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Magazin Mitbestimmung

Schlecker: Letzte Hoffnung

Ausgabe 09/2012

Die Joblage im Handel ist so katastrophal wie die Aussichten für die meisten der 27.000 Schlecker-Beschäftigten. ver.di will nun einige Dorfläden über ein Genossenschaftsmodell retten. Von Annette Jensen

Bei einem Männerbetrieb wie Opel wäre so etwas wie bei Schlecker nicht passiert“, ist Gewerkschaftssekretär Achim Neumann sicher. Seit sieben Jahren betreut er den Gesamtbetriebsrat der Drogeriekette. Sowohl Regierungsmitglieder als auch der Chef der Bundesagentur für Arbeit (BA) hätten bei der größte Pleite der letzten Jahrzehnte eine völlig verquere Realitätswahrnehmung gehabt und entsprechend wenig getan, kritisiert der ver.di-Mann.

So versicherte der BA-Vorstandsvorsitzende Frank-Jürgen Weise im Frühjahr, die Arbeitsmarktlage im Handel sei günstig, die „Schlecker-Frauen“ hätten gute Chancen, schnell wieder einen Job zu finden. Auch Wirtschaftsminister Philipp Rösler ging von einer baldigen „Anschlussverwendung“ der Drogeriemarktbeschäftigten aus.
Die Realität für die meisten der über 27 000 Entlassenen sieht trübe aus, räumt die Sprecherin der Bundesagentur für Arbeit, Frauke Wille, inzwischen ein. „Wir müssen unsere Einschätzung vom März revidieren.“ Bis Anfang August hatten gerade mal 4550 einen neuen Job gefunden. Das ist nicht mal jede Fünfte.

NIEDRIGLÖHNE UND KOSTENLOSE PRAKTIKA

Wirklich wundern muss man sich darüber allerdings nicht: Wie aus der Antwort auf eine kleine Anfrage der Linken hervorgeht, suchten im Mai 296 000 Menschen im Handel eine Stelle – doch nur 27 000 Jobs waren gemeldet, darunter gerade einmal 8000 Vollzeitangebote. Mehr als ein Drittel aller freien Stellen war zudem befristet. ver.di-Gewerkschaftssekretärin Christina Frank aus Stuttgart, die für 550 ehemalige Schlecker-Beschäftigte zuständig ist, berichtet von unzähligen Telefonaten und unzumutbaren Stellenangeboten. 600 Euro Monatsverdienst plus Provision bei einem Möbelhaus seien ebenso dabei wie die Anforderung einer Tankstelle, erst einmal zwei Wochen lang ein kostenloses Praktikum zu absolvieren. Zwar bestätigt BA-Pressefrau Wille, dass Arbeitslosengeld-I-Empfängerinnen in den ersten drei Monaten nur Stellen mit einem maximal 30 Prozent niedrigeren Lohn als bisher annehmen müssten. Doch in vielen Anzeigen ist nur blumig von „angemessenem“ oder „leistungsgerechtem“ Lohn die Rede, sodass die Schlecker-Entlassenen gezwungen sind, sich dort vorzustellen. „Es ist nicht unsere Aufgabe, die Online-Stellenangebote zu prüfen“, verteidigt Wille das Vorgehen der BA.

Viele Schlecker-Beschäftigte müssen schockiert feststellen, dass ihr immer wieder aufgrund katastrophaler Arbeitsbedingungen in die Schlagzeilen geratener Betrieb am Schluss zumindest im Umgang mit den Beschäftigten zu den Branchenbesten gezählt hat – wohl aufgrund des hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrads von über 40 Prozent. Nach zahllosen gerichtlichen Auseinandersetzungen gelang es Ende der 1990er Jahre, Tariflöhne zu erzwingen. Auch der Anteil der Vollzeitbeschäftigten lag mit 63 Prozent zuletzt weit über dem Branchenschnitt. „Im Handel gibt es heute fast nur noch prekäre Arbeitsangebote“, fasst ver.di-Sekretär Neumann die Lage zusammen. Auch die Bundesregierung bestätigt auf eine Anfrage der Linken, dass viele im Handel Beschäftigte nicht mehr von ihrer Arbeit leben können: Im Jahr 2010 zahlte der Staat an Aufstocker jeden Monat Lohnzuschüsse in Höhe von 51 Millionen Euro.

FDP LIESS FRAUEN IM STICH

Bernhard Franke, ver.di-Landesfachbereichsleiter für die Branche, hat im Lenkungsausschuss des Schlecker-Insolvenzverwalters gesessen und ist nun ziemlich frustriert. „Sicher, es war objektiv schwer, Schlecker zu retten. Der Zeitdruck war enorm, weil auch in der Insolvenz laufend weiter Verluste entstanden“, räumt er ein. Den endgültigen Todesstoß aber habe die bayerische FDP dem Unternehmen versetzt. Ende März hatte der baden-württembergische Wirtschaftsminister Nils Schmid (SPD) eine gemeinsame Kreditbürgschaft der Länder über 70 Millionen Euro vorgeschlagen. Damit sollte ein Darlehen der KfW-Bank abgesichert werden, um eine Transfergesellschaft für die Schlecker-Mitarbeiterinnen zu finanzieren. Im Gegenzug zu einem halben Jahr Beschäftigung und Weiterbildung hätten die Gekündigten auf Ansprüche gegenüber Schlecker verzichtet und so den Verkauf des Restunternehmens erleichtert.

Doch Bayern spielte nicht mit. Die dortige FDP, Juniorpartner in der Münchner Regierungskoalition, lehnte eine Garantie des Freistaats über 20 Millionen Euro ab. „Und Baden-Württemberg kann nicht allein ins Obligo für alle Bundesländer gehen“, begründet Frank Kupferschmidt aus dem Stuttgarter Wirtschaftsministerium, warum dann auch sein Land einen Rückzieher machte. Jeder Investor hätte sich daher mit einer Schlecker-Übernahme auch das Risiko von 4500 Kündigungsschutzklagen ins Haus geholt. Tatsächlich haben mittlerweile zahlreiche Frauen aus der ersten Kündigungswelle vor Arbeitsgerichten geklagt – und die ersten bekamen bereits aufgrund der nicht nachgewiesenen Sozialauswahl Recht. Sie haben nun Anspruch auf drei Monate Lohnfortzahlung.

Auf ihre Abfindungen aber werden alle Schlecker-Beschäftigten noch bis nach dem Abschluss des Insolvenzverfahrens warten müssen. Das kann Jahre dauern. ver.di-Mann Franke schätzt, dass es am Schluss nur wenig zu verteilen geben wird – zumal der Belegschaft dem Gesetz nach maximal ein Drittel zusteht.

LETZTE HOFFNUNG GENOSSENSCHAFT

Ein paar Shops hat inzwischen Konkurrent Rossmann übernommen, ein anderes Filial-Päckchen ging an den Textildiscounter NKD. Doch die neuen Besitzer sind nicht verpflichtet, die Schlecker-Mitarbeiter zu beschäftigen. Einziger Lichtblick ist die Idee, dass ehemalige Schlecker-Beschäftigte selbst Läden übernehmen und in Eigenregie weiterführen.

Etwa 600 der über 5400 Schlecker-Filialen stehen auf einer Liste, die ver.di zusammengestellt hat. Sie haben entweder einen herausragenden Umsatz von über 500.000 Euro gemacht oder waren die einzige Einkaufsmöglichkeit weit und breit. Die Situation führt zu neuartigen Bündnissen: ver.di, die Linke und der Kirchliche Dienst in der Arbeitswelt haben eine Studie bei einer Unternehmensberatung bestellt, die sich auf die Entwicklung von Dorfläden spezialisiert hat. Newway-Leiter Wolfgang Gröll soll nun anhand von ausgewählten Beispielen untersuchen, wo und unter welchen Voraussetzungen Vollzeitarbeitsplätze entstehen könnten.

„Sinnvoll wäre es, eine Dachgenossenschaft zu gründen“, schlägt er vor. Die könnte nicht nur Zuschüsse beispielsweise von den Ländern oder interessierten Bürgern vor Ort einwerben, um den Aufbau der Läden zu fördern. Auch ein gemeinsamer Einkauf lasse sich so organisieren, um bessere Konditionen bei den Lieferanten zu bekommen. Darüber hinaus könnte die Dachgenossenschaft die frischgebackenen Geschäftsführerinnen beraten und bei der Buchhaltung unterstützen.

Ob und inwieweit sich die baden-württembergische Landesregierung an einem solchen Projekt beteiligt, ist unklar. „Wir werden kein ‚Sonderinstrument Schlecker-Frau‘ auf die Beine stellen, aber bereits existierende Existenzförderberatung besonders anbieten“, so Wirtschaftsministeriumssprecher Kupferschmidt. Er kündigte einen entsprechenden Leitfaden an.

Eile scheint geboten. Denn je länger die Schlecker-Filialen dicht sind, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass andere Läden die entstandene Lücke füllen. In Thüringen preschen die ehemalige Schlecker-Betriebsrätin Doreen Krieg aus Meiningen und einige Mitstreiterinnen vor. Unterstützt von ver.di, haben sie schon Kontakt mit dem Mitteldeutschen Genossenschaftsverband aufgenommen. Der schlägt Läden vor, an dessen Aufbau sich die Bürger vor Ort finanziell beteiligen. Doch auch das wird nur punktuell helfen: Achim Neumann schätzt, dass bestenfalls 200 frühere Schlecker-Filialen von den Beschäftigten gerettet werden können.

Text: Annette Jensen, Journalistin in Berlin

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