Quelle: Cordula Kropke
Magazin MitbestimmungMontanindustrie: Menschen machen Stahl
Bei Arcelor Mittal in Bremen sollen auch die Beschäftigten von der Umrüstung auf „grünen“ Stahl profitieren. Betriebsrat und Gewerkschaft treiben das Zukunftsprojekt voran – unterstützt von der Förderlinie Transformation der Hans-Böckler-Stiftung. Von Joachim F. Tornau
Ute Buggeln hat keinen Grund, tiefzustapeln. „Was wir hier vorhaben“, sagt die Geschäftsführerin der IG Metall in Bremen, „ist ein Gegenmodell zu dem, was gerade bei Volkswagen oder Thyssenkrupp passiert.“ Die Stahlhütte von Arcelor Mittal ist in Bremen mit 3500 Beschäftigten der zweitgrößte Arbeitgeber und zugleich verantwortlich für die Hälfte aller CO2-Emissionen der Stadt. Wenn das Flachstahlwerk längerfristig eine Zukunft haben soll, führt an einem Umstieg auf Stahl, hergestellt mit klimaneutral produziertem Wasserstoff, kein Weg vorbei. Diese technologische Umwälzung soll aber nicht auf Kosten von Beschäftigten und Mitbestimmungskultur gehen, sondern Hand in Hand gehen mit einer sozialen Transformation.
Auf Initiative von Buggeln, die auch stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende der montanmitbestimmten Hütte ist, verabschiedete der Aufsichtsrat im März 2023 eine Erklärung zur gemeinsamen Gestaltung des nachhaltigen Wandels. Es müsse der Anspruch sein, heißt es in dem fünfseitigen Papier, die Beschäftigten miteinzubeziehen, Zukunftschancen zu entwickeln sowie Orientierung und Sicherheit im Wandel zu geben. Unter dem Motto „Menschen machen Stahl“ wird seither versucht, das mit Leben zu füllen.
Eine Befragung der Beschäftigten ergab deutliche Resultate: 85 Prozent gehen davon aus, von den Umbrüchen direkt betroffen zu sein. Nur vier Prozent sehen keinerlei Chancen im Transformationsprozess. Aber: Zwei Drittel fühlen sich nicht ausreichend informiert. Damit sich das ändert, bildete die IG Metall gemeinsam mit dem Berufsfortbildungswerk des DGB 24 Kolleginnen und Kollegen zu „Zukunftslotsen“ aus, die den ständigen Austausch mit der Belegschaft suchen und für alle Fragen rund um Transformation und Weiterbildung ansprechbar sind. „Eine richtig gute Sache“, sagt Betriebsratsvorsitzender Mike Böhlken. „Sie erfragen, wo es knirscht, was die Leute nervt und wie wir das ändern können.“
Das Berufsfortbildungswerk berät den Bremer Unternehmensvorstand und die Betriebsräte zudem bei der strategischen Personalplanung, ermittelt veränderte Kompetenzanforderungen, entwickelt Weiterbildungsinitiativen – und zeigt dabei auch auf, was in der Vergangenheit versäumt wurde. Etwa den demografischen Wandel so ernst zu nehmen, wie der Betriebsrat das immer wieder vergeblich angemahnt hatte. „In zehn Jahren werden bei uns 1500 Leute altersbedingt weg sein“, sagt Böhlken. „Das wollte der Arbeitgeber bislang nie hören.“ Jetzt aber hat das Unternehmen reagiert und angekündigt, die Zahl der Ausbildungsplätze auf 130 zu verdoppeln.
Vorangetrieben wird „Menschen machen Stahl“ vor allem von Gewerkschaft und Betriebsrat. Die IG Metall hat dafür zwei Millionen Euro an Fördergeldern beschafft und Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) als Schirmherr gewonnen. Die Hans-Böckler-Stiftung finanziert eine wissenschaftliche Begleitforschung durch das Institut für Arbeit und Wirtschaft (IAW) der Universität Bremen. „Die wissenschaftliche Theorie gibt kaum Antwort auf die Frage, was eigentlich der soziale Teil der sozial-ökologischen Transformation ist“, sagt IAW-Forscherin Franziska Laudenbach. „In der Praxis ist das ganz anders.“ Die Politikwissenschaftlerin untersucht, was in Bremen gut und was weniger gut funktioniert, wie die verschiedenen Akteure interagieren, wo es Reibung und Interessenkonflikte gibt.
