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Magazin Mitbestimmung

Billigkonkurrenz: Lohndumping im Handwerk

Ausgabe 10/2013

Besonders in der Kraftfahrzeug-Branche ist die Flucht aus der Tarifbindung weit fortgeschritten. Die Lohnentwicklung im Handwerk bricht ein, seit immer mehr Innungen sich als Tarifpartner verabschieden. Wie kriegt man sie an den Verhandlungstisch zurück? Von Lukas Grasberger

Zu Wolfgang Fechner in die Werkstatt kommen die richtig schweren Fälle: Autos, die in den Gegenverkehr gekracht sind, hängt der 56-Jährige mit den rauen Händen an eine der massiven Ketten. Dann wird gezogen, „bis das Ursprungsmaterial spannungsfrei ist“, wie es der Chefklempner im Audi-Zentrum im Osten von Berlin erklärt. Brachiale Kräfte walten hier. Doch auch Millimeterarbeit mit Hightech-Maschinen leisten die Mitarbeiter im Werkstattbereich Karosserie: Wenn Fechner einen neuen Kotflügel einbaut, befestigt er ihn mit einer Punktschweißzange, die Dicke und Beschaffenheit des bearbeiteten Materials selbstständig erkennt. Nähte und Löcher werden akribisch verschlossen, sodass keine Feuchtigkeit und damit Korrosion eindringen kann.

„Hinterhofwerkstätten haben solche Geräte gar nicht. Wenn die das machen, sitzt nach ein paar Jahren der Rost drin“, sagt Fechner verächtlich. Noch könne das Audi-Zentrum mit guter Arbeit bei den Kunden punkten, sagt Wolfgang Fechner, der sich seit 15 Jahren als Betriebsrat und IG-Metaller um die Belange der 87 Mitarbeiter kümmert. Der Standort biete einen Rundum-Service vom Reifenwechsel über den Neuwagenverkauf bis zum Ersatzwagen. Und hält sich an Umwelt-, Sicherheits- und Tarifstandards – wofür die Kunden höhere Preise zu zahlen bereit seien.

Doch die Billigkonkurrenz rückt Fechners Betrieb auf die Pelle: Wie ein Menetekel ragt ein schwarzer Neubau an das Audi-Zentrum heran: Bald wird hier eine Werkstattkette mit Autoteilehandel eröffnen. Und nur ein paar Kilometer entfernt macht ihnen ein Mitbewerber zu schaffen, der nicht tarifgebunden ist: In dem Autohaus gebe es Arbeit auf Abruf je nach Auftragslage: „Da wird dann schon mal am Samstag oder bis um 22 Uhr gearbeitet. Hauptsache, der Wagen wird schnell fertig. Und wenn ein Mitarbeiter mal 14 Tage krank ist, kann er sich danach gleich die Papiere holen“, weiß der bestens vernetzte Betriebsrat.

MASSIVER STRUKTURWANDEL

Die Kfz-Branche steht exemplarisch für den massiven Strukturwandel, den das Handwerk in den letzten Jahrzehnten erlebt hat. Und sie ist ein warnendes Beispiel dafür, wie im Zuge dessen Tarif und Mitbestimmung unter die Räder kommen können.

1,4 Millionen Arbeitsplätze gingen zwischen 1996 und 2010 insgesamt im Handwerk verloren: Neue Handwerkskonzerne trieben einerseits Konzentrationsprozesse voran. Andererseits führte eine Abschaffung der Meisterpflicht für etliche Gewerke wie etwa Fliesenleger dazu, dass die Zahl der Kleinstbetriebe explodierte, in denen scheinselbstständig oder zu Niedriglöhnen gearbeitet wird. Überhaupt verlor das Handwerk seit Anfang der 80er Jahre in puncto Lohnentwicklung an Boden: Verdienten damals Handwerker noch in etwa gleich viel wie andere Berufstätige, so bekamen sie 2006 nur mehr drei Viertel des gesamtwirtschaftlichen Durchschnittslohns – im Osten gar nur die Hälfte.

