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Magazin Mitbestimmung

: Lotterie des Lebens

Ausgabe 07+08/2009

SCHULSYSTEM Auf den Grundschullehrern lastet der Druck, mit der Schulempfehlung nach der vierten Klasse eine Weichenstellung für das ganze Leben zu verantworten.

Von THOMAS GESTERKAMP, Journalist in Köln. Foto: Jürgen Seidel

Münster in Westfalen ist eine reiche Stadt, geprägt von Behörden, Versicherungen und einer der größten Universitäten der Republik. Rund um den Kern der 280 000-Einwohner-Kommune liegen bürgerliche Wohngebiete, die von Einfamilienhäusern geprägt sind. "Dort gehen fast alle Schüler auf das Gymnasium", sagt Reinhard Stähling, der in einem dieser Viertel aufgewachsen ist.

Heute leitet der 52-jährige Pädagoge die Grundschule Berg Fidel. Der fröhlich klingende Name der Hochhaus-Trabantenstadt täuscht - zumindest für Münsteraner Verhältnisse handelt es sich um einen sozialen Brennpunkt. Die Grundschüler kommen aus 30 Nationen, viele aus Flüchtlingsfamilien. "Wir sind froh, dass wir keine Analphabeten entlassen - und stolz, wenn es ein Drittel unserer Kinder auf das Gymnasium schafft", berichtet Stähling.

 Die entscheidende Hürde beim Wechsel nach der vierten Klasse ist die verbindliche Schulempfehlung. Seit 2007 können Eltern in Nordrhein-Westfalen - wie in Bayern, Baden-Württemberg und den meisten ostdeutschen Bundesländern - nicht mehr frei wählen, wohin sie ihren Nachwuchs schicken. Der Zugang zu höherer Bildung ist blockiert, wenn der Notendurchschnitt an der Grundschule nicht reicht oder die Lehrkräfte keine positive Empfehlung aussprechen.

"Für unsere Kolleginnen ist dieser Übergangspunkt eine große Herausforderung", sagt Ulf Rödde, Sprecher der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW): "Sie wollen Schüler aus schwierigen Familien integrieren, müssen aber gleichzeitig selektieren." Schauen die Lehrerinnen bei ihrer Empfehlung neben den Zensuren auch auf das private Umfeld, verstärken sie unfreiwillig den Mechanismus der sozialen Exklusion - etwa wenn sie berücksichtigen, dass Mittelschichts-Eltern beim Lernen helfen und teure Nachhilfe finanzieren können.

EINE SCHULE, DIE KEINEN AUSSCHLIESST_ Acht Uhr morgens in Münster-Berg Fidel. Die Kinder betreten ihre Schule, die eher an eine Tagesstätte erinnert. Die "Sonnenblumen", eine von vier Klassen mit Unterricht auch am Nachmittag, verteilen sich auf mehrere Räume mit verschiedenen pädagogischen Angeboten. Die Sechs- bis Zehnjährigen werden altersübergreifend betreut und stets von mehr als einer Person: Neben der Klassenlehrerin gehören eine Sonderpädagogin sowie studentische Honorarkräfte zum Team, manchmal auch eine Erzieherin. Im Hintergrund erklingt leise Klaviermusik; es gibt keine Sitzordnung, keinen Frontalunterricht, stattdessen "freie Arbeit". Eine der an der Wand hängenden Regeln lautet: "Probleme erst selber lösen." Die Pädagoginnen gehen von Kind zu Kind, geben Tipps und Hilfestellung, motivieren jene, die sich schwer tun. Vor der Pause auf dem Schulhof treffen sich alle zum "Bankkreis", präsentieren das, womit sie sich beschäftigt haben, loben andere und hören Kritik.

