Quelle: