Quelle: Bettina Kohlrausch
Magazin MitbestimmungSozialsysteme: Mehr soziale Sicherheit ist möglich
Die Pandemie hat gezeigt: In Krisen leiden Menschen, die schon vorher benachteiligt waren, mehr als andere. Die nächste Bundesregierung kann das ändern, wenn sie die Sozialversicherungssysteme neu regelt. Von Bettina Kohlrausch, Wissenschaftliche Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung
Die sozialen Sicherungssysteme und die Mitbestimmung haben in der Krise gezeigt, dass sie ein Garant für gesellschaftliche Teilhabe sind. Symbol für diese Stärke ist das Kurzarbeitergeld, ein solidarisch finanziertes Instrument, das viele Beschäftigte in der Krise vor Arbeitslosigkeit geschützt und finanzielle Einbußen abgemildert hat. Beschäftigte in mitbestimmten Betrieben und in tarifgebundenen Beschäftigungsverhältnissen kamen in der Regel besser durch die Krise, weil sie beispielsweise häufiger eine Aufstockung des Kurzarbeitergelds oder Zugang zu Weiterbildung erhalten haben. Sie hatten auch im Homeoffice meist bessere Arbeitsbedingungen.
Die Krise zeigte gleichzeitig, dass einige Gruppen, wie Selbstständige und Beschäftigte in Minijobs oder in Teilzeit, häufig nicht ausreichend abgesichert waren. Menschen, die schon vor der Krise mit einem geringen Einkommen auskommen mussten, erlebten in der Krise häufiger Einkommenseinbußen. Das ergaben Auswertungen des WSI auf Grundlage der Erwerbspersonenbefragung der Hans-Böckler-Stiftung.
Kinder erhöhen das Risiko
Das Gastgewerbe, das ohnehin eher geringe Gehälter zahlt, war in der Krise besonders von Kurzarbeit betroffen. Zudem erhielten Beschäftigte mit geringem Einkommen seltener eine Aufstockung des Kurzarbeitergelds, was auch daran liegt, dass sie seltener tarifgebunden beschäftigt waren. Auch Kinder erhöhten in der Krise das Risiko von Einkommenseinbußen. Auffällig ist, dass Menschen mit Migrationshintergrund – und zwar unabhängig von anderen Faktoren wie einer geringeren Qualifikation – häufiger auf Einkommen verzichten mussten.
Die Ergebnisse zeigen: Die Lasten der Pandemie sind ungleich verteilt. Ein Grund dafür liegt in der Logik der sozialen Sicherungssysteme, die immer noch zu stark von einer abhängigen Beschäftigung in Vollzeit ausgehen. Eine Logik, die insbesondere Frauen benachteiligt. Erwerbsarbeit ist aber ein zentraler Schlüssel für soziale Teilhabe. Dies betrifft sowohl die materielle Absicherung von Erwerbspersonen als auch die Möglichkeiten der demokratischen Teilhabe. In ihrem Arbeitsumfeld können Menschen ihre Erfahrung, ihr Können und ihre Interessen einbringen, um die Digitalisierung von Arbeit und den sozialökologischen Wandel zu gestalten. Eine wesentliche Aufgabe für die kommende Legislaturperiode wird daher darin bestehen, Mitbestimmung und die sozialen Sicherungssysteme so auszubauen, dass alle Beschäftigten davon profitieren.
Dazu sollten alle Beschäftigten in die sozialen Sicherungssysteme einbezogen werden – ab der ersten Arbeitsstunde. Vor allem Selbstständige wären besser vor sozialen Risiken geschützt, wenn abhängige und selbstständige Erwerbsarbeit in den Sozialversicherungen rechtlich gleichbehandelt würde. Auch eine gesetzliche Stärkung und Erweiterung der Tarifbindung würde viele Menschen besser absichern. Arbeitszeitverkürzung ist ein wichtiger Baustein, um Beschäftigung in der Transformation zu sichern. Zudem erleichtert sie die Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben und verbessert die gleichberechtigte Teilhabe von Männern und Frauen auf dem Arbeitsmarkt.