Schulleiter Stähling orientiert sich an reformpädagogischen Konzepten. In einem Praxisbuch wirbt er für eine "inklusive Grundschule", die sozial Schwache nicht ausgrenzt. Über seine Zielgruppe weiß er präzise Bescheid. "Wenn wir Hausbesuche machen, gibt es oft überhaupt keine Bücher in der Wohnung - und der Fernseher läuft." Eine Befragung in Kooperation mit den drei Kindergärten des Stadtteils ergab, dass "40 Prozent unserer Kinder ohne Frühstück hier ankommen". Weitere Ergebnisse: 23 Prozent haben eine schwer verständliche Aussprache, genauso viele "motorische Defizite". Bei zwei von fünf Schülern besteht "zahnärztlicher Behandlungbedarf", bei drei Vierteln "Förderbedarf in deutscher Sprache".

Gängige Diagnosen für seine Klientel, wie "verhaltensauffällig" und "lernbehindert", hält GEW-Mitglied Stähling für bequeme Etiketten, mit denen "Kinder aus Brennpunkt-Familien schon in jungen Jahren abgedrängt werden". In diesen Kontext gehört für den Gewerkschafter auch das System der Schulempfehlung, das sich für Kinder wie Lehrkräfte zu einer enormen psychischen Belastung entwickelt hat. Denn immer mehr Eltern verfolgen ehrgeizige Ziele für ihr Kind, um dessen Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern. Ihrem Nachwuchs tun sie damit nicht unbedingt einen Gefallen.

"Die verbindliche Empfehlung ist ein echtes Ärgernis", sagt Barbara Wenders, Lehrerin der Sonnenblumen-Klasse in Berg Fidel. Vor allem die Kinder aus Migrantenfamilien seien in der vierten Klasse "noch nicht stabil genug". Ob sie das frühe Aussortieren ablehnen oder nicht, die Pädagoginnen haben eine Entscheidung zu treffen, die die ganze Bildungsbiografie prägt. Wenders spricht von einem "Lotteriespiel", Schulleiter Stähling von einem "unauflösbaren Zwiespalt", weil "wir die Realität des Gymnasiums akzeptieren müssen". Für viele Kinder sei es frustrierender, dort nach wenigen Jahren wegen schlechter Noten abzugehen, als von vorneherein etwa die mittlere Reife anzustreben.

MOBILITÄT GIBT ES NUR NACH UNTEN_ "Die ausländischen Familien wundern sich über unser Schulsystem", berichtet Lehrerin Wenders. Manche "wollen es unbedingt versuchen", sagt ihre Kollegin Margarete Hoerster. Viele Eltern wissen aus eigener Lebenserfahrung, dass der Besuch einer Haupt- oder Realschule die beruflichen Möglichkeiten einschränken kann und eine spätere Veränderung auf große Hindernisse trifft. "Die Mobilität funktioniert nur nach unten", weiß Klaus Klemm. In einer Studie hat der Bildungsforscher an der Universität Duisburg-Essen ermittelt, dass bundesweit immerhin 14 Prozent der Kinder zwischen der fünften und zehnten Klasse den Schultyp wechseln. Doch nur jeder fünfte Schüler steigt "nach oben", 80 Prozent dagegen werden heruntergestuft. Die Realschulen sind entsprechend voll von demotivierten Ex-Gymnasiasten.

Zwar behaupten Schulämter und Ministerien, jede Bildungslaufbahn sei korrigierbar. Wie die Pisa-Ergebnisse zeigen, ist das dreigliedrige System aber wenig durchlässig und enthält soziale Sprengkraft. Nicht nur Begabung und Können, auch die Rahmenbedingungen entscheiden. "Die Lehrer werden vom sozialen Hintergrund beeinflusst", sagt Wilfried Bos, Leiter des Dortmunder Instituts für Schulentwicklungsforschung, und "Korrekturen dieser Weichenstellung" seien "ausgesprochen selten". Für die Stadt Wiesbaden hat der Mainzer Soziologe Alexander Schulze festgestellt, dass 81 Prozent der Schüler aus der Ober- und Mittelschicht, aber nur 14 Prozent der Unterschichtskinder geraten wurde, auf das Gymnasium zu wechseln.

