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Andreas Schulz ist seit 2014 Betriebsratsvorsitzender in Wismar. Magazin Mitbestimmung

Von JOACHIM F. TORNAU: Lear Corporation Wismar: Harter Weg zum besseren Schichtmodell

Ausgabe 09/2017

Betriebsrat Über zwei Jahre dauerten die Verhandlungen. Am Ende hat der Betriebsrat ein besseres Schichtmodell durchgesetzt, das die gesundheitlichen Belastungen für die Mitarbeiter senkt.

Von JOACHIM F. TORNAU

Bei Lear in Wismar setzt man auf Abschottung. Wer die Fabrik des US-amerikanischen Automobilzulieferers an der mecklenburg-vorpommerschen Ostseeküste besuchen möchte, darf weder fotografieren noch hinterher über seinen Besuch sprechen. „Jegliche Information, die Sie im Werk erhalten, darf nicht an Dritte weitergegeben werden“, belehrt ein Aushang an der Pförtnerloge. Und das scheint nach Ansicht der Werksleitung auch für Gespräche mit dem Betriebsrat zu gelten: Um zu erfahren, was es mit dem Schichtmodell auf sich hat, das der Arbeitnehmervertretung eine Nominierung für den Betriebsräte-Preis 2017 eingetragen hat, muss man sich vor dem Werkstor treffen.

62 Gesprächsrunden, 9 Sitzungen

Andreas Schulz lässt sich von so etwas längst nicht mehr aus der Ruhe bringen. Der Werkzeugmacher ist erst seit 2014 Betriebsratsvorsitzender und hat doch schon viele Kämpfe ausfechten müssen. „Es ist nicht so, dass man keine Einigungen erzielen würde“, sagt der 45-Jährige. „Aber es ist immer langwierig.“ Für die Betriebsvereinbarung zur Schichtarbeit ist das allerdings noch weit untertrieben. Mehr als zwei Jahre dauerten die Verhandlungen, nicht weniger als 62 Gesprächsrunden plus neun Sitzungen der Einigungsstelle schlugen am Ende zu Buche. „Eine gewisse Hartnäckigkeit“, sagt Schulz, „war da schon vonnöten.“

Bei Lear in Wismar wird rund um die Uhr an sieben Tagen in der Woche gearbeitet. Rund 100 der 300 Beschäftigten – einschließlich Leiharbeitern – leisten vollkontinuierlichen Schichtdienst bei der Produktion von Elektrosteckern. Und das taten sie früher standardmäßig in Blöcken von sieben Arbeitstagen am Stück, eine längere Freiphase gab es erst nach drei Wochen. Das System basierte auf einer 42-Stunden-Woche und kannte keine bezahlten Pausen. „Das war brutal“, sagt Schulz. Denn die eingesetzten Spritzgussmaschinen würden so heiß, dass in der Werkshalle zumeist tropische Temperaturen herrschen. Häufige Krankmeldungen seien die Folge gewesen.

DAS UNTERNEHMEN

Lear Corporation, vor genau 100 Jahren in Detroit gegründet, ist mit 156 000 Beschäftigten in 38 Ländern einer der führenden Zulieferer der Autoindustrie weltweit. Produziert werden Sitze und Elektrobauteile. In Deutschland arbeiten 6500 Menschen an 16 Standorten für das Unternehmen. Das Werk im Wismarer Stadtteil Wendorf gehört seit 2004 dazu. Wo zu DDR-Zeiten der VEB Elektroinstallationen Wismar Haushaltsstecker herstellte, produziert Lear heute rund 650 verschiedene Steckverbinder für die Autoelektrik – und hat prall gefüllte Auftragsbücher.

