Quelle: HBS
Magazin MitbestimmungWissenschaft: Mister Cloud
Jan Marco Leimeister hat die Crowd erforscht. Er attestiert ihr eine hohe Effizienz. Doch die Macht liegt bei den Auftraggebern. Auf der Seite der Auftragnehmer entsteht eine Zweiklassengesellschaft. Von Gunnar Hinck
Jan Marco Leimeister lehrt Wirtschaftsinformatik an den Universitäten Kassel und St. Gallen, ist 42 Jahre alt und, taucht regelmäßig in den Rankings des Handelsblattes als einer der innovativsten deutschen BWL-Professoren auf. Er sieht wie einer dieser jungen Internet-Start-up-Gründer aus, deren Gesichter man sich so schwer merken kann. Promoviert hat er über virtuelle Communitys im Gesundheitswesen. Jetzt hat er, finanziell unterstützt von der Hans-Böckler-Stiftung, die moderne Leiharbeit über das Internet untersucht, bei der die Arbeitnehmer juristisch selbstständig sind. Das Thema beschäftigt alle, allerdings gibt es bislang kaum verlässliche Daten.
„Arbeiten in der Wolke“ heißt Leimeisters Projekt für die Stiftung, aus dem zwei Veröffentlichungen hervorgehen sollen. „Wir wussten so gut wie nichts über die Menschen und die Plattformen, auf denen sie arbeiten“, beschreibt Leimeister die Ausgangslage. „Wolke“ ist eine Anspielung auf den englischen IT-Begriff „Cloud“. Er beschreibt die Arbeitsorganisation: Solo-Selbstständige sitzen dezentral an ihren Rechnern, bearbeiten eine von einem Unternehmen gestellte und an mehrere Interessenten verteilte Aufgabe, die dann von einer Plattform wieder zusammengesetzt wird. Danach nehmen sie einen anderen Auftrag an: Die Wolke ändert ihre Form und ihre Größe. Doch sie besteht nicht aus Wassertropfen, sondern aus Menschen.
Synonym für die menschliche Arbeitskraft
Die „Crowd“ ist die Masse austauschbarer Arbeiter, vom Einfachjob bis zum Spezialisten: „Crowd“ ist ein Synonym für die menschliche Arbeitskraft. Über die Zahl der Crowdworker in Deutschland ist wenig bekannt. „Es gibt ein Messbarkeitsproblem“, sagt Jan Marco Leimeister. „Zählen wir die auf den Plattformen Registrierten, die tatsächlich Aktiven oder das Arbeitszeitvolumen, umgerechnet in Vollzeitstellen?“ Im Schnitt ist ein Crowdworker auf zwei Plattformen registriert. Eine einzige deutsche Plattform wie Crowdguru hat allein 25 000 freigeschaltete Crowdworker. Auch bei ausländischen Plattformen wie Elance aus Kalifornien sind viele deutscher Freiberufler angemeldet. Nach einer Studie des Alexander von Humboldt Instituts für Internet und Gesellschaft arbeiten 19 Prozent der befragten Unternehmen mit Crowdworkern zusammen.
Für die Studie hat das Team um Jan Marco Leimeister 100 deutsche Plattformen analysiert. Was die Crowdworker angeht, konnten per Onlinefragebogen die Daten und Einstellungen von knapp 500 Crowdworkern gewonnen werden. Ein wichtiger Befund: Für knapp 80 Prozent der Crowdworker, gleich welchem Typ sie angehören, ist die Arbeit lediglich ein Nebenverdienst. Leimeister sieht drei Typen von Crowdworkern. Zum einen die „Hyperspezialisierten“, qualifizierte Designer oder Softwareentwickler, die fachlich spezialisierte Aufträge annehmen; für sie ist Crowdsourcing ein Kanal neben anderen, um an Aufträge zu kommen. Dann folgen die „Digital Natives“, zum Beispiel Computerfreaks, die sich über Softwaretests ein Zusatzeinkommen sichern. Schließlich gibt es die Gruppe der weniger gut Qualifizierten, die auf das Geld angewiesen sind, oftmals in abgelegenen, strukturschwachen Regionen leben und mangels Alternativen als Crowdworker arbeiten.
Das Angebot reicht von sogenannnten Microtask-Plattformen, wo einfachste Arbeiten zu erledigen sind – siehe den Bericht über einen Selbstversuch auf Seite 18, über Testing-Plattformen, die Software und Internetseiten auf Funktionalität prüfen, bis hin zu hoch spezialisierten Arbeiten. Auf den Microtask-Plattformen arbeiten somit die Crowdworker mit der prekärsten sozialen Lage. Unter ihnen sind über 40 Prozent Studenten, daneben auch Arbeitslose und Beschäftigte, für die Crowdwork ein notwendiges Zubrot ist, um über die Runden zu kommen. Auf den Plattformen, auf denen am wenigsten verdient werden kann, arbeiten mithin diejenigen, die jeden Cent brauchen.