"In die Empfehlung spielen Faktoren hinein, die nicht direkt mit der Leistung zu tun haben", betont Schulze. "Der Lehrer kennt die Eltern, er kann abschätzen, welche Hilfe ein Kind zu Hause bekommt." Die weiterführenden Schulen seien eigentlich in der Pflicht, die Folgen der "unbewussten Diskriminierung" durch Sprachkurse oder Hausaufgabenbetreuung zu kompensieren. Doch "für Migrantenkinder oder Lernbehinderte fühlt sich dort niemand verantwortlich", ärgert sich Markus van Eck, Sozialpädagoge an der Grundschule Münster-Berg Fidel: "Auf den gemeinsamen Jahrgangsstufenkonferenzen kriegen wir kaum Unterstützung."

Auch der Geldbeutel entscheidet über die Zukunftschancen des Nachwuchses mit. Insgesamt 4,6 Milliarden Euro zahlen Familien pro Jahr, damit ihre Kinder privat lernen, was ihnen die Schule nicht beibringt. Wie wichtig das Privileg ist, zusätzlich Bildung kaufen zu können, zeigt die Nutzung der Nachhilfe je nach Schulart: Nur neun Prozent der Hauptschüler, aber 30 Prozent der Realschüler und über 40 Prozent der Gymnasiasten erhalten bezahlten Zusatzunterricht. "Maurer oder Manager, das zeichnet sich bereits mit dem Ende der Grundschulzeit ab", konstatiert trocken Bildungsforscher Bos.

In keinem vergleichbaren Staat sei der Weg für Kinder aus finanziell schlecht gestellten Familien so schwer, kritisiert die Kampagne "Offensive Bildung" der IG Bergbau, Chemie, Energie. Schulabschlüsse, überspitzt IG-BCE-Vorstandsmitglied Michael Vassiliadis, würden hierzulande "vererbt". Nach einer Untersuchung des Deutschen Studentenwerks werden aus Akademikerkindern in 83 von 100 Fällen selbst Akademiker. Umgekehrt erreichen nur 23 Prozent der Schüler mit Nichtakademiker-Eltern den Hochschulzugang. Kinder von Sozialhilfeempfängern laufen Gefahr, später selbst auf staatliche Gelder angewiesen zu sein.

DIE SCHULE ALS SORTIERMASCHINE_ Die Mitbestimmungsrechte der Familien beim Schulwechsel sind je nach Bundesland verschieden. In Bayern entscheiden allein die Noten, einen Durchschnitt von 2,33 im "Übertrittszeugnis" braucht es dort für das Gymnasium. Wenn nordrhein-westfälische Eltern sich gegen den Rat der Lehrer durchsetzen wollen, müssen ihre Kinder einen dreitägigen "Prognoseunterricht" absolvieren. Nur falls sie in dieser Probephase positiv auffallen, können sie wechseln. Immerhin jedem dritten Kind gelingt so doch noch der Sprung nach oben. Ein negatives Gutachten im Eignungstest hingegen führt zur Ablehnung durch die Schulaufsicht, dann ist nur der Besuch einer Haupt-, Real- oder Gesamtschule möglich.

Vom ersten Schultag an stehen die Kinder "intensiv unter Druck", sagt Frank Nonnenmacher, der an der Universität Frankfurt Didaktik der Sozialwissenschaften unterrichtet. Schon in der Grundschule werden landesweite Leistungsvergleiche angestellt. Vor allem "die sehr ehrgeizigen russischen Eltern", so die Erfahrung der Münsteraner Pädagogin Barbara Wenders, fragen ab der ersten Klasse nach, "ob ihr Kind denn aufs Gymnasium wechseln kann". Jede Lernkontrolle, jede Klassenarbeit wird so zu einer ernsten Prüfung, die Zukunftschancen verbauen kann. Die Schule, spitzt Forscher Nonnenmacher zu, sei "eine ausgeklügelte Sortierungsmaschine, die den Menschen auf einen bestimmten Platz stellt". Für ihn handelt es sich um "Selektionsprozesse, die sich die Gesellschaft leistet, um Statuszuweisungen formal zu begründen".