Der Verlust der Tarifbindung in weiten Teilen des Handwerks hat daran maßgeblichen Anteil, glauben Fachleute wie Helmut Dittke vom Bereich Handwerkspolitik beim DGB-Bundesvorstand. Neben Dumpinglöhnen durch Pseudogewerkschaften wie der christlichen CGM macht Dittke vor allem Sorgen, dass Innungen ihre Rolle als Tarifpartner immer mehr aufgeben.

Damit kommt den DGB-Gewerkschaften zunehmend das Gegenüber für Tarifverhandlungen abhanden. Denn laut Gesetz können Tarifverträge für das Handwerk nur von Innungen, Innungs- oder Fachverbänden abgeschlossen werden. Doch immer mehr Innungen bieten Betrieben sogenannte OT-Mitgliedschaften (= ohne Tarifbindung) an. Dabei können Unternehmen alle Vorteile einer Mitgliedschaft genießen – ohne dass der Betrieb auch die vereinbarten Tarifverträge übernehmen muss: ein Lockangebot, um dem grassierenden Mitgliederschwund entgegenzuwirken.

ABSICHTSVOLLER RECHTSBRUCH

„Tarifverträge nicht übernehmen zu müssen hat die Tariflandschaft im Handwerk nachhaltig geschwächt“, schimpft DGB-Vorstandsmitglied Dietmar Hexel. OT-Mitgliedschaften seien ein „Rechtsbruch durch Innungen und Handwerkskammern, der beendet werden muss“. Die Gesetzeswidrigkeit solcher OT-Mitgliedschaften untermauert ein neues Gutachten des Rechtsprofessors Winfried Kluth von der Uni Halle-Wittenberg für die Hans-Böckler-Stiftung. Handwerkskammern und Landesregierungen müssten ihrer Überwachungspflicht nachkommen und diese rechtswidrige Praxis beenden, fordert Hexel.

Doch ob die juristische Keule allein wirkt, darf bezweifelt werden: Denn die Mitgliedschaft von Betrieben in der Innung ist – anders als bei der Handwerkskammer – freiwillig. Unternehmen, die der Tarifbindung ausweichen wollen, können einfach austreten. Und im Kfz-Handwerk erklärten sich Mitte des letzten Jahrzehnts gleich mehrere Landesinnungsverbände einfach für „nicht mehr zuständig“ in puncto Tarifverhandlungen: Wer sich mit der Gewerkschaft an einen Tisch setzen wolle, könne ja in eine der neu gegründeten Tarifgemeinschaften eintreten. Helmut Dittke treibt diese Verweigerung die Zornesröte ins Gesicht. Der DGB-Handwerkssekretär spricht von „Parallelstrukturen, die ebenfalls dem Willen des Gesetzgebers widersprechen“. Und: „Man tritt die Tarifautonomie mit den Füßen.“

Auch IG-Metall-Vertreter an der Basis sind noch immer verblüfft, wie schnell sich mithilfe solcher Tarifgemeinschaften tariflose Zustände in die Fläche gefressen haben. „Wir haben anfangs noch geglaubt, das wäre so ein Ost-Ding“, sagt Friedhelm Ahrens, der als Tarifsekretär Küste auch das Kfz-Handwerk in Mecklenburg-Vorpommern betreut, wo nur noch fünf Betriebe einer Tarifbindung unterliegen. Doch bald stand er auch in seinen westdeutschen Bezirken vor einer Situation, „wie es sie vorher im Handwerk gar nicht gegeben hat“. In Hamburg sind von 350 Betrieben nur noch zwölf tarifgebunden – allerdings arbeitet hier die Hälfte aller Beschäftigten.

In Berlin und Brandenburg weigert sich die Landesinnung seit 2005, mit der IG Metall zu verhandeln. Nicht einmal ein Zehntel der Betriebe und Beschäftigten hat dort mit der „Tarifgemeinschaft Mitteldeutsches Kraftfahrzeuggewerbe“ einen Tarifvertrag abgeschlossen. Vor allem größere Unternehmen sind dies, zusätzlich haben ein paar Betriebe – wie auch der von Wolfgang Fechner – Haustarifverträge abgeschlossen.

