturellen Reformen am Arbeitsmarkt und bei den sozialen Sicherungssystemen und einer Weiterführung der von der Bundesregierung in Angriff genommenen "Agenda 2010" immer lauter. Diese Forderungen muten zunächst etwas seltsam an. Warum sollen strukturelle Reformen zur Bekämpfung einer konjunkturellen Krise eingesetzt werden, wo man doch in jedem modernen amerikanischen, volkswirtschaftlichen Lehrbuch nachlesen kann, dass hierauf eigentlich mit aktiver Geld- und Finanzpolitik reagiert werden muss? Woran sich die US-amerikanische Wirtschaftspolitik schon seit den 90er Jahren mit großem Erfolg hält. Die schon länger andauernde Niedrigzinspolitik der amerikanischen Zentralbank und die für europäische Verhältnisse unvorstellbare Ausweitung des Haushaltsdefizits auf zuletzt etwa fünf Prozent des BIP durch die Finanzpolitik sind ein Beispiel hierfür.
Allerdings lässt sich nicht leugnen, dass Deutschland schon seit längerem wirtschaftliche Probleme hat: Schon seit Mitte der 90er Jahre liegt nämlich das deutsche BIP-Wachstum deutlich unterhalb des Durchschnitts der Europäischen Währungsunion, gehört Deutschland schon zu den wirtschaftlichen "Schlusslichtern". Diese langfristige Wachstumsschwäche wird von vielen Beobachtern als strukturelle Krise eingestuft, die dringend - ganz unabhängig von der Konjunkturkrise - durch tiefgreifende Strukturreformen bekämpft werden müsse.
Ins Zentrum der Kritik sind die als verkrustet angesehenen Arbeitsmärkte und die als leistungsfeindlich eingestuften sozialen Sicherungssysteme geraten. Aufgrund eines zu starren Kündigungsschutzes, zu hohen und lange gewährten Lohnersatzleistungen, zu starkem Gewerkschaftseinfluss in den Betrieben und bei den Lohnverhandlungen sowie einer zu hohen Abgabenbelastung des Faktors Arbeit seien die Löhne zu stark gestiegen. Die Folge ist Arbeitslosigkeit. Aber kann sich diese Kritik auf Fakten stützen? Können diese Faktoren wirklich für die deutsche Schlusslichtposition in Europa verantwortlich gemacht werden?
Wenn die These, Deutschlands Wachstumsschwäche seit Mitte der 90er Jahre sei durch inflexible Arbeitsmärkte und zu hohe Ansprüche an die sozialen Sicherungssysteme verursacht worden, richtig ist, dann müssten zwei Bedingungen erfüllt sein: Erstens müssten der deutsche Arbeitsmarkt und die deutschen Sozialsysteme im internationalen Vergleich weit überdurchschnittlich "verkrustet" sein. Dabei müssten die genannten "institutionellen Hemmnisse" für Beschäftigung im Zeitablauf, vor allem in der zweiten Hälfte der 90er Jahre, deutlich zugenommen haben. Zweitens müsste sich im internationalen Vergleich empirisch ein eindeutiger Zusammenhang zwischen der "Verkrustung" der Arbeitsmarktinstitutionen und der Arbeitslosigkeit nachweisen lassen.
Die vermeintlichen Beschäftigungshemmer
Als Indikatoren für verkrustete Arbeitsmärkte und beschäftigungsfeindliche soziale Sicherungssysteme werden in der internationalen Arbeitsmarktforschung üblicherweise herangezogen: der gewerkschaftliche Organisationsgrad, der Koordinierungsgrad der Lohnverhandlungen, der Kündigungsschutz, die Lohnersatzleistungsquote, die Dauer der Lohnersatzleistungen und der Steuer- und Abgabenkeil.
Radikale Reformer nehmen dabei erstens an, dass kollektive, das heißt auf überbetrieblicher, regionaler/sektoraler oder sogar nationaler Ebene zentralisierte oder koordinierte Lohnverhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden aufgrund von Marktmacht ("Tarifkartell") zu überhöhten Löhnen und einer falschen Lohnstruktur führten. Ein hoher gewerkschaftlicher Organisationsgrad und ein hoher Koordinationsgrad der Lohnverhandlungen werden daher als "beschäftigungsfeindlich" angesehen.
