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Salzgitter-Betriebsrätin Seemann: „Unsere Branche ist sehr konservativ.“ Magazin Mitbestimmung

Arbeit: „Machen, wo es geht“

Ausgabe 01/2021

In der Debatte ums Homeoffice wirbeln die Argumente wild durcheinander. Mal geht es um den Gesundheitsschutz, mal um Vereinbarkeit. Ein Spagat für Politiker und Betriebsräte. Denn beim exzessiven Einsatz von Homeoffice drohen neue Ungleichgewichte. Von Jennifer Garic und Kay Meiners

Viele wollen es, nicht jeder kann es und wenige dürfen: Arbeiten von zu Hause gilt, obwohl die Forschung durchaus Licht und Schatten sieht, als Goldstandard der Pandemie. Selten fügten sich Vernunft und Prestige, Verantwortung für die Corona-Lage und Selbstisolation so gut zusammen. Doch sollte aus dem Gebot der Pandemie ein Gesetz mit Rechtsanspruch auch für die Zeit nach dem Lockdown werden? Die Koalition ist tief gespalten. Es bleibt auch jetzt bei einem mahnenden Appell aus Gründen der Pandemiebekämpfung. „Der dringende Aufruf ist, Homeoffice, wo immer es geht, jetzt zu ermöglichen“, erklärte Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) gegenüber dem NDR. Eine Schmalspuransage, die ihn selbst wurmen dürfte. Denn obwohl er den Koalitionspartner nicht überzeugen konnte, will er mit einem Gesetz „nach wie vor den Beschäftigten rechtlich den Rücken stärken, auch in normalen Zeiten flexibler arbeiten zu können“.

An der Basis rumort es längst. Wer im letzten Frühjahr dachte, schlimmer könne es mit Corona nicht mehr werden, wurde im Winter eines Besseren belehrt. Neue Rekordzahlen bei den Neuansteckungen wurden gemeldet. Dennoch war Homeoffice Ende vergangenen Jahres wieder seltener geworden, wie Zahlen aus der Hans-Böckler-Stiftung zeigen. Während im April rund 27 Prozent der Beschäftigten angaben, überwiegend von zu Hause zu arbeiten, waren es während des „Lockdowns light“ Anfang November nur magere 14 Prozent. Neuere Zahlen liegen noch nicht vor, wahrscheinlich sind sie aktuell wieder höher. Doch vielen Beschäftigten wird Homeoffice weiter verwehrt. Malte Lübker, der das Portal Lohnspiegel.de am WSI betreut, bekommt anhand von Nutzerkommentaren hautnah den Ärger darüber mit: „Man merkt sehr deutlich, wie tief der Frust bei denen sitzt, die täglich ins Büro kommen müssen, obwohl Homeoffice eigentlich problemlos möglich wäre.“

Sorge um neue Ungleichheiten

Laut Bundesarbeitsministerium nutzen besonders Beschäftigte mit hohem Einkommen und höherem Bildungsabschluss die Möglichkeit. „Vor allem in kleinen und mittelgroßen Unternehmen arbeiten viele Beschäftigte weiterhin überwiegend im Büro“, sagt Bettina Kohlrausch, Wissenschaftliche Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institutes (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Auf Twitter machen sie und ihr Böckler-Kollege Sebastian Dullien, der Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung, Werbung für mehr Homeoffice – auf freiwilliger Basis. Es könnte ein Modell für die Zukunft sein, das viele Vereinbarkeits- und Flexibilitätsprobleme mildert.

Allerdings, so mahnen Wissenschaftler, drohen neue Schieflagen. Die Soziologin Jutta Allmendinger warnte jüngst in einem Interview im Magazin der Berliner Zeitung, „Homeoffice auf breiter Front“ könne die Ungleichheit der Geschlechter erhöhen: „Ich hatte dieser Tage viele Onlineinterviews mit Journalistinnen. Fast ohne Ausnahme sprangen kleine Kinder im Zimmer herum, während der Mann offenbar in einem anderen Raum in Ruhe arbeiten konnte. Da muss man schon zunächst fragen, wie man bessere Rahmenbedingungen schaffen kann, bevor man das Homeoffice hypt.“ Außerdem sei es vielen Arbeitnehmern, gerade Frauen, wichtig, „einen Ort außerhalb der Familie zu haben“. Und was geschieht mit all denen, die aufgrund ihrer Tätigkeit überhaupt nicht von zu Hauser arbeiten können? Kai Burmeister, Gewerkschaftssekretär der IG Metall in Baden-Württemberg, fürchtet „eine Spaltung der Arbeitsgesellschaft“. Soweit möglich, sagt er, müssten auch Produktionsbeschäftigte mehr Flexibilität und Autonomie bekommen. Statt 35 Stunden am Stück könnten sie beispielsweise 32 Stunden arbeiten und drei Stunden für Qualifizierung bekommen – und lernen könnten sie „auch von zu Hause“.