INNUNGEN DULDEN DUMPING

Fragt man die Innungsführung nach ihrem tarifpolitischen Auftrag, den ihr immerhin der Gesetzgeber zugestanden hat, so bekommt man nur schmallippige Antworten. Die von der IG Metall verlangten Tarife „nehmen unseren Betrieben die Luft zum Atmen“, sagt der hörbar aufgebrachte Präsident des Landesverbandes Berlin-Brandenburg des Kraftfahrzeuggewerbes, Hans-Peter Lange. So hohe Löhne gingen vielleicht im Speckgürtel von Berlin – nicht aber in wirtschaftsschwachen Regionen wie der Lausitz und der Uckermark. „Die Lage ist schwieriger geworden“, schimpft Lange. „Erst gestern sind wieder zwei Betriebe insolvent gegangen.“

Dieses krisenhafte Bild will Peter Friedrich vom IG-Metall-Bezirk Berlin-Brandenburg so nicht stehen lassen: Insgesamt gehe es dem Kfz-Gewerbe gut, die Umsatzrendite liege bei einem Prozent. Wie in anderen Handwerksbereichen gebe es zwar einen Trend zur Konzentration, zu größeren Einheiten, was einen stetigen Rückgang an Betrieben und Arbeitsplätzen mit sich bringe. „Das hat aber nichts mit Insolvenzen wegen zu hoher Löhne zu tun – sondern eher mit Marktbereinigung der Hersteller.“ Weniger und größere Autohäuser, die effektiver arbeiteten, seien die Folge.

Da die Händler den Kfz-Betrieben aber zahlreiche Vorgaben machen – von Werkzeugen über elektronische Geräte bis zur Qualifikation der Mechaniker –, geht die Konkurrenz zunehmend auf Kosten der Mitarbeiter. „Die Löhne sind die einzige Stellschraube, die sie haben“, erklärt Friedrich. Da regulierende Instanzen wie die Innungen versagten, werde an dieser Stellschraube zuweilen rücksichtslos gedreht, ergänzt sein Kollege Joachim Fichtner, der jahrelang als Betriebsrat in einer größeren Niederlassung gearbeitet hat. „Die Innungen dulden dieses Dumpinggeschäft“, sagt Fichtner bitter. „Wettbewerb wird wieder über Menschen gemacht, nicht über Innovationen.“ Größere Autohäuser in der Stadt, in denen es keinen Betriebsrat, keine Sonderzahlungen, keine Kostenerstattung für Auszubildende gibt, Hinterhofwerkstätten auf dem Land, in denen Schwarzarbeit geduldet und mit Hartz-IV-Aufstockern gearbeitet wird: Für die IG Metall sind dies zwei Seiten der gleichen Medaille. Das Lohndumping führe dazu, dass Beschäftigte in nicht tarifgebundenen Betrieben Gehaltseinbußen von 20 bis 30 Prozent hinnehmen müssten, sagt Fichtner.

„Die Hoffnungen der Innungen, durch Dumpingmitgliedschaften und die Aufgabe der Tarifverantwortung mehr Mitglieder anzuziehen, haben sich nicht erfüllt“, sagt Joachim Fichtner. Im Kfz-Handwerk sei nur noch die Hälfte der Betriebe Innungsmitglieder, beklagte die IG Metall auf ihrer Bundeshandwerkskonferenz im November 2012. „Die Tarifpolitik ist für Innungen nicht mehr identitätsstiftend“, sagt Clemens Kraetsch, der im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung Mitgliederentwicklung und Tarifpolitik von Bau-, Metall- und Kfz-Innungen untersucht hat. Kraetsch hat hier eine „tarifpolitische Unübersichtlichkeit und Beliebigkeit“ ausgemacht: Manche Innungen schlössen Tarifverträge mit Gewerkschaften ab, andere nicht. Und ob die Mitgliedsbetriebe die vereinbarten Tarife dann auch wirklich zahlten, stehe zudem auf einem anderen Blatt.