Ernüchterung ist eingekehrt
Die Gewerkschafterin Buggeln erklärt, die Betriebsräte müssten „neben der Aufgabe, Bestehendes zu schützen, auch eine Haltung zur Zukunft des Betriebs einnehmen“. Das sei ausgesprochen kompliziert, vor allem, wenn man es auf Arbeitgeberseite mit einem Gegenüber zu tun habe, das von Konzernentscheidungen abhängig ist. Der Konzern hadert – trotz staatlicher Förderzusagen über 1,2 Milliarden Euro – seit Monaten mit der Entscheidung für die Umrüstung seiner beiden Werke in Bremen und Eisenhüttenstadt auf grüne Stahlproduktion. Niemand mag sich festlegen, ob die dafür nötige Direktreduktionsanlage tatsächlich gebaut wird. Ähnlich überprüft auch der Konkurrent Thyssenkrupp derzeit seine Pläne zum grünen Umbau. Nach dem anfänglichen Hype um grünen Stahl ist mittlerweile Ernüchterung eingekehrt. Ist überhaupt ausreichend grüner Wasserstoff verfügbar? Und zu welchen Kosten? Kann grüner Stahl preislich gegen Konkurrenz aus China und den USA bestehen? Klare Antworten gibt es einstweilen nicht. Und was heißt das für „Menschen machen Stahl“? „Wenn die Investition bei uns in Bremen nicht kommt, verändert das alles“, betont Ute Buggeln. „Dann setzen wir das Projekt ‚on hold‘ und schalten in den Widerstandsmodus.“
Auch für die IG Metall sei die Lage ausgesprochen fordernd. „Mit unserem Agieren wecken wir Erwartungen, und die gilt es, nicht zu enttäuschen“, sagt Buggeln. „Als Gewerkschaft brauchen wir eine kritische Reflexion aus wissenschaftlicher Perspektive, was uns diese Gestaltungsaufgabe als Organisation abverlangt.“ Hier bewährt sich das Zusammenspiel mit dem IAW. „Alles, was wir herausfinden“, sagt die Wissenschaftlerin Franziska Laudenbach, „wird zurückgespiegelt an Gewerkschaft und Betriebsrat.“
Finanziert wurde die IAW-Expertise durch die Förderlinie Transformation der Hans-Böckler-Stiftung. Genau für derartige Problemlagen hat die Stiftung dieses Förderinstrument vor zwei Jahren aufgelegt. Für Manuela Maschke, die das Programm koordiniert, geht es darum, „akademisches Wissen praxisorientiert mit dem Erfahrungswissen von Mitbestimmungsakteuren zu verknüpfen, um kurzfristig und sehr konkret zu Lösungen für die Herausforderungen der Transformation zu kommen“. 30 betriebliche und regionale Projekte wurden bereits gefördert, in Großbetrieben wie in mittelständischen Unternehmen, verteilt über nahezu sämtliche Branchen.
„Das zeigt, dass der Veränderungsdruck jetzt überall richtig durchschlägt“, sagt Maschke. „Der Bedarf an Unterstützung ist groß.“
Eine allgemeingültige Blaupause lässt sich aus den bisherigen Ergebnissen nicht ableiten, dafür sind die Projekte zu sehr auf den Einzelfall zugeschnitten. Aber eines, sagt Maschke, lasse sich schon verallgemeinern: dass die Projekte Wirkung zeigen. „Wir haben viele Rückmeldungen bekommen, dass im Betrieb Resonanz entsteht und Impulse gesetzt werden.“
Checkliste für die Zukunft
Was das heißt, sieht man bei Merck in Darmstadt. Da wirkt das Projekt sogar über die Grenzen Deutschlands hinaus. Auch der Pharma- und Technologiekonzern setzt immer stärker auf Digitalisierung. Zusammen mit dem Frankfurter Wissenschaftler Klaus West hat das Euroforum, so heißt bei Merck die europäische Beschäftigtenvertretung, deshalb eine Checkliste für dieses Zukunftsthema entwickelt und an zunächst sechs Standorten in Frankreich, Spanien und Deutschland getestet. „Betriebsräte haben ein ungeheures Pfund“, sagt West. „Sie verfügen über Alltagswissen hinsichtlich der Umsetzung der Digitalisierung, im Guten wie im Schlechten.“
Die detaillierte Checkliste ermögliche es ihnen, diese Erfahrungen systematisch mit Indikatoren zu erfassen und zu einer Position zu verdichten, mit der sie dem Management noch selbstbewusster gegenübertreten können – weil sie zeigen können, wo das Unternehmen Geld verliert. Von „Empowerment“ spricht West und von „Gegenmachtprozessen“. Sandra Monja Scherer, die Vorsitzende des Euroforums, drückt es etwas bescheidener aus: „Es ist ein Zeichen von Kompetenz, kluge Fragen zu stellen. Man wird dann anders wahrgenommen.“
Scherer und ihre Vertreterin Michele Knöll wollten im Zuge des Checklistenprojekts zum Beispiel wissen, ob es bei Merck eigentlich eine zentrale Stelle gibt, an der länderübergreifend alle IT-Tools erfasst werden. Was ja nicht nur wichtig wäre, um teure Doppelbeschaffungen zu vermeiden, sondern auch, um wirksam gegen mögliche Verhaltens- und Leistungskontrollen vorgehen zu können. „Diese einfache Frage hat viele Verwerfungen aufgeworfen“, sagt Scherer. „Wir sind von Hinz zu Kunz verwiesen worden, bis wir erfahren haben: Es gibt dafür zwar eine Plattform, aber bekannt ist sie kaum.“ Das soll sich jetzt ändern. „So ganz falsch“, folgert die Euroforumsvorsitzende mit leisem Understatement, „war die Frage wohl nicht.“
Erklärung des Aufsichtsrats von Arcelor Mittal Bremen „Gemeinsam den nachhaltigen Wandel gestalten“
Ausführliche Informationen zur Förderlinie Transformation, auch zur Digitalisierungscheckliste bei Merck, finden sich in der Broschüre: Die Förderlinie Transformation. Daten und Projekte. Düsseldorf 2024.