Quelle: HBS
Magazin MitbestimmungSpanien: Liste der Grausamkeiten
Die Arbeitsmarktreformen der Regierung Rajoy haben vor allem eins bewirkt: Entlassungen werden billiger, die Unternehmer machen massenhaft davon Gebrauch. Das als Wachstumspolitik zu verkaufen, entbehrt nicht einer gewissen Dreistigkeit. Von Reiner Wandler
Am 26. März waren überall in Spanien Fabriken, Häfen und Großmärkte geschlossen. Die Müllabfuhr kam zum Erliegen, Schüler, Studenten und Lehrkräfte blieben zu Hause, Krankenhäuser und der öffentliche Nahverkehr wurden nur durch ein Notdienst-Dekret aufrechterhalten und die großen Kaufhäuser von einem starken Polizeiaufgebot bewacht. In Madrids Zentrum demonstrierten eine halbe Million Menschen. Die beiden großen Gewerkschaften des Landes, CCOO und UGT, hatten den Generalstreik ausgerufen. Sie protestierten gegen eine Arbeitsmarktreform, die Entlassungen erleichtert und die Tarifautonomie weitgehend aushebelt. Der Protesttag war der vorläufige Höhepunkt eines Jahres, in dem in Spanien keine Woche ohne größere Mobilisierungen durch die Gewerkschaften oder die „Indignados“ – die Bewegung der Empörten – verging. „Die Reform ist ungerecht, unnütz und wirkungslos. Und sie wird zu vielen Entlassungen führen“, prophezeiten der CCOO-Vorsitzende Ignacio Fernández Toxo und sein Amtskollege bei der UGT, Cándido Méndez. Sie sollten recht behalten. Die Arbeitslosigkeit nimmt krasse Dimensionen an. In den ersten beiden Monaten nach Inkrafttreten des neuen Gesetzes wurden 53 Prozent mehr Einzelentlassungen ausgesprochen als im Vorjahr und 20 Prozent mehr Verfahren für Massenentlassung eingeleitet. So mancher Unternehmer hatte – augenscheinlich – auf die Reform gewartet, die im Februar von der konservativen Regierung Rajoy zuerst per Dekret erlassen und Ende Juni als Gesetz verabschiedet wurde. Die Logik der Arbeitsmarktreform ist so simpel wie dreist: Mit mehr Druck auf die Arbeitnehmer und mehr Rechten für die Unternehmer soll der Arbeitsmarkt angekurbelt werden. 25 Prozent sind in Spanien arbeitslos, bei jungen Menschen sind es knapp 50 Prozent. „Ist die Gefahr, entlassen zu werden, sehr gering, wird der Anreiz für Leistung genommen, und es entsteht Widerstand gegen eine Anpassung an neue Notwendigkeiten“, schreibt die Regierung Rajoy.
Verbilligte Entlassungen_ In Spanien ist die Abfindung die größte Hürde, einem Arbeitnehmer zu kündigen. Sie ist quasi der Kündigungsschutz. Diese Hürde wird im neuen Gesetz deutlich gesenkt, von maximal 42 Monatslöhnen auf jetzt maximal zwölf Monatslöhne – bei gesetzlich nicht gerechtfertigten Entlassungen. Bei wirtschaftlich begründeten Entlassungen gibt es nach wie vor eine Abfindung von maximal 24 Monatslöhnen. Doch kann der Unternehmer Entlassungen – individuell und massenhaft – bereits dann veranlassen, wenn er drei Quartale lang schlechtere Ergebnisse erzielt hat als im Vorjahreszeitraum oder einfach nur für die Zukunft rote Zahlen befürchtet. Außerdem muss „das Verfahren zur Regulierung der Belegschaft“ (ERE) – die Massenentlassung – nicht mehr von den Behörden genehmigt werden.
Des Weiteren kann der Unternehmer, wenn das Geschäftsvolumen zwei Quartale lang rückläufig ist, einseitig Vertragsbedingungen wie Löhne, Arbeitszeit oder Einsatzort ändern und damit den Tarifvertrag außer Kraft setzen. Arbeitnehmer, die damit nicht einverstanden sind, haben das Recht, „sich selbst zu entlassen“. Der Mitarbeiter nimmt dann die Abfindung von 20 Arbeitstagen pro Arbeitsjahr und geht.
Damit ist die Liste der Grausamkeiten noch nicht zu Ende. In Betrieben bis zu 50 Mitarbeitern wird durch einen sogenannten „Vertrag zur Unterstützung des Unternehmers“ die Probezeit der Arbeitnehmer von drei Monaten auf ein Jahr erhöht. Für Menschen unter 30 sieht das Gesetz einen schlecht bezahlten, einjährigen Anlernvertrag vor, wobei ein Betrieb denselben Mitarbeiter mehrmals hintereinander für verschiedene Aufgaben „anlernen“ kann.
