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Mitarbeiter im Logistikzentrum von Amazon beim Verladen von Paketen Magazin Mitbestimmung

Online-Handel: Mehr Schein als Sein

Ausgabe 01/2024

Amazon gibt sich gern weltoffen. Doch bei näherem Hinsehen nutzt das Unternehmen vor allem die prekäre Lage ausländischer Beschäftigter. Von Hugh Williamson

Wer bei Amazon einen Job sucht, trifft auf den Internetseiten auf ein Bild der Vielfalt, auf Menschen unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher Haut- und Haarfarben. Eines haben sie alle gemeinsam: Sie strahlen in die Kamera, als gäbe es nichts Schöneres, als Kartons hin- und herzuschieben, zu sortieren oder auszutragen. Amazon legt viel Wert auf sein weltoffenes Image – und pflegt es in millionenschweren Werbekampagnen. Laut Unternehmensangaben setzen sich die 36 000 Beschäftigten in Deutschland aus über 100 Nationalitäten zusammen. Die Website verheißt: „Wir setzen uns für Vielfalt und Integration ein.“

Doch mit der Arbeitswelt von Menschen aus anderen Nationen hat diese heile Welt bei Amazon – aber längst nicht nur dort – oft wenig gemeinsam. Der Anteil ausländischer Arbeitskräfte in den untersten Entgeltgruppen in Deutschland steigt. Laut Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichem Institut der Hans-Böckler-Stiftung (WSI) arbeiteten 2022 rund 3,6 Millionen Vollzeitbeschäftigte im Segment der Geringverdiener (Bruttomonatsverdienst unter 2.431 Euro). Während 2014 586 000 dieser Geringverdiener ausländischer Herkunft waren, stieg ihre Zahl bis 2022 auf 1,1 Millionen.

Stefan Thyroke, Leiter der Fachgruppe Logistik bei Verdi, stellt fest: „Die Beschäftigung im Logistiksektor wird in Deutschland immer prekärer, und Amazon ist Teil davon.“ Früher haben Unternehmen „Gastarbeiter“ rekrutiert, dann entsendete Arbeitnehmer aus anderen EU-Ländern, und jetzt setzen sie auf günstige Arbeitskräfte aus Nicht-EU-Staaten. Amazon ist in Deutschland mit über 100 Standorten vertreten. Beschäftigte aus Ländern des Nahen Ostens, aus Afrika und anderen Teilen der Welt machen oft zwei Drittel der Belegschaft aus. In den niedrigsten Entgeltgruppen liegt der Anteil sogar noch höher.

Viele dieser Arbeitskräfte sind erst seit Kurzem in Deutschland. Sie besitzen keine deutsche Staatsangehörigkeit, sprechen wenig Deutsch und kämpfen mit der Bürokratie, etwa mit einem Antrag auf Aufenthaltserlaubnis. Verdi-Vertreter und Amazon-Betriebsräte helfen, so gut es geht. Hedi Tounsi, Betriebsrat im Verteilzentrum von Amazon in Winsen bei Hamburg und Verdi-Mitglied, kam 2016 aus Tunesien nach Deutschland. Er schätzt, dass rund 90 Prozent der 2300 Beschäftigten am Standort aus Somalia, Eritrea, dem Irak und anderen Ländern kommen. Tounsi hilft Beschäftigten, die wenig Deutsch verstehen, etwa beim Schriftverkehr mit Behörden. Englisch gehört neben Deutsch inzwischen an vielen Amazon-Standorten zur Arbeitssprache. Im Amazon-Verteilzentrum Sülzetal bei Magdeburg hat es Arabisch inzwischen zur dritten Arbeitssprache gebracht.

Amazon nutzt die schwierige Situation der ausländischen Neueinsteiger – ungeklärter Aufenthaltsstatus, mangelnde Deutschkenntnisse und kaum Erfahrung mit vergleichbarer Arbeit – und stuft sie bei der Entlohnung erst mal ganz unten ein. Das erscheint seltsam vertraut. Ähnlich praktizierten es Auto- und Stahlkonzerne, mittelständische Fabrikherren und Müllabfuhren mit den „Gastarbeitern“ schon vor 50 Jahren. Aber immerhin: Ein Niedriglohnjob bei Amazon ist ein erster Schritt aus dem Transfersystem in den regulären Arbeitsmarkt – allerdings zu kärglichen Bedingungen.

Die geringe Bezahlung ist für die meisten Arbeitskräfte mit Migrationshintergrund das größte Problem. Das bestätigt auch Hedi Tounsi. Der Einstiegslohn liege bei 13 bis 14 Euro pro Stunde und damit nur wenig über dem Mindestlohn. „Die Kernforderung lautet: Mehr Geld für harte Arbeit!“, sagt er.