Der Betriebsrat soll es allen recht machen

Die Betriebsräte, die Lösungen aushandeln müssen, treffen auf unterschiedliche Unternehmenskulturen. Die Salzgitter Flachstahl GmbH etwa tat sich im ersten Lockdown schwer. Nur wenige Tage waren die Büromitarbeiter im Homeoffice, bis alle zurückbeordert wurden. „Die Stahlbranche ist sehr konservativ“, sagt Christine Seemann, Mitglied des Betriebsrats. Seemann sitzt auch im Aufsichtsrat der Holding, der Salzgitter AG.

Bei den Beschäftigten kam die Arbeit von zu Hause schon im April super an. Das erfuhr die Betriebsrätin in Gesprächen und Feedbackrunden. „Auch wenn es für Eltern nicht immer leicht war, ging der Schutz der Kollegen für die meisten vor.“ Im Sommer durften dann nur noch einzelne Mitarbeiter vom Sofa oder Küchentisch aus arbeiten. „Wir haben bei der Unternehmensführung durchsetzen können, dass zumindest Alleinerziehende und Angehörige der Risikogruppe auf Wunsch weiter im Homeoffice bleiben können“, sagt Seemann. Viele andere waren gefrustet und wünschten sich ebenfalls mehr Flexibilität. Zuerst ohne Erfolg. „Salzgitter ist manchmal wie ein großer Öltanker: schwerfällig, mit großem Wendekreis.“ Doch das Management hat erkannt, dass sich etwas ändern muss.

 Aus der jüngsten Vergangenheit berichtet Seeman Positives: „ Mittlerweile gewährt der Arbeitgeber in großem Umfang Homeoffice. Als im Spätherbst 2020 die zweite Corona-Welle losbrach, konnten wir mit dem Arbeitgeber eine Vereinbarung schließen.“ Mit der Schließung von Kindergärten und Schulen, sowie der Verordnung des Bundesarbeitsministers wurde das Angebot noch einmal ausgeweitet. Seemann sagt: „Auch Führungskräfte, die kritisch waren, sind deutlich entspannter. Weil sie merken: es läuft und zwar gut.“

Wer introvertiert ist, ist im Vorteil

Andere Unternehmen waren schon während der ersten Belastungsprobe Anfang 2020 flexibler – zum Beispiel Bosch in Stuttgart. „Der erste Lockdown war für uns eine weitere Bestätigung dafür, dass ein anderes Arbeiten möglich ist“, sagt Frank Sell, Vorsitzender des Gesamtbetriebsrats der Sparte Mobility Solutions und stellvertretender Vorsitzender des Bosch-Aufsichtsrats. Der Automobilzulieferer startete mit einer sehr komfortablen Ausstattung: Schon vor sechs Jahren verabschiedete Bosch eine Konzernbetriebsvereinbarung zum mobilen Arbeiten. Trotzdem ist die Arbeit von zu Hause keine Dauerlösung für Sell, der sagt, es könne „nicht die Zukunftsvision sein“, das jeder nur noch allein zu Hause sitze. Homeoffice funktioniere nur, wenn es freiwillig sei.

Beschäftigte reagieren, wie man weiß, sehr unterschiedlich auf Homeoffice. Dabei spielt die Psychologie eine große Rolle. Introvertierte kommen damit besser zurecht als Extrovertierte. Die Vorlieben werden also immer unterschiedlich sein. Die Betriebsratsarbeit wird dadurch nicht einfacher. Ansätze für digitale Betriebsversammlungen und Angebote gibt es viele – die perfekte Lösung ist aber auch hier noch lange nicht gefunden. „Uns ist sehr wichtig, dass der Kontakt zu unseren Mitarbeitern nicht verloren geht“, sagt Betriebsrat Sell. „Das neu zu organisieren, ist eine Herausforderung.“

Zweischneidiges Schwert

In einer Umfrage des WSI gaben 77 Prozent der Beschäftigten an, das Homeoffice erleichtere die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. 60 Prozent glauben, die Arbeit daheim sogar effektiver organisieren zu können als im Betrieb. Allerdings haben 60 Prozent der Befragten mit Homeoffice den Eindruck, dass die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verschwimmen. Die meisten Experten gehen daher davon aus, dass eine Mischung von Büroarbeit und Homeoffice am verträglichsten ist.

O-Töne aus der Befragung:

IT-Supporttechniker/in, 28.12.2020: Viva la Homeoffice (und ich will nie wieder zurück)

Controller/in, 03.10.2020: Keine Homeoffice Möglichkeit trotz Bürotätigkeit als Controller

Fachinformatiker/in, 30.10.2020: Obwohl Home-office problemlos möglich wäre, ist es von der Geschäftsleitung nicht gewünscht

Data Scientist, 11.01.2021: Es ist schade, dass ein Unternehmen Home Office nach wie vor als negativ empfindet und daher versucht zu unterbinden.

 

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