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Mercedes-Werker Mehmet Etli und Manfred Beller: Magazin Mitbestimmung

Autoindustrie: „Mentalitäten sind sehr zählebig“

Ausgabe 05/2023

Der Verbrenner steht vor dem Aus, das E-Mobil kommt. Wie verkraften Belegschaften bei Deutschlands Autobauern die Verkehrswende? Von Andreas Schulte

Zu seinem Glück arbeitet Manfred Beller in der Achsfertigung – seit gut 30 Jahren schon. Bereits seine Ausbildung hat er bei Mercedes in Stuttgart gemacht. Jetzt ist er 51. Seither immer nur Achse, immer nur Stuttgart. „Veränderung bedeutet Verunsicherung“, sagt der Vater von drei Kindern. Die Achse hingegen bedeutet Konstanz, denn längst nicht alle Teile eines Verbrenners werden auch bei einem Elektroauto gebraucht. Bei der Achse ist das anders. Das ist sein Glück. Die Beschäftigten in der Motorenfertigung beispielsweise müssen viel mehr umlernen als er. Manche wird man gar nicht mehr brauchen.

Eine Beschäftigungsgarantie haben sie alle. „Trotzdem fragt man sich, wie es weitergeht“, sagt der Nachrücker für den Betriebsrat. Vor allem für die Jungen gehe Planungssicherheit verloren. „Man will doch ein Häusle bauen“, hört er häufig. Früher war das leichter mit den eigenen vier Wänden. Ein Job bei Mercedes gab Sicherheit für Generationen. Auch Manfreds Eltern arbeiteten beim Autobauer mit dem Stern: die Mutter in der Kantine, der Vater in der Gießerei. Manfreds Söhne haben beide bei Mercedes gerade erst ihre Ausbildung begonnen. Das freut ihn. „Als Familie tragen wir den Stern auf der Brust“, sagt er. Früher allerdings habe es ihn noch mehr mit Stolz erfüllt, für Mercedes zu arbeiten. „Da schlägt sich die unsichere Zukunft nieder“, sagt er. Am liebsten hätte er die Beschäftigungsgarantie bis zur Rente. „Und einen sicheren Arbeitsplatz für meine Kinder“, ergänzt er.

Nicht nur Manfred Beller spürt die Auswirkungen der Transformation. Die Verkehrswende mitsamt der Umstellung auf das E-Auto ist in vollem Gange. Ob bei Mercedes, VW oder Ford: In Deutschlands großen Autowerken herrscht Unsicherheit. Arbeitsplätze und Jobbeschreibungen stehen zu Tausenden auf dem Spiel. Und dies wirkt sich auf die mentale Verfassung von Belegschaften und Beschäftigten aus. „Was neu ist, ist für die meisten Stress“, sagt Hans Lawitzke, stellvertretender Vertrauenskörperleiter der IG Metall bei Ford. Strukturwandel, Stellenstreichung, Stress. Solche Faktoren sind auch Bestandteile des wissenschaftlichen Diskurses. Forscher des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen (SOFI) haben, gefördert von der Hans-Böckler-Stiftung, im Hinblick auf einen möglichen Mentalitätswandel von Beschäftigten in der Region Stuttgart 22 Interviews mit Beschäftigten geführt und ausgewertet.

Die Wissenschaftler Knut Tullius, Berthold Vogel und Harald Wolf fanden dabei heraus, dass die Mentalitäten, also Haltungen und praktische Orientierungen in Arbeit und Leben, von Produktionsmitarbeitern maßgeblich durch Werte wie Leistungsstolz, Familie und das Bedürfnis nach Absicherung geprägt sind. Innerhalb dieser Generation wird sich daran trotz fortschreitender Transformation wenig ändern. Denn der Dreh- und Angelpunkt der automobilen Arbeits- und Lebensweise ist mit dem E-Auto vorerst gerettet. „Die Beschäftigten erleben Veränderungen anpassungsstark. Mentalitäten sind zählebig“, sagt Knut Tullius. Allerdings gerieten sie allmählich „in Gärung“.

Die mentale Stärke der Beschäftigten mag überraschen. Ford und Volkswagen schätzen, dass E-Autos 30 Prozent weniger Arbeitskräfte benötigen als Verbrenner. Das Beratungsunternehmen Alix Partners geht davon aus, dass für die Motoren und die Batterie eines Elektroautos 40 Prozent weniger Arbeitskräfte benötigt werden als für den Antriebsstrang eines Verbrenners. Angst oder Wut hätten sie in ihren Gesprächen dennoch eher nicht erlebt, berichtet Forscher Tullius, aber es herrsche Verunsicherung. Die Gründe: Produktionsverlagerungen, veränderte berufliche Perspektiven der eigenen Kinder und die künftige Entwicklung der Region. So manche Bindung wird bereits infrage gestellt. „Allmählich verblasst der Betrieb als Identifikationsort“, sagt Tullius.