Bei den Microtaskern erwirtschaften weniger als drei Prozent mehr als 500 Euro im Monat. Auf Testing-Plattformen sind immerhin über 15 Prozent Crowdworker unterwegs, die komplexere und damit besser entlohnte Aufgaben erledigen und mehr als 500 Euro verdienen. Die Crowdworker, die als Tester arbeiten, sind älter, außerhalb der Crowd häufiger in Vollzeit berufstätig; außerdem sind sie beruflich und schulisch besser qualifiziert. Wer Spezialkenntnisse vorweisen kann, der bekommt noch einmal mehr.
Eine neue Zweiklassengesellschaft
Die Arbeitskräfte der Crowd teilen sich, so scheint es, in zwei Gruppen auf. Auf der einen Seite stehen relativ gut bezahlte Spezialisten, auf der anderen Seite bildet sich ein digitales Prekariat heraus, dessen schwierige soziale Lage im analogen Arbeitsleben sich digital fortsetzt. Andererseits bietet Microtasking Menschen in strukturschwachen Regionen, die sich in einer beruflich prekären Lage befinden, Möglichkeiten zur Erwerbsarbeit, die es vorher möglicherweise gar nicht gab. Doch wenn Crowdworker die Wahl hätten, würde immerhin die Hälfte von ihnen in eine Festanstellung wechseln.
„Eine Festanstellung wird immer dann bevorzugt, wenn sie mit Freiheitswünschen vereinbart werden kann. Wenn die Alternative eine starre Form der Festanstellung ist, würde die Mehrheit bei der Freiberuflichkeit bleiben“, sagt Studienleiter Leimeister. Er spricht aber auch von einem „hohen Frustrationspotenzial“, besonders bei den Designplattformen, weil die Netz-Arbeiter bis zur endgültigen Entscheidung des Auftraggebers nicht wissen, ob sie für ihren Entwurf überhaupt entlohnt werden. Es wundert nicht, dass Design-Crowdworker mit großer Mehrheit in eine Gewerkschaft eintreten würden. Insgesamt sagt das aber lediglich die Hälfte der Crowdworker. Leimeister erklärt dies auch mit dem hohen Anteil nebenberuflich Tätiger. Nicht wenige dürften Schüler und Studenten sein.
Beunruhigend ist das starke Machtgefälle zwischen den Auftraggebern und den Plattformen auf der einen und den Crowdworkern auf der anderen Seite, wie sie Leimeister feststellt. Die Crowdworker müssen ohne Chance auf Intervention die AGB, die allgemeinen Geschäftsbedingungen, akzeptieren. Sie müssen unterschreiben, dass sie ihre Ideen und Produkte nicht außerhalb der Plattform verwenden, gleichzeitig ist unklar, was eine Plattform eigentlich mit den Leistungen macht, die sie abgelehnt und nicht bezahlt hat. Eine klare Regelung fehlt, die verhindert, dass diese Vorschläge nicht doch irgendwann verwendet werden, ohne dass dafür bezahlt wird.
Das Macht-Ungleichgewicht zeigt sich auch in der Sprache. Design-Plattformen loben „Wettbewerbe“ aus und versprechen ein „Preisgeld“, was nach Freizeit und Spaß klingt. Damit wird verdeckt, dass es um Arbeit geht und über solche Wettbewerbe mehrere fertige Produkte hergestellt werden, von denen nur eines bezahlt wird. Deutsche Plattformen wie designenlassen.de schreiben etwas großspurig „Projekte“ aus, während die eingereichten Arbeiten zu unverbindlichen „Vorschlägen“ degradiert werden. In der vordigitalen Welt hätte man von Aufträgen gesprochen, die ein Freiberufler bekommt oder nicht.
Neulinge auf einer Plattform müssen außerdem wie Lehrlinge unten anfangen. Sie dürfen zunächst nur einfache Jobs annehmen und können so langsam in der Hierarchie aufsteigen. Auch beliebt sind Bewertungssysteme, bei denen die Crowdsourcer – die Auftraggeber – Crowdworker bewerten, aber nicht umgekehrt. Ein Paradox: Obwohl sich Crowdsourcing als Produktionsform der Zukunft versteht, bedient es sich archaischer Muster; die Hierarchien sind nicht flach, sondern ziemlich steil. Viele fragen sich sorgenvoll, ob so die Arbeit von morgen aussieht: zurück in die Zukunft?
Wie wichtig ist der neue Trend?
Über die Bedeutung von Crowdwork wird auch in der Kommission Arbeit der Zukunft gestritten, die Hans-Böckler-Stiftung und DGB einberufen haben. Sie soll den fundamentalen Wandel der Arbeitswelt untersuchen. Jan Marco Leimeister gehört ihr an ebenso wie der Arbeits- und Wirtschaftssoziologe Gerhard Bosch, der die Entwicklung kritischer sieht. Während Leimeister sich vorstellen kann, dass viele Menschen in der Zukunft mehrere Jobs haben werden, darunter womöglich einen Crowdwork-Job, warnt Bosch vor einem „schlecht bezahlten ‚Cybertariat‘, das meist keine eigene Alterssicherung aufbauen kann und die Sozialsysteme belasten wird“.
