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Besucher bei der Labora 2024 in Berlin Magazin Mitbestimmung

Labora: Lücken lassen sich füllen

Ausgabe 05/2024

Zum siebten Mal lud die Hans-Böckler-Stiftung im September zur Labora nach Berlin ein. Die Beiträge zeigten, an wie vielen Stellen im Land der Schuh drückt, aber auch, wie sich Veränderungen angehen lassen. Von Fabienne Melzer und Andreas Schulte

Egal, wo man hinschaut, in Deutschland türmen sich die Baustellen. Das Land ächzt unter einer maroden Verkehrsinfrastruktur, es steckt mitten in der Energiewende, es fehlen Investitionen in Bildung, Wohnungsbau und Digitalisierung, und die Wirtschaft muss sich digitalisieren und klimaneutral umbauen. Überall klaffen Lücken, mit denen sich die Hans-Böckler-Stiftung auf ihrer diesjährigen Labora befasste. Claudia Bogedan, Geschäftsführerin der Hans-Böckler-Stiftung, setzte den Rahmen der Veranstaltung: „Fill the gap“ („Füll die Lücke“) lautete das diesjährige Motto. Im Austausch zwischen Politik, Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Gewerkschaft und Betrieb wollte man die Lücken füllen, die im politischen Diskurs, im Finanzplan und in sozialen Fragen klaffen. Mit mehr als 100 Sprecherinnen und Sprechern sowie rund 70 Partnerorganisationen war das Programm in diesem Jahr besonders breit aufgestellt. Damit eröffnete die Veranstaltung analog und digital wieder ein breites Spektrum an Perspektiven.

Sozial-ökologische Transformation

Eine Lücke: eine Lösung für das Gelingen der sozial-ökologischen Transformation. In der Diskussionsrunde mit dem Vorsitzenden der IGBCE, Michael Vassiliadis, herrschte Einigkeit darüber, dass die sozial-ökologische Transformation zuletzt in den Hintergrund der öffentlichen Diskussion geraten ist. Klimaschutz müsse integrativ gedacht werden, und es müsse deutlich werden, dass nicht nur Verzicht die Lösung ist. Vassiliadis kritisierte, dass oft plakativ und moralisch argumentiert werde. Die Folge: Andere Kräfte zerren nun mit einfachen Antworten an diesen Fragen. „Wir müssen sachlicher werden“, forderte daher der IGBCE-Vorsitzende.

Auch die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi und Sebastian Dullien, Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung, waren sich in der Abschlussrunde einig, dass allein Konsumverzicht nicht ausreicht, um das Klima bei Erhaltung des sozialen Friedens zu retten. Fahimi konstatierte: „Grenzen beim Konsum zu setzen, funktioniert allein nicht, weil dafür die soziale Akzeptanz fehlt. Die soziale Komponente muss mitgedacht werden. Daher brauchen wir eine massive Investitionspolitik.“ Sie wies zudem darauf hin, dass grüne Jobs nicht automatisch gute Jobs seien. „Es muss mit der Transformation gelingen, gute Arbeitsplätze zu schaffen – mit Beschäftigten, die eigene Innovationswünsche haben.“

Wie wichtig die Beteiligung der Beschäftigten ist, zeigte sich in verschiedenen Runden, die sich mit der Transformation aus betrieblicher Sicht beschäftigten. Mit dem Wandel der Autoindustrie rollt auch auf die Zulieferer eine Veränderungswelle zu. Wie sich diese Welle reiten lassen könnte, zeigte das Beispiel des Drehteileherstellers Brehm aus Ulm. Mit Unterstützung der Förderlinie Transformation der Hans-Böckler-Stiftung hatten sich Betriebsrat, IG Metall und Unternehmensleitung auf eine Lernreise begeben. Jan Gottke, Gewerkschaftssekretär der IG Metall in Ulm, betonte, wie wichtig es war, von der Dichotomie Verbrenner versus E-Antrieb wegzugehen und erst einmal zu fragen: Was ist unser Produkt? Dabei zeigte sich: „Wir können hochkomplexe Drehteile aus schwierigen Materialien herstellen.“ Und solche Teile werden auch im Bereich Wasserstoff und Brennzelle gebraucht. Diese könnten das bisherige Geschäft mit dem Automatikgetriebe zwar nicht ersetzen, aber für Anja Kaupper von der Geschäftsleitung zeigt die Lernreise, vor welchen Herausforderungen das Unternehmen steht und wie gut es ist, mit Belegschaft und Gewerkschaft an einem Strang zu ziehen. In der Belegschaft äußerten sich am Ende des Projekts viel mehr Beschäftigte hoffnungsvoll als zu Beginn und stellten fest: „Wir können ja viel mehr, als wir denken.“