Also stieg der Betriebsrat in Verhandlungen über ein neues Schichtmodell ein. Weniger Raubbau an der Gesundheit, mehr Zeit für Freizeit und Regeneration – das war das Ziel. „Wir wollten eine spürbare Erleichterung für die Kollegen“, erklärt der Betriebsratsvorsitzende. Doch das Unternehmen habe auf stur geschaltet, nichts ändern wollen und versucht, die Arbeitnehmervertreter mit Hinhaltetaktik und Druck zu zermürben. Selbst als der Betriebsrat einseitig das alte Schichtmodell aufkündigte und die Werksleitung damit unter Zugzwang setzte, bewegte sich nichts. Erst im Einigungsstellenverfahren, das auf Antrag der Arbeitnehmerseite schließlich eingeleitet worden war (und alleine neun Monate dauern sollte), zeigte sich das Unternehmen zum Einlenken bereit.

Konfliktfähiger Betriebsrat

„Was diesen Prozess auszeichnet, ist die Konfliktfähigkeit von Betriebsrat und Belegschaft“, sagt Daniel Friedrich, erster Bevollmächtigter der IG Metall Lübeck-Wismar. „Gerade in einer Region mit hoher Arbeitslosigkeit ist das nicht selbstverständlich – und kann anderen Mut machen.“ Dem neuen Schichtmodell liegt eine tarifliche Wochenarbeitszeit von nur noch 38 Stunden (und 40 Stunden für die Schichtleiter) zu Grunde. Eine halbstündige Pause pro Schicht zählt als Arbeitszeit, wird aber nicht bezahlt, sondern mit Freizeit ausgeglichen.

Die reale Wochenarbeitszeit sank damit auf 35 Stunden, es gibt 15 Freischichten mehr als früher. Vor allem jedoch folgen in dem Schichtplan nie mehr als sechs Arbeitstage aufeinander. Im Durchschnitt sind es fünf. Und nebenbei wurde mit der Betriebsvereinbarung auch noch die vor wenigen Jahren wieder erkämpfte Tarifbindung abgesichert. Kündigt das Unternehmen den Tarifvertrag, verliert es automatisch die nötige Zustimmung der Gewerkschaft zur vollkontinuierlichen Schichtarbeit.

NOMINIERT FÜR DEN DEUTSCHEN BETRIEBSRÄTEPREIS

Das Projekt ist nominiert für den Deutschen Betriebsrätepreis, eine Initiative der Fachzeitschrift „Arbeitsrecht im Betrieb“ des Bund-Verlags. Die Hans-Böckler-Stiftung ist Kooperationpartner und stellt mit Norbert Kluge, dem Leiter der Abteilung Mitbestimmungsförderung, ein Jurymitglied. Seit 2009 werden mit dem Preis jährlich Praxisbeispiele vorbildlicher Betriebsratsarbeit ausgezeichnet. In diesem Jahr wird der Preis am 14. Dezember auf dem Deutschen Betriebsrätetag in Bonn verliehen. Von 77 Bewerbungen wurden 12 Projekte nominiert.

Zum bevorstehenden Jahreswechsel dürfte das Unternehmen zwar noch auf ein alternativ vereinbartes Modell umsteigen, in dem es, bei gleicher Jahresarbeitszeit, auch Sieben-Tage-Blöcke gibt. Doch sinnvoll, meint der Betriebsratsvorsitzende, wäre das nicht – schon allein wegen des Krankenstands, der mit dem neuen System auf rund 4,5 Prozent gesunken sei. „Das Ding ist ein Erfolg“, sagt Schulz. Einziger Haken: „Für das Modell hätten eigentlich zehn weitere Leute eingestellt werden müssen.“ Und weil das nicht geschehen sei, ringen Betriebsrat und Werkleitung weiter miteinander. Jetzt geht es um Mehrarbeit, die die Arbeitnehmervertreter nicht einfach so genehmigen wollen.

Das Unternehmen wollte sich zum neuen Schichtmodell leider nicht äußern. Eine Anfrage des Magazins Mitbestimmung blieb unbeantwortet.

Aufmacherfoto: Iris vom Stein

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