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Magazin Mitbestimmung

: Mehr Mitbestimmung

Ausgabe 06/2011

JUBILÄUM Nordrhein-Westfalen, die Wiege der Mitbestimmung, soll bundesweit wieder Mitbestimmungsland Nummer eins werden – sagt Ministerpräsidentin Kraft und verweist auf das erneuerte Landespersonalvertretungsgesetz.

Festrede von Hannelore Kraft, Ministerpräsidentin (SPD) in NRW. Der Text wurde eingangs und um einige historische Passagen gekürzt/Foto: Manfred Vollmer

Heute hat man ja manchmal das Gefühl, es sei ruhig geworden um die Frage der Mitbestimmung. Vielleicht liegt das schlicht daran, dass die Mitbestimmung sich so hervorragend bewährt hat, dass sie funktioniert. Gerade und besonders die Montanmitbestimmung. Johannes Rau hat vor ziemlich genau zehn Jahren, am 21. Mai 2001, in Essen Zollverein etwas gesagt, das auch heute noch volle Gültigkeit hat. Er sagte: „Ich kann mich an sehr viele Situationen im Bergbau und in der Stahlindustrie erinnern – bei Krupp, bei Thyssen, bei Ruhrkohle, bei Mannesmann und bei Hoesch –, in denen die Montanmitbestimmung konstruktive Lösungen möglich gemacht hat, die sonst von keiner Seite, weder von den Beschäftigten noch von den Anteilseignern, akzeptiert worden wären.“ In der Tat. (…) Ohne die Montanmitbestimmung wäre der Strukturwandel im Ruhrgebiet schlichtweg unmöglich gewesen. Er wäre schon in den 60er Jahren, da bin ich mir sicher, durch soziale Tumulte ins Stocken geraten. Auch so war der Umbruch hart und schwer genug.

Die Montanmitbestimmung funktioniert. Nach dem Ende der DDR hat die Montanmitbestimmung bei den Umstrukturierungen im Lausitzer und mitteldeutschen Revier eine wesentliche Rolle gespielt. Warum aber ist die Übertragung (auf die gesamte Wirtschaft; d. Red.) nicht gelungen? Der Rückblick macht deutlich: Der historische Moment, in dem (nach dem Krieg; d. Red.) das Fenster zu mehr Mitbestimmung weit offen stand, war kurz.

Danach musste Mitbestimmung mühsam errungen und – öfter noch – mühsam verteidigt werden. Unter dem Motto „Mehr Demokratie wagen“ gelang es erst in der Regierungszeit Willy Brandts, der Mitbestimmung neue Impulse zu geben, was 1976 unter der Kanzlerschaft von Helmut Schmidt zum „Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer“, dem Mitbestimmungsgesetz, führte.

Seitdem scheint es, als würden wir bei diesem Thema ein wenig auf der Stelle treten. Leider ist ja 2006 auch die Kommission unter der Leitung von Kurt Biedenkopf gescheitert, die Gerhard Schröder 2005 zur Weiterentwicklung der Mitbestimmung eingesetzt hatte. Sie ist genau an der Frage der paritätischen Besetzung von Aufsichtsräten gescheitert, obwohl eine solche Besetzung im Montanbereich doch funktioniert.

Dennoch: Wir dürfen dieses große, wichtige Thema Mitbestimmung nicht liegen lassen, wir müssen es wieder neu entdecken! Je qualifizierter Belegschaften sind, desto zwingender ist es, sie in einem ganz umfassenden Sinne einzubeziehen. Sonst werden ihre Potenziale verschenkt. Wenn die Unternehmen wollen, dass die Beschäftigten gesamtbetrieblich und gesamtverantwortlich denken, dann dürfen sie auch nicht von den Entscheidungsprozessen ausgeschlossen sein. Der Zugang zur Mitbestimmung darf nicht nur auf informellen Absprachen beruhen, sondern er muss verlässlich auf formellem Recht basieren. Mitbestimmung ist kein Gnadenrecht, sondern geradezu eine betriebliche Notwendigkeit.

Die Montanmitbestimmung bietet hier bewährte Regelungen. Warum werfen wir nach 60 Jahren nicht noch einmal einen frischen Blick auf diese besonders fortschrittliche Form, die nicht nur eine betriebliche, sondern auch eine unternehmerische Mitbestimmung verankert? Ich erinnere hier an die bemerkenswerte Begründung des Bundesverfassungsgerichts in seiner Entscheidung zur Mitbestimmung vom 2. März 1999: „Da die Montanmitbestimmung noch stärker als die allgemeine Unternehmensmitbestimmung auf einvernehmliche Problembewältigung angelegt ist, eignet sie sich besonders dazu, neben dem Rentabilitätsinteresse der Unternehmen und den Renditeerwartungen der Anteilseigner auch die Interessen der Arbeitnehmer an der Sicherung von Arbeitsplätzen angemessen zu berücksichtigen.“

Warum wird solch ein erstklassiges höchstrichterliches Zeugnis nicht viel öfter mit Stolz vorgezeigt? Es könnte doch helfen, die Idee der Mitbestimmung insgesamt wieder attraktiver zu machen.