Tarifbindung

Eine besonders wichtige Lücke aus Gewerkschaftssicht ist die Tarifbindungslücke. 1998 betrug der Anteil der Beschäftigten mit Tarifbindung in Deutschland 73 Prozent. Heute sind es nur noch rund 50 Prozent. Schwindende Tarifbindung führt nicht nur für die Beschäftigten zu schlechteren Arbeitsbedingungen, erklärte Guido Zeitler, Vorsitzender der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG): „Auch die Gesellschaft leidet, wenn Betriebe sich der Tarifbindung entziehen, etwa durch die nachlassende Kaufkraft der Bevölkerung.“

Wie Gewerkschaften und Belegschaften den Trend bremsen und sogar drehen können, zeigt ein Beispiel aus dem norddeutschen Rendsburg. Dort führte der längste Streik in der Geschichte der IG Metall dazu, den Windkraftanlagenbauer Vestas in die Tarifbindung zu drängen. Erst nach 73 Streiktagen habe der Arbeitgeber in Verhandlungen mit der Gewerkschaft eingewilligt, berichtete Martin Bitter, Geschäftsführer der IG Metall Rendsburg. Den Erfolg führt er vor allem auf die vorbildliche Solidarität im Betrieb zurück. „Mit einem Verhandlungsergebnis von 5,4 Prozent haben wir zwar nicht alles erreicht, aber es ist ein tarifpolitischer Einstieg“, resümierte er.

Demokratieverständnis

Die Lücke Demokratieverständnis war Thema der dritten großen Runde auf der Veranstaltung in Berlin. Darüber diskutierten Stephan Anpalagan von Demokratie in Arbeit und Bettina Kohlrausch, Wissenschaftliche Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung.

Kurze Interviews mit dem Verdi-Vorsitzenden Frank Werneke, dem Vorsitzenden der Gewerkschaft der Polizei, Jochen Kopelke, und mit Tahera Ameer, Programmvorstand der Amadeu Antonio Stiftung, ergänzten die Diskussion. Ameer veranschaulichte die Folgen des Rechtsrucks in Deutschlands. Sie berichtete aus dem thüringischen Sonneberg von einer Verfünffachung der Gewalt, seit ein Landrat mit AfD-Zugehörigkeit im Amt ist. Auch Bündnisse für Demokratie hätten dort mittlerweile ihre Arbeit aufgegeben.

Angesprochen auf den Zusammenhang zwischen maroder Infrastruktur im Land und der Erstarkung rechter Kräfte, sagte Frank Werneke: „Im Osten werden Kitas und Arztpraxen geschlossen und im Westen ist jede Schließung eines Krankenhauses ein Fest für die AfD. Durch solche Verluste kommt die Glaubwürdigkeit des staatlichen Gemeinwesens ins Rutschen.“ Bettina Kohlrausch wies darauf hin, dass rechte Einstellungen keineswegs ein neues Phänomen seien. Sie zeigten sich aktuell besonders im Erfolg der AfD. Kohlrauschs größte Sorge ist allerdings: Die Positionen rechter Parteien werden allmählich von den etablierten übernommen.

Mehr zum Thema:

Zum siebten Mal lud die Hans-Böckler-Stiftung im September zur LABOR.A nach Berlin ein. Die Beiträge zeigten, an wie vielen Stellen im Land der Schuh drückt, aber auch wie sich Veränderungen angehen lassen. Ausführlicher Bericht unter: boeckler.de/de/tagungsberichte

Die komplette Tagungsdokumentation in Kürze in der Mediathek auf: https://labora.digital/mediathek/

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