Quelle: Thomas Kienzle
Magazin MitbestimmungBildung: Lernzeit ist Arbeitszeit
Mit einer Konzernbetriebsvereinbarung zur digitalen Qualifizierung sind die Beschäftigtenvertreter von Bosch für den Betriebsräte-Preis nominiert. Von Stefan Scheytt
Bosch sei ein Pionier in Sachen Internet of Things, das Unternehmen entwickle „die Fabrik der Zukunft“, zunächst in den eigenen Werken, dann für Kunden: So vermeldet es der Konzern, der mit dem Slogan „Technik fürs Leben“ wirbt. „In der Fabrik der Zukunft sind nur noch Boden, Wände und Decke statisch und fest, alles andere ist variabel und flexibel. Je nach Anforderung erfindet sich die Fabrik der Zukunft immer wieder neu.“
Bei so viel Pioniergeist finden es nicht zuletzt Betriebsräte von Bosch erstaunlich und auch ärgerlich, dass viele Beschäftigte immer noch keinen Zugang zum betrieblichen Internet haben. „Dass Bosch sich digitalisiert und digitale Produkte anbietet, finden wir gut“, sagt Constanze Kurz, die im GBR- und KBR-Büro von Bosch die Geschäfte führt. „Aber gerade in der Fertigung haben viele Kollegen weder einen eigenen Laptop noch eine Adresse, um sich als User ins Firmennetz einzuklinken, während andere Kollegen das völlig selbstverständlich auf ihren gestellten Arbeitsmitteln tun.“
Constanze Kurz spricht von einer sozialen Hierarchie mit der Folge, dass für viele Kollegen digitale Qualifizierung gar nicht möglich sei : Sie können sich eben nicht, um im Firmensprech zu bleiben, immer wieder neu erfinden. Eine Konzernbetriebsvereinbarung (KBV), für die die Arbeitnehmervertretung nun für den Betriebsräte-Preis 2020 nominiert ist, schafft Abhilfe, es gilt: „Digitales Lernen für alle“.
Der Stein kam ins Rollen, als Bosch 2018 nach einem Pilotprojekt die digitale Qualifizierung firmenweit ausrollen wollte. „Dadurch kamen viele strittige Fragen auf den Tisch – nicht nur der fehlende Zugang und die fehlenden Geräte, sondern auch Themen wie Arbeitszeit und Lernort“, berichtet Mustafa Kalay, Betriebsrat am Standort Feuerbach und Verhandlungsführer für die KBV. Die gibt inzwischen den Rahmen vor: Jeder Mitarbeiter hat Anspruch darauf, sich an drei Tagen im Jahr digital zu qualifizieren, wobei gilt: „Lernzeit ist Arbeitszeit“. Ebenso gilt der Grundsatz, dass jeder Mitarbeiter selbstbestimmt lernt, also frei ist in der Wahl der Lernformate und -inhalte.
Lernorte können beispielsweise die S-Bahn, das Flugzeug oder der Küchentisch zu Hause sein, aber auch ein separater Raum im Betrieb, der sich allerdings als echter Rückzugsort zum Lernen eignen muss. Außerdem werden den Qualifizierungswilligen auf Wunsch Lernbegleiter zur Seite gestellt, an manchen Standorten übernehmen Auszubildende diese Funktion. Erstritten haben die Betriebsräte auch die Einrichtung eines zentralen sowie vieler lokaler Steuerkreise, die paritätisch besetzt sind und die die Ausgestaltung der KBV an den Standorten individuell verhandeln. So entstehen fast flächendeckend digitale Weiterbildungsstrategien, differenziert nach Beschäftigtengruppen.
Neben dem Mehrwert für viele Zehntausend lernwillige Kollegen sehen Kurz und Kalay auch Fortschritte in Sachen Mitbestimmung. „In einer der größten Transformationen der letzten 100 Jahre sind wir als Betriebsräte in eine neue Gestaltungsrolle gekommen, indem wir die Bedingungen für digitale Weiterbildung ein Stück weit mit definieren“, sagt Constanze Kurz. Mustafa Kalay freut es, dass das Thema viele Arbeitnehmergremien an Bosch-Standorten in ganz Deutschland aktiviert hat. Schon ist ein Betriebsrätenetzwerk eingerichtet, um das digitale Lernen weiter voranzutreiben. „Mich rufen jetzt Kollegen an, die ich zuvor nicht kannte“, sagt Kalay. „Das zeigt mir: Wir haben Bewegung reingebracht.“