Auch gesetzliche Regelungen des Arbeitsmarktes wie insbesondere der Kündigungsschutz erhöhen die Arbeitslosigkeit, so wird zweitens behauptet, da sie zu höheren Entlassungs- und Anpassungskosten und damit einer geringeren Arbeitsnachfrage führten. Drittens wird daneben der Sozialstaat über die durch ihn garantierten Anspruchslöhne und -einkommen für die Entstehung von Arbeitslosigkeit verantwortlich gemacht. Arbeitslosenunterstützung und Sozialhilfe würden die Anreize für Arbeitslose senken, einen neuen Arbeitsplatz zu suchen und anzunehmen. Die Höhe und die Dauer von Lohnersatzleistungen würde daher direkt die Arbeitslosigkeit beeinflussen.
Viertens schließlich werden die Steuern und Abgaben, die zur Finanzierung des Sozialstaates, insbesondere in Form der Einkommensteuer, der Sozialversicherungsbeiträge (Lohnnebenkosten) und der Verbrauchssteuern, erhoben werden und die den Faktor Arbeit belasten, der so genannte Steuer- und Abgabenkeil, als Ursache von Arbeitslosigkeit ausgemacht. Dieser Keil mindere die realen Nettolöhne und damit die individuellen Leistungsanreize und führe dadurch zu geringerer Lohnzurückhaltung in Tarifverhandlungen, was wiederum Arbeitslosigkeit mit sich bringe.
Daten widersprechen den Deregulierern
Umstritten ist nicht nur die hinter den Forderungen der Deregulierer stehende einfache Arbeitsmarkttheorie, nach der Arbeitslosigkeit immer auf zu hohe Lohnansprüche zurückzuführen sei. Auch die tatsächliche Entwicklung der genannten beschäftigungshemmenden Indikatoren1 in Deutschland passt ganz und gar nicht zur deutschen Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung. Sie steht in klarem Widerspruch zur Argumentation der radikalen Deregulierer. Zieht man den aktuellsten der in der internationalen Forschung genutzten Datensätze heran, so ist in Deutschland in absoluter Betrachtung lediglich ein Indikator "beschäftigungsunfreundlicher" geworden: Der Steuer- und Abgabenkeil hat seit den 60er Jahren stetig zugenommen und sich in den 90er Jahren noch einmal deutlich vergrößert. Zwei der Indikatoren - Koordinierungsgrad der Lohnverhandlungen und Zahlungsdauer der Lohnersatzleistungen - sind jedoch seit mindestens Mitte der 70er Jahre im Wesentlichen konstant geblieben. Drei Indikatoren haben sich sogar "beschäftigungsfreundlich" entwickelt: der Kündigungsschutz, die Lohnersatzleistungsquote und der gewerkschaftliche Organisationsgrad sind schon seit Mitte der 70er Jahre rückläufig und haben sich in der zweiten Hälfte der 90er Jahre noch einmal deutlich vermindert.
Vergleicht man die deutschen Werte mit den Durchschnittswerten für 20 OECD-Länder, so nehmen die empirischen Widersprüche noch zu: Die deutschen Werte sind in der zweiten Hälfte der 90er Jahre immerhin in zwei Fällen "besser" als der Durchschnitt (Lohnersatzleistungsquote, gewerkschaftlicher Organisationsgrad). Bei zwei Indikatoren ist der Abstand zum Durchschnitt geringer geworden (Kündigungsschutz, Lohnersatzleistungsdauer), und bei lediglich zwei Faktoren hat sich der Abstand zum OECD-Durchschnitt etwas erhöht (Koordinierungsgrad der Lohnverhandlungen, Steuer- und Abgabenkeil).
Sucht man eine Antwort auf die Frage, ob es denn überhaupt einen Zusammenhang zwischen "verkrusteten" Institutionen und der Arbeitslosigkeit gibt, so wird man auch hier enttäuscht.