NACHTEILIG FÜR DIE WETTBEWERBSFÄHIGKEIT
Es ist nun nicht das erste, sondern das 52. Mal, dass die Arbeitsmarktgesetzgebung seit der Rückkehr Spaniens zur Demokratie Ende der 1970er Jahre geändert wird. „Alle Reformen wurden ohne Einigung der Tarifparteien erlassen. Sie förderten die Zunahme befristeter, prekärer Arbeitsverhältnisse in Zeiten des Wachstums und haben in Krisenzeiten die Zerstörung von Arbeitsplätzen nicht aufgehalten, sondern sogar noch gefördert“, heißt es in einer Studie der Gewerkschaftsstiftung „1 de Mayo“. Diese Politik verhindere eine langfristige Bindung qualifizierter Arbeiter an die Unternehmen, was sich wiederum nachteilig auf die Wettbewerbsfähigkeit der spanischen Wirtschaft auswirke. In der Studie ist von einer geplatzten „Beschäftigungsblase“ die Rede und davon, dass nicht der Arbeitsmarkt an der aktuellen Krise und der hohen Arbeitslosigkeit schuld ist, sondern das spanische Wirtschaftsmodell.
Ministerpräsident Rajoy hat weitere unpopuläre Maßnahmen in seiner kurzen Amtszeit erlassen. Drei große Kürzungswellen mussten die Spanier bisher im Dienste der Haushaltskonsolidierung über sich ergehen lassen. Anfang des Jahres wurden im Staatshaushalt 27 Milliarden gekürzt. Die Regionen sparen im Bildungs- und Gesundheitswesen weitere 18 Milliarden ein. Das letzte Paket wurde Mitte Juli verkündet und ist das bisher härteste. Zusätzliche 65 Milliarden Euro sollen in den kommenden zwei Jahre eingespart werden. Den 2,1 Millionen Beamten und 600 000 Angestellten im öffentlichen Dienst, die bereits eine Lohnkürzung von durchschnittlich fünf Prozent hinnehmen mussten, wird für mindestens drei Jahre das Weihnachtsgeld gestrichen. Auch das Krankengeld wird im öffentlichen Dienst gekürzt. Bisher erhielten die Beschäftigten drei Monate lang 100 Prozent des Gehaltes. Jetzt werden für die ersten drei Krankheitstage nur 50 Prozent und dann bis zum 20. Tag 75 Prozent bezahlt. Erst dann sind es 100 Prozent.
Für alle Beschäftigten wird das Arbeitslosengeld von 60 auf 50 Prozent gesenkt. Auch die Wiedereingliederung von Langzeitarbeitslosen fällt der Sparwut zum Opfer. Für viele Familien verschärft sich die Lage dramatisch. Über 5,6 Millionen Spanier sind arbeitslos – die Hälfte seit mehr als einem Jahr. In 1,4 Millionen Familien arbeitet keine einzige Person mehr. 2011 wurden täglich im Schnitt 159 Familien zwangsgeräumt, weil sie ihre Wohnung nicht mehr bezahlen konnten. Gleichzeitig erhöhen sich die Lebenshaltungskosten: Ab 1. September wird die Mehrwertsteuer von 18 Prozent auf 21 Prozent erhöht, während Besserverdienende und große Vermögen einmal mehr verschont bleiben.
Die Kürzungspakete sind ein Zugeständnis der spanischen Regierung an Brüssel und die Troika, um einen 100-Milliarden-Euro-Kredit für die Bankenrettung und eine Fristverlängerung von einem Jahr im Kampf gegen das Haushaltsdefizit zu erreichen. Dieses muss erst 2014 statt 2013 von derzeit 8,5 Prozent auf unter drei Prozent gedrückt werden. Die gesamte Krisenpolitik findet ohne Dialog mit den Tarifparteien statt, bestätigt Paloma López von der CCOO. „Die Regierung hat zu keinem Zeitpunkt verhandelt. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände wurden gesondert geladen und gehört.“ Dabei lagen Alternativvorschläge der Tarifparteien auf dem Tisch. Kurz vor der per Dekret verfügten Arbeitsmarktreform hatten CCOO, UGT und der Arbeitgeberverband COE eine „Regelung zur internen Flexibilisierung“ ausgehandelt. Diese Übereinkunft orientierte sich ein Stück weit an der deutschen Kurzarbeit. In Krisenzeiten sollten Unternehmensleitung, Gewerkschaften und Betriebsrat gezielte Arbeitszeitverkürzungen, Aufteilung der verbleibenden Arbeit auf alle Beschäftigten sowie teilweise Arbeitslosigkeit aushandeln.
Die Verhandlungspartner versprachen sich davon einen stabileren, weniger prekären Arbeitsmarkt, der qualifizierte Arbeitnehmer auch in Krisenzeiten an die Unternehmen bindet. „Doch die Regierung hat dieses Abkommen einfach übergangen. Stattdessen wird das Kräfteverhältnis hin zur Unternehmerseite verschoben, viele der Maßnahmen gefährden den sozialen Frieden“, sagt López und prophezeit unruhige Zeiten.
Wenige Tage später brechen die Demonstrationen gegen das 65- Milliarden-Sparpaket alle Rekorde. Am 19. Juli – mitten in der Urlaubszeit – gingen spanienweit über dreieinhalb Millionen Menschen auf die Straße. Für September ist ein weiterer Generalstreik geplant.
Text und Foto: Reiner Wandler, Journalist in Madrid