Diese Beobachtung teilt Mehmet Etli. Der 43-Jährige arbeitet seit elf Jahren bei Mercedes in Stuttgart in der Qualitätssicherung und Instandhaltung. Trotz der Beschäftigungsgarantie will der Autobauer schrumpfen. „Vielen Kollegen wird ein Ausscheiden aus dem Betrieb mit einer hohen Abfindung versüßt“, sagt Etli. So gehe nicht nur Know-how verloren, zudem würden Lücken in der Belegschaft zunehmend mit Leiharbeitern gestopft. Die Entwicklung gleicht einer Kerze, die von beiden Seiten abbrennt. „Auf der einen Seite identifizieren sich zeitlich befristete Leihbeschäftigte ohnehin selten mit ihrem Arbeitgeber am Einsatzort. Auf der anderen Seite geht die Identifikation der Stammbelegschaft langsam verloren, weil sie diese Vorgehensweise des Arbeitgebers missbilligt“, sagt Mehmet Etli.

Dass allerdings der Zusammenhalt der Belegschaften unter der Transformation leidet, sieht er nicht. „Es gibt drei Lager: Wir haben Gegner der Transformation. Wir haben Skeptiker, die noch technische Bedenken beispielsweise hinsichtlich der Batterie und der fehlenden Infrastruktur äußern. Und wir haben die Befürworter.“ Die Konstellation bleibt aber bislang ohne Brisanz. „Es wird viel diskutiert, aber nicht gestritten. Eine Spaltung der Belegschaft haben wir hier nicht“, sagt Mehmet Etli. Dies könnte unter anderem ein Verdienst der Mitbestimmung sein. 

  • Hans Lawitzke, stellv. IG-Metall-Vertrauenskörperleiter bei Ford

Was neu ist, ist für die meisten Stress.“

Hans Lawitzke, stellvertretender Vertrauenskörperleiter der IG Metall bei Ford

So sieht es Hans Lawitzke bei Ford in Köln. Auch dort sei kein Keil zwischen die Beschäftigten getrieben. „Ob es Spannungen in der Belegschaft gibt, hängt entscheidend von der Kommunikation der Betriebsräte und Gewerkschaften ab. Wenn wir offene Fragen und Zusammenhänge transparent erläutern, bleiben die Reihen geschlossen. Bei gefühlt 90 Prozent der Fordianer ist uns das gut gelungen.“ Die verbliebenen zehn Prozent bereiten ihm Sorge. „Genau wie in der Gesellschaft haben wir auch im Betrieb Menschen, die man kaum mehr erreicht, die beispielsweise an eine Verschwörung etwa durch die IG Metall oder die Grünen glauben.“ Die Transformation leistet der Abwehrhaltung Vorschub: „Wer 40 Jahre lang Verbrennungsmotoren gebaut hat und nun spürt, dass für diese Leistung gesellschaftliche und betriebliche Anerkennung schwindet, empfindet eine Sinnentleerung“, sagt Lawitzke.

  • Florian Hirsch, Vertrauenskörperleiter bei VW

Nichts ist schlimmer als ständige Unsicherheit.“

Florian Hirsch, Vertrauenskörperleiter bei VW

Ähnlich beobachtet dies Florian Hirsch. Der Vertrauenskörperleiter bei VW in Wolfsburg hat für das IG-Metall-Projekt „Transformation erzählen“ mit vielen Beschäftigten der Autoindustrie gesprochen. „Nichts ist schlimmer als ständige Unsicherheit“, sagt er. Allerdings könne man die Angst vor dem Unbekannten wirksam bekämpfen. Dabei spiele die  Mitbestimmung eine wichtige Rolle. „Denn durch ihre Initiativen können Beschäftigte Veränderungsprozesse aktiv mitgestalten.“ In Projekten können etwa jüngere Beschäftigte älteren bei neuen, meist digitalen Prozessen unter die Arme greifen, während die Jungen von der Erfahrung der Älteren profitieren. „Das wirkt sich positiv auf die Identifikation aus“, sagt Hirsch. „Viele identifizieren sich auch wegen der Mitbestimmung weiterhin mit ihrem Betrieb.“

Schuldige für ihre unsichere Lage finden Beschäftigte in der Politik und beim Arbeitgeber. „Bei uns gibt es einige Gegner der Transformation, die dem Arbeitgeber vorhalten, sich nicht gegen die Politik durchsetzen zu können“, sagt Mehmet Etli. Andere werfen Medien und Politik vor, keinen Klartext zu reden. Aber Wischiwaschi-Formulierungen könne keiner gebrauchen. „Sie schüren die Unsicherheit der Menschen eher, als dass sie Ruhe reinbringen.“

Weitere Informationen:

Knut Tullius/Harald Wolf/Berthold Vogel: Abschied von gestern. Mentalitäten und Transformationserfahrungen von Arbeitnehmer*innen in der Automobilindustrie in der Region Stuttgart. Working Paper Forschungsförderung Nr. 276, März 2023

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