Mütter und Väter suchen immer früher Hilfe beim schulpsychologischen Dienst, weil schon Acht- oder Neunjährige unter Schlafproblemen und Versagensängsten leiden. Daran sind die Erwachsenen nicht unbeteiligt. "Wenn sie es unbedingt wollen, schreibe ich bei der Empfehlung eben Gymnasium hin", erzählt Lehrerin Margarete Hoerster von der Grundschule Berg Fidel. Manche Eltern versuchen bereits im Kindergarten, ihre Sprösslinge auf Leistung zu trimmen. "Man sollte den schulischen Druck zu Hause nicht noch erhöhen", warnt der Kölner Schulpsychologe Andreas Heidecke. Die Sorge, der Nachwuchs könne durch eine Empfehlung abgehängt werden, sei angesichts der starren Strukturen des deutschen Bildungssystems zwar verständlich. Die eigenen Vorstellungen und Wünsche seien jedoch nicht unbedingt realistisch, meint Heidecke. "Kinder können ihre Fähigkeiten häufig besser einschätzen als die Eltern", glaubt auch Grundschulpädagogin Hoerster.

Eingezwängt zwischen elterlichen Ansprüchen, kindlichen Bedürfnissen und bildungspolitischen Vorgaben, fühlen sich die Lehrkräfte überfordert. "Sie müssen im Grunde etwas Unmögliches leisten", resümiert Bildungsexperte Nonnenmacher: Schule sollte eigentlich ein Ort der gegenseitigen Anerkennung sein, "während die Lehrer qua System die Kinder in Konkurrenz zueinander treiben". Die soziale Gliederung werde "in Kauf genommen", meint Jürgen Baumert, Direktor am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und Mitverfasser der Pisa-Studie. Je früher Schüler auf verschiedene Schultypen verteilt werden, desto geringer sei "das Zeitfenster, um Unterschiede auszugleichen".

Die GEW hat auf ihrem Nürnberger Gewerkschaftstag im April gefordert, "das selektive hierarchische Bildungssystem zu einem inklusiven Bildungssystem ohne Diskriminierung weiterzuentwickeln". Es sei stressig, so früh eine verbindliche Empfehlung auszusprechen, kritisiert Michael Schulte vom GEW-Landesverband Nordrhein-Westfalen. Von einem "Damoklesschwert", das über seinen Kolleginnen hänge, spricht der Münsteraner Schulleiter Reinhard Stähling. Nach seiner Erfahrung haben die beteiligten Pädagogen einen großen Beratungsbedarf. "Bei uns macht deshalb jedes Klassenteam regelmäßig eine Supervision in Zusammenarbeit mit dem schulpsychologischen Dienst."

Für seinen Stadtteil schlägt Stähling das gemeinsame Lernen bis zur zehnten Klasse ohne Schulwechsel vor. "Unsere Eltern beklagen die kurze Dauer der Grundschule", berichtet der Pädagoge: "Die Kinder aus schwierigen Familien haben nicht genug Zeit, ihre sprachlichen und sozialen Kompetenzen zu entwickeln." Überschaubare Schulen, die Aufgaben der Jugendhilfe mit übernehmen und sich als Zentrum für Familienberatung verstehen, seien besonders in sozialen Brennpunkten das "Zukunftsmodell". Ein engagierter Arbeitskreis im Kollegium hofft, für das Konzept des "offenen inklusiven Unterrichts" von Stadt und Landesregierung grünes Licht zu bekommen: Die Chancen stehen nicht schlecht, schließlich hat Nordrhein-Westfalens Bildungsministerin den einzelnen Schulen mehr Autonomie versprochen. Die Lehrerin Kai Roitzsch, die von einer Hamburger Hauptschule kommt und an der Grundschule in Münster vor allem Englisch unterrichtet, wünscht sich "für uns und unsere Kinder, dass es nach der vierten Klasse gemeinsam weitergeht in Berg Fidel".

Mehr Informationen

Reinhard Stähling: "Du gehörst zu uns" - Inklusive Grundschule. Ein Praxisbuch für den Umbau der Schule. Basiswissen Grundschule, Band 20. Schneider Verlag Hohengehren, Baltmannsweiler 2009, 18 Euro

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