  • Hedi Tounsi, Betriebsrat im Amazon-Verteilzentrum in Winsen vor dem Betriebsgebäude

Aus Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, arbeiten viele Beschäftigte hart und halten die Klappe.“

HEDI TOUNSI, Betriebsrat im Amazon-Verteilzentrum in Winsen

Unsichere Beschäftigungsverhältnisse sind ein weiteres Problem für Menschen ohne gesichertes Aufenthaltsrecht. Viele Amazon-Standorte setzen Leihbeschäftigte ein und übernehmen nur wenige von ihnen in Festanstellung. An anderen Standorten stellt der Onlinehändler oft nur befristetet ein. Doch wer in Deutschland nur geduldet ist, braucht einen  Arbeitsvertrag, um bleiben zu können. Tounsi berichtet: „Aus Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, arbeiten viele Beschäftigte hart und halten die Klappe.“

Beschäftigte, deren Aufenthaltsgenehmigung abläuft, haben von Amazon wie auch von vielen anderen Arbeitgebern in der Regel keine Unterstützung zu erwarten, erzählt ein Betriebsrat, der wie einige andere lieber anonym bleiben möchte. Auch Nonni Morisse, Verdi-Sekretär für das Amazon-Projekt in Niedersachsen und Bremen, berichtet von Fällen, „in denen Amazon bei drohender Abschiebung untätig blieb“. In Wunstorf bei Hannover drohte einem Verdi-Mitglied und Betriebsratsnachrücker aus Westafrika 2022 die Abschiebung. Amazon lehnte es ab, tätig zu werden, aber Verdi startete eine Kampagne: Die Aufenthaltsgenehmigung des Kollegen wurde verlängert.

Morisse glaubt, dass es Amazon nicht wichtig ist, Beschäftigte zu halten, eher im Gegenteil: Mitarbeiterfluktuation ist seiner Meinung nach Teil des Geschäftsmodells. Peter Birke, Wissenschaftler am Soziologischen Forschungsinstitut der  Universität Göttingen, teilt diese Einschätzung. Er ist Autor des Buchs „Grenzen aus Glas. Arbeit, Rassismus und Kämpfe der Migration in Deutschland“, für das er Interviews mit Amazon-Beschäftigten geführt hat. Der Ansatz von Amazon, so Birke, erzeuge „einen doppelten Druck auf ausländische Beschäftigte, der sich auf den Erhalt eines Amazon-Vertrags und die Unsicherheit hinsichtlich der Aufenthaltsgenehmigung bezieht.“

Amazon beteuert, die Unterstützung ausländischer Arbeitskräfte sei ein wichtiges Anliegen. Das Unternehmen hat Richtlinien gegen rassistische Sprache und Diskriminierung am Arbeitsplatz erstellt und setzt an einigen Standorten Sozialarbeiter ein, wie Jana Rothe in Sülzetal bei Magdeburg. Beschäftigte mit Migrationshintergrund suchen regelmäßig ihre Unterstützung. Sie hat Kolleginnen geholfen, die häusliche Gewalt erfahren haben, und sie berät bei Problemen mit dem Aufenthaltsrecht. „Die Ausländerbehörde ist überlastet. Ich habe dort Kontakte, kann bei der Terminvereinbarung helfen und sicherstellen, dass der Papierkram erledigt ist.“

Sozialarbeiter dieser Art gibt es auch an den Standorten in Gera, Leipzig und Werne bei Dortmund. Eine Amazon-Sprecherin erklärt, dass in Deutschland 2023 eine Art Willkommensprogramm für Arbeitsmigranten eingeführt wurde, das „Leistungen wie die Erstattung von Gebühren im Zuge der Zuwanderung und juristische Unterstützung beinhalten kann“. Das ist lobenswert und könnte Vorbild für andere Unternehmen sein. Allerdings gehört zu einem wirklichen Willkommensprogramm für ausländische Arbeitskräfte vor allem eins: die Begrüßung mit einem fair bezahlten und sicheren Arbeitsplatz. Aber da hinkt der größte Onlinehändler der Welt leider immer noch weit hinterher.

Neue Wege

In der Auseinandersetzung mit Amazon beschreitet Verdi jetzt neue Wege. Die Gewerkschaft hat mit der Beschäftigung von Projektsekretären für Amazon in Bayern, Rheinland-Pfalz, Berlin und Brandenburg sowie mit Nonni Morisses Stelle in Norddeutschland einen Anfang gemacht. Eine weitere Kollegin wird ab Frühjahr 2024 Nordrhein-Westfalen betreuen.

Die Verdi-Sekretäre beraten Betriebsräte, unterstützen betriebliche Protestaktionen und erstellen Flugblätter in verschiedenen Sprachen. Nach Ansicht von Nonni Morisse beobachten derzeit viele Unternehmen die Entwicklung bei Amazon. „Wenn wir bei Amazon erfolgreich sind, können wir diese Strategien auch in anderen Unternehmen und Branchen
anwenden.“

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