Quelle: Gerngross Glowinski
Magazin MitbestimmungArbeitsmarkt: Mehrheit für handlungsfähigen Staat
Licht und Schatten des Beschäftigungsbooms diskutierten Expertinnen und Experten auf dem WSI-Herbstforum des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung. Von Gunnar Hinck
Achim Truger stöbert gern in Bahnhofsbuchhandlungen. „Da liegen Bücher von Thomas Piketty, der ist ein Star“, erzählte der Wirtschaftsweise beim WSI-Herbstforum mit Blick auf den bekannten französischen Ökonomen, der über Vermögensungleichheit forscht. „2003 bis 2005 hätte dort das 101. radikale Strukturreformbuch gelegen.“ Achim Truger meinte jene Bücher, die weniger Staat forderten. Truger, hauptberuflich Professor an der Universität Duisburg-Essen, gehörte zu den Rednern und Mitdiskutanten des diesjährigen Herbstforums in Berlin, bei dem es vor 230 Besuchern um „Licht und Schatten des Beschäftigungsbooms“ ging. Achim Truger betrat in seiner neuen Eigenschaft als Mitglied des Sachverständigenrats zum ersten Mal eine Bühne der Hans-Böckler-Stiftung.
Truger lobte die gewandelten Denkstrukturen in den wirtschaftspolitischen Debatten. Habe der Staat vor 15 Jahren unter vielen Ökonomen und in der Politik als Wohlstands- und Wachstumsbremse gegolten, sei es jetzt Mehrheitsmeinung, dass man einen handlungsfähigen Staat brauche. Das aktuelle Jahresgutachten, merkte Truger an, ist betitelt mit: „Den Strukturwandel meistern“. „Früher wäre der Titel wohl gewesen: Den Strukturwandel als Chance begreifen.“ Die Rolle des Staates hätten die Wirtschaftsweisen früher eher als passive gesehen, sogar in Zeiten der Rezession. Heute dagegen sei die Auffassung, dass die Konjunktur in Krisenzeiten durch öffentliche Investitionen gestützt werden muss, wieder weiter verbreitet.
Nicolas Schmit, der designierte EU-Kommissar für Arbeit und Soziale Rechte und ehemalige Arbeitsminister des Großherzogtums Luxemburg, kritisierte, dass Deutschland trotz seines Wohlstands zu wenig in digitale Infrastruktur investiert habe. Mit Blick auf die Digitalisierung nannte DGB-Chef Reiner Hoffmann die Sicherung der Tarifbindung als wichtige Aufgabe, gerade die Plattformökonomie setze sie weiter unter Druck. Hoffmann betonte in Bezug auf Arbeitnehmerrechte die Bedeutung der Europäischen Union. „Das sind Entwicklungen, die wir mit nationaler Regulation nicht mehr in den Griff bekommen und nur auf europäische Ebene aufhalten können“, sagte der DGB-Chef. „Wir brauchen europäische Spielregeln für den Arbeitsmarkt“, forderte er. Die Paderborner Soziologin Bettina Kohlrausch machte darauf aufmerksam, dass laut Studien viele Bürger die EU nicht als Garant für soziale Sicherheit sähen. Der Angst vor der Transformation hätten weder die Staaten noch die EU bislang etwas entgegensetzen können.
Denn der Beschäftigungsboom der vergangenen Jahre hat auch Schattenseiten. Die Zahl der Erwerbstätigen befindet sich zwar auf einem Höchststand, allerdings haben viele Arbeit, von der sie nicht leben können. Es entstehen zudem neue Gruppen von Arbeitnehmern, die für die konventionelle Arbeitsmarktpolitik unsichtbar bleiben und auf diese Weise neue Dynamik in die soziale Ungleichheit bringen. Karin Schulze Buschoff vom WSI beschrieb den Trend zur „hybriden Beschäftigung“ in Deutschland und Europa. Immer mehr Erwerbstätige kombinieren verschiedene Formen von Beschäftigung: Sie haben mehrere Teilzeitjobs, arbeiten als Solo-Selbstständige für verschiedene Auftraggeber oder kombinieren abhängige Beschäftigung mit Selbstständigkeit – eine Entwicklung, die auch durch die Crowdworking-Plattformen eine neue Dynamik bekommen habe.