Auch und besonders für die Bereiche, in denen die mitbestimmungsfreien Zonen in den letzten Jahren und Jahrzehnten gewachsen sind. Die frühere Landesregierung hat die Mitbestimmung im öffentlichen Dienst deutlich eingeschränkt. Wir korrigieren das. Mit einem neuen Landespersonalvertretungsgesetz (LPVG) machen wir NRW wieder zum Mitbestimmungsland Nummer eins.

Vermutlich müssen wir auch noch wesentlich stärker den europäischen und internationalen Aspekt von Mitbestimmung bedenken. Denn gerade die großen Firmen agieren durchweg als Global Player. Je mehr es gelingt, die Mitbestimmung in die Realität einer globalisierten Welt einzupassen, desto weniger ist sie ein Modell von gestern und desto stärker ist sie ein Modell für morgen und übermorgen! Wir können hier durchaus mehr Mut haben, mehr Mitbestimmung wagen. Unsere Wirtschaft ist überaus wettbewerbsfähig, nicht trotz, sondern nicht zuletzt wegen der Mitbestimmung. Soziale Stabilität ist auch ein Standortfaktor erster Güte.

Ohne Mitbestimmung wäre die Industrie in NRW nicht so relativ glimpflich durch die uns immer noch belastende und bedrückende letzte Finanz- und Wirtschaftskrise gekommen. Es hat sich in der Krise gezeigt, wie wichtig es war und ist, dass wir Industrieland sind. Es waren nicht zuletzt verantwortungsvolle, strategisch und sozialpolitisch denkende Betriebsrätinnen und Betriebsräte, die dafür gesorgt haben, dass in unserem Land viel weniger Menschen ihren Arbeitsplatz verloren haben als in vergleichbaren anderen Ländern. Es waren auch Arbeitsdirektoren, die zusammen mit Olaf Scholz als Arbeitsminister das Instrument der Kurzarbeit so entwickelt haben, dass es zum Rettungsanker für die Beschäftigung in der Krise geworden ist.

Auch für die Zukunft gilt: Ohne Mitbestimmung können wir den beispiellosen Strukturwandel, der noch lange nicht abgeschlossen ist, nicht bewältigen. Wir haben in NRW engagierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaften auf der Habenseite unseres ökonomischen und sozialen Kapitals. Darauf können wir stolz sein. Gründe genug also, das Potenzial der Mitbestimmung neu zu entdecken. Ich bin sicher, es ist groß genug für einen echten Modernisierungsschub.

In der Landesregierung haben wir in diesem Sinne ein deutliches Zeichen gesetzt, (…) um die Mitbestimmung wieder stark zu machen. Die Landesregierung hat im Januar einen Gesetzentwurf zur Änderung des Landespersonalvertretungsrechts beschlossen, der noch vor der Sommerpause verabschiedet werden soll. Damit soll das Mitbestimmungsrecht für die über 600 000 Beschäftigten des öffentlichen Dienstes in Nordrhein-Westfalen umfangreich ausgebaut und modernisiert werden.

Dabei sind wir – früher als sonst bei Gesetzesinitiativen üblich – in einen engen Dialog mit den Gewerkschaften, Berufsverbänden und kommunalen Spitzenverbänden eingetreten. Damit werden wir die „gleiche Augenhöhe“ bei der Mitbestimmung und die vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen den Interessenvertretungen der Beschäftigten und den öffentlichen Arbeitgebern wiederherstellen. Und die Rolle der Personalräte stärken, indem die Rahmenbedingungen für ihre Arbeit verbessert werden. Außerdem wollen wir den Schutz der Beschäftigten ausbauen und den Geltungs- und Anwendungsbereich des LPVG erweitern. Unser Ziel ist ganz einfach: Nordrhein-Westfalen soll bundesweit wieder zum Mitbestimmungsland Nummer eins werden. (…)

1951 war ein Thema noch kaum auf der Tagesordnung, das mittlerweile ganz oben auf unserer Agenda steht. Ich meine die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen am Erwerbsleben und die Beteiligung von Frauen auch an den Spitzenpositionen. Auch das ist eine sehr konkrete Frage der Mitbestimmung. (…) Vor rund zehn Jahren haben die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft freiwillige Schritte zur beruflichen Förderung von Frauen in den Unternehmen zugesagt. Leider müssen wir feststellen: Die bloße Definition eines freiwilligen Ziels führt nicht automatisch dazu, dass es erreicht wird. Die Landesregierung setzt sich darum für eine verbindliche Frauenquote in den Aufsichtsräten börsennotierter Unternehmen ein.