ÖFFENTLICHE AUFTRÄGE ALS DRUCKMITTEL

Doch wie lassen sich Innungen stärken, wie die Tarifflüchtigen zurück an den Verhandlungstisch bekommen? Gewerkschaftsexperten setzen hier zum einen auf juristische und politische Leitplanken, vor allem aber auf Entwicklungen in den Innungen selbst. IG-Metall-Tarifsekretär Ahrens etwa will – neben dem Verbot von OT-Mitgliedschaften – Vergabegesetze der Länder als Druckmittel nutzen. „Öffentliche Gelder sollten nur noch an tarifgebundene Betriebe gehen“, fordert Ahrens. Wenn so einem tarifflüchtigen Betrieb etwa ein öffentlicher Auftrag für 60 Polizeifahrzeuge durch die Lappen gehe, könne dies durchaus Signalwirkung haben. Und Forscher Kraetsch bringt einen ermäßigten Innungsbeitrag für Betriebe ins Spiel, die bereits Pflichtmitglied in der Handwerkskammer sind. „Dann würden vielleicht auch mehr Neu-Betriebe eintreten.“ Die Innungen bräuchten ein attraktives Dienstleistungs- und Beratungsangebot – und müssten dies auch nach außen kommunizieren, bekräftigt DGB-Handwerkssekretär Helmut Dittke.

Ob Innungen wieder mit Leben erfüllt werden können, hängt auch daran, wie sehr sie sich in Zeiten des demografischen Wandels für den Nachwuchs engagieren, sagt Clemens Kraetsch. Dass zuletzt 24 000 Ausbildungsplätze im Handwerk unbesetzt blieben, in Ostdeutschland selbst Autowerkstätten ohne Erfolg Azubis suchen, obwohl Kfz-Mechatroniker zu den beliebtesten Lehrberufen zählt, wundert den Betriebsrat Wolfgang Fechner nicht. Der Branchenkenner spricht von Billigarbeit statt Ausbildung, von „Lehrlingssklaven“, denen nicht einmal Ausbildungskosten erstattet würden. Wenn die Innungen in die Betriebe gehen würden, würden sie das sehen, sagt Fechner. „Doch das passiert nicht.“

Gutachten: OT-Mitgliedschaften sind gesetzeswidrig

Seit ein paar Jahren bieten auch Handwerksinnungen zunehmend sogenannte „OT-Mitgliedschaften“ an, um Betriebe zum Eintritt zu bewegen. Um die Rechtmäßigkeit solcher Mitgliedschaften, bei denen Unternehmen die Vorteile einer Innung wie Fachberatung oder Weiterbildungsangebote genießen können, ohne die ausgehandelten Tariflöhne zu bezahlen, gibt es seitdem Streit: Die Innungen verweisen darauf, dass Arbeitgeber in der Industrie OT-Mitgliedschaften seit Längerem anwenden – eine Praxis, die das Bundesarbeitsgericht 2010 gebilligt hat.

 

In Niedersachsen dagegen untersagte die zuständige Handwerkskammer Innungen eine Satzungsänderung, die OT-Mitgliedschaften erlaubt hätte. Das Verwaltungsgericht Braunschweig bestätigte die Handwerkskammer 2010 in der Auffassung, dass die Innungen keine Mitgliedschaften ohne Tarifbindung anbieten dürfen. Zum gleichen Schluss kommt jetzt auch Winfried Kluth, der an der Universität Halle-Wittenberg öffentliches Recht lehrt, in einem Gutachten für die Hans-Böckler-Stiftung. „Der Zweck der öffentlich-rechtlichen Einrichtung Innung, nämlich Tariffähigkeit zu fördern, würde dadurch konterkariert“, betont Kluth. Der Gesetzgeber habe mit der gesetzlichen Sonderstellung der Innungen gerade beabsichtigt, Tarifabschlüsse im kleinen und mittelständisch geprägten Handwerksbereich zu ermöglichen. Eine Satzungsänderung für OT-Mitgliedschaft könne die „Grundstruktur der Mitgliedschaft“ von Innungen verändern. Eine Entscheidung darüber könne aber keine Innung oder Handwerkskammer, sondern nur der Gesetzgeber treffen. Der DGB hofft, dass das Kluth-Gutachten „einen wichtigen Beitrag, vielleicht sogar einen Schlusspunkt zur Debatte um OT-Mitgliedschaften in Innungssatzungen“ darstellt.

 

Winfried Kluth: DIE ZULÄSSIGKEIT EINER MITGLIEDSCHAFT OHNE TARIFBINDUNG IN HANDWERKSINNUNGEN. Eine handwerks- und verfassungsrechtliche Untersuchung. Arbeitspapier 283 der Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf 2013

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