Auch glaubt Bosch, Unternehmen würden sich hüten, „sensible Tätigkeiten nach außen zu vergeben, die zu ihrem Kerngeschäft gehören“. Zudem wachse die Beschäftigung am stärksten in standortgebundenen Tätigkeiten wie dem Handel, der Erziehung, dem Gastgewerbe oder der Pflege. Den Anteil von Crowdwork am Arbeitsmarkt sieht Bosch auch in Zukunft im „unteren einstelligen Prozentbereich“. Einig sind sich die Mitglieder der Kommission darüber, dass die Gewerkschaften auch dann, wenn Crowdworking nicht die dominierende Arbeitsform wird, sondern nur, wie Leimeister es formuliert, das „Repertoire der Arbeitsformen erweitert“, auf die rasante Entwicklung reagieren müssen – etwa, indem sie den Arbeitnehmerbegriff angesichts immer unklarerer Rollenzuweisungen – ein Crowdworker ist formal selbstständig, aber de facto abhängig – weiterentwickeln. Unterschiedliche Meinungen freilich gibt es über die Frage, wie stark der Staat bei der Regulierung von Crowdwork eingreifen soll. Manche Stimmen in der Kommission plädieren für einen aktiven Staat, andere würden neue, nichtstaatliche Institutionen als Clearingstellen bevorzugen.Für den Crowd-Forscher Leimeister ist eine entscheidende Frage, ob und wie sich künftig Machtgleichgewichte erreichen lassen. Er sagt, es brauche „faire Spielregeln“, damit aus Crowdwork „gute digitale Arbeit“ werde. Das hierarchische Prinzip, dass der Einzelne unten anfangen muss, erklärt er mit den Zwängen automatisierter Prozesse: Die Plattform braucht eine Logik, nach der sie ihre Mitarbeiter bewerten kann. Wenn andere Merkmale fehlen, greift sie darauf zurück, wie lange der Crowdworker dabei ist. Leimeister erwartet, dass sich die Plattformen weiterentwickeln werden. Er kann sich vorstellen, dass sich neue Formen der Mitbestimmung herausbilden werden, die über Betriebsgrenzen hinausgehen. Ihm schwebt ein Szenario von „Graswurzel-Aktivitäten vor, die ohne Institutionalisierungen auskommen“.
Das mag manchem zu vage erscheinen. Gerhard Bosch erinnert daran, dass auch grundlegende Fragen wie die Vergütung nicht vernünftig geregelt sind: „Eine anonyme Masse kann leicht ausgebeutet werden. Wie in anderen freien Berufen muss es daher eine Vergütungstabelle geben, und Sozialabgaben müssen in die Aufträge eingepreist werden.“
Typologie der Crowdworking-Plattformen
Microtask-Plattformen Hier werden relativ einfache Aufgaben in kleinste Einzelteile zerlegt und verteilt. Die Arbeit erfordert wenig Aufwand und Vorbereitung – eine Art digitale Fließbandarbeit. Beispiele sind das Texten von einfachen Bildunterschriften für Kataloge oder Rechtschreibüberprüfungen. Per App werden Öffnungszeiten überprüft oder Geschäfte fotografiert. Durchschnittsverdienst pro Person und Monat (in der Regel Teilzeit): 144 Euro
Marktplatz-Plattformen Die Plattformen spielen eine eher passive Rolle und dienen oft als reine Vermittler zwischen Auftraggeber und Crowdworker. Die Studie nennt als Beispiel die Plattform Voicebunny, die Sprecher für Werbespots oder E-Learning-Programme vermittelt. Für Marktplatz-Plattformen sind spezialisierte Kenntnisse nötig, die Aufgaben sind relativ komplex. Durchschnittsverdienst pro Person und Monat (in der Regel Teilzeit): 660 Euro
Testing-Plattformen Diese Plattformen suchen Crowdworker, die neue Software auf Fehler oder Websites auf ihre Nutzerfreundlichkeit testen. Die Plattform fügt die Einzeltests zu einem Gesamtergebnis zusammen und übermittelt dieses an den Auftraggeber. Durchschnittsverdienst pro Person und Monat (in der Regel Teilzeit): 420 Euro
Design-Plattformen Diese Plattformen nutzen Auftraggeber, um etwa ein neues Logo gestalten zu lassen. Das Verfahren ist als „Wettbewerb“ konzipiert. Der Auftraggeber wählt eine Leistung aus, der Gewinner erhält ein Honorar. Die anderen gehen leer aus und haben ohne Entlohnung gearbeitet. Durchschnittsverdienst pro Person und Monat (in der Regel Teilzeit): 660 Euro
Innovationsplattformen Die Aufgaben müssen, anders als sonst, nicht innerhalb einer vorgegebenen Zeitspanne erledigt werden. Die Crowdworker können sich austauschen und arbeiten gemeinsam an einer Lösung. Es geht darum, Ideen und Verbesserungsvorschläge zu liefern. Diese Art von Plattformen wurde von den Forschern rund um Marco Leimeister nicht näher berücksichtigt, da sie sogenannten „Open Communities“ ähneln. Durchschnittsverdienst pro Person und Monat: keine Angabe