Nach 60 Jahren hat der Jubilar Montanmitbestimmung nicht nur eine Feier verdient, er hat es auch verdient, dass wir uns gemeinsam für seine gute Zukunft – und generell für den Gedanken der Mitbestimmung – einsetzen. Wir müssen aus Betroffenen Beteiligte machen! In 60 Jahren Montanmitbestimmung ist genau das immer wieder gelungen. Allen, die daran mitgewirkt haben, gestern und heute, möchte ich danken. 60 Jahre Montanmitbestimmung in NRW – sie sind ein starkes Stück unserer Geschichte und ein großes Versprechen für die Zukunft.

Aus Kohle und Stahl

Betriebsräte und Arbeitsdirektoren feiern 60 Jahre Montanmitbestimmung und denken darüber nach, was sie täglich tun: mitbestimmen.

Der Festsaal neben den Westfalenhallen ist proppenvoll. Eng gedrängt sitzen 320 Betriebsräte und Arbeitsdirektoren – vorne die Bezirksleiter und Vorstände der beiden Industriegewerkschaften IG Metall und IG BCE. Sie vertreten Stahl und Kohle, die beiden Bereiche der Montanindustrie, die 1951 die Speerspitze der deutschen Industrie waren. 60 Jahre danach werden noch 31 Betriebe nach dem Montanmitbestimmungsgesetz geführt.

Es sind Männerbranchen, was man den 320 Gästen ansieht, deren täglich Brot die Montanmitbestimmung ist und deren Alter dem der Jubilarin in etwa entspricht. Das Fehlen weiblicher Führungskräfte fällt NRW-Ministerpräsidentin Kraft auf, als sie ihren Blick durch den Raum schweifen lässt – auch wenn die Leiterin des IG-Metall-Zweigbüros Hannelore Elze durch die Tagung führt und einige Betriebsrätinnen ein paar Farbtupfer in die Männerreihen bringen.

Das Montanmitbestimmungs-Milieu war nach Dortmund gekommen. Arbeitnehmervertreter aus den Dillinger Hüttenwerken, von ArcelorMittal, den Deutschen Edelstahlwerken, der Europipe GmbH, der Georgsmarienhütte, den Hüttenwerken Krupp-Mannesmann, aus dem weitverzweigten RAG-Konzern, der Rasselstein GmbH, der RWE Power AG, von der Saarstahl und der Salzgitter AG, den Guss- und Schmiede-werken, dem Stahlwerk Thüringen, dem Thyssen¬Krupp-Konzern und von Vattenfall.

DEMOKRATIE-FÖRDERLICH_ Festredner zur „Würde des Menschen im Zentrum der Arbeit“ ist Nikolaus Schneider, der Vorsitzende des Rates der evangelischen Kirche. Würde, sagt er, verbiete die Degradierung des Menschen zum Kostenfaktor. Rechtsethisch begründet Präses Schneider die Mitbestimmung als „ineinandergefügte Rechte von Arbeit und Kapital“, wodurch beide das moderne Unternehmen gemeinsam tragen. Er unterstreicht, dass eine lebendige Mitbestimmungskultur „demokratische Verhaltensweisen fördert ebenso wie sie der Kontrolle wirtschaftlicher Macht dient“.

Mit Sorge betrachtet der EKD-Vorsitzende dagegen das Ende der Tarifeinheit. Er äußert in Dortmund die Befürchtung, dass eine Zersplitterung des Tarifsystems die Belegschaften spaltet und die Konflikte vervielfacht. Und dass den Schwächeren die Solidarität der Stärkeren verweigert würde.

Danach gibt es Talkrunden: Über den Wert der Mitbestimmung debattieren die Vize-Vorsitzenden von IG Metall und IG BCE mit dem Historiker Karl Lauschke und dem Ex-Staatssekretär im Arbeitsministerium Werner Tegtmeier. Fazit: In Zeiten des Finanzkapitalismus gehört eine qualifzierte Mitbestimmung ins Unternehmen – „und qualifiziert ist die Montanmitbestimmung“, sagt Tegtmeier.

Am Nachmittag berichtet der Vorstand der Stahlstifung Saarland davon, wie geordnet alle auf das Ende der Kohleära an der Saar zusteuern, wo 2012 der letzte Kumpel das Licht ausmachen wird. Und für die Ruhrkohle ist 2018 Schicht im Schacht nach einem jahrzehntelangen Rückbau und Umbau der RAG. „Das haben wir alles breit diskutiert. Ohne Montanmitbestimmung wäre das nicht gelungen, ohne die hätten wir englische Verhältnisse“, unterstreicht Ludwig Ladzinski, GBR-Vorsitzender der RAG-Aktiengesellschaft.

Von CORNELIA GIRNDT, Redakteurin

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