Schon für die einzelnen Indikatoren lässt sich in Streudiagrammen kein statistisch signifikanter Zusammenhang ermitteln. Verdichtet man die sechs oben genannten einzelnen Indikatoren zu einem Gesamtindex für die "Arbeitsmarktverkrustungen" und stellt für alle Länder die Veränderung dieses Gesamt-Index und die Veränderung der Arbeitslosenquote von der ersten Hälfte der 80er Jahre bis zur zweiten Hälfte der 90er Jahre gegenüber, ergibt sich auch hier kein klarer Zusammenhang. Obwohl zum Beispiel Deutschland und Dänemark annähernd den gleichen "Reformumfang" realisiert haben, stieg die deutsche Arbeitslosenquote um fast vier Prozentpunkte, während die dänische um zwei Prozentpunkte zurückging. Die Niederlande, Portugal und Irland konnten ihre Arbeitslosenquote um zwei Prozentpunkte verringern und das trotz zunehmender "Verkrustung".
Radikale Strukturreformen nicht begründbar
Insgesamt muss man daher feststellen: Ein radikaler Umbau der Arbeitsmarktstrukturen und der sozialen Sicherungssysteme in Deutschland wird von vielen mittlerweile als Königsweg zu mehr Wachstum und Beschäftigung deklariert, auch wenn klare empirische und theoretische Belege fehlen, dass zu verkrustete Arbeitsmärkte und zu üppige soziale Sicherungssysteme die Ursachen für die deutsche Arbeitslosigkeit darstellen. Gleichzeitig erleben wir eine nahezu komplette Vernachlässigung oder Verharmlosung gesamtwirtschaftlicher Faktoren bei der Erklärung der deutschen Misere. Das lässt sich nicht rechtfertigen. Wenn man es mit der Behebung der Wachstums- und Beschäftigungskrise in Deutschland tatsächlich ernst meint, wird man an einer makroökonomischen Ursachenanalyse nicht vorbeikommen.
Demnach kann das Zurückbleiben der deutschen Entwicklung hinter dem Durchschnitt der Europäischen Währungsunion (EWU) seit Mitte der 90er Jahre im Wesentlichen auf drei Faktoren zurückgeführt werden: Durch die Herstellung der EWU mit einheitlichen Nominalzinsen hat Deutschland als ehemaliges regionales Leitwährungsland den hiermit verbundenen Zinsvorsprung verloren. Wegen der gegenüber dem EWU-Durchschnitt geringeren Inflationsrate sind Konsumenten und Investoren in Deutschland seit 1999 vielmehr mit höheren Realzinssätzen und damit real höheren Kreditkosten als die anderen EWU-Länder konfrontiert.
Die durch den Stabilitäts- und Wachstumspakt erzwungene Konsolidierung der öffentlichen Haushalte wurde in Deutschland stärker als in den anderen EWU-Ländern durch eine Einschränkung der öffentlichen Investitionen betrieben, wodurch die Quote der öffentlichen Investitionen in Deutschland mittlerweile deutlich unter den EWU-Durchschnitt gefallen ist. Hierdurch wurde die Binnennachfrage und die öffentliche Infrastruktur als wesentliche Wachstumsvoraussetzung geschwächt.
Der deutschen Tarifpolitik gelang es seit Mitte der 90er Jahre weniger als in den anderen Ländern, den neutralen Verteilungsspielraum auszuschöpfen, wodurch die Lohnquote in Deutschland stärker zurückging als in den anderen EWU-Ländern. Dies hatte ein deutliches Zurückbleiben der Konsumnachfrage zur Folge.
Die Entwicklungen in den Bereichen der Geld-, Fiskal- und Lohnpolitik wirkten sich daher insgesamt absolut und relativ zum EWU-Durchschnitt stark dämpfend auf Wirtschaftswachstum und Beschäftigung in Deutschland aus. Solange diese seit längerer Zeit wirksamen makroökonomischen Ursachen der deutschen Krise nicht angegangen werden, ist auch nicht mit mehr Wachstum und Beschäftigung zu rechnen.
Zum Weiterlesen
Klaus Bartsch, Eckhard Hein, Dierk Hirschel, Bernd Mülhaupt, Achim Truger: WSI Konjunkturbericht 2003: Mit koordinierter Makropolitik gegen die Stagnation! In: WSI Mitteilungen, 12/2003, 56. Jg., S. 695-711
Eckhard Hein, Bernd Mülhaupt, Achim Truger: Der WSI-Standortbericht 2002: "Schlusslicht Deutschland" - eine makroökonomische Interpretation. In: WSI Mitteilungen, 6/2002, 55. Jg., S. 307-318
Eckhard Hein, Bernd Mülhaupt, Achim Truger: Der WSI Standortbericht 2003: Standort Deutschland - reif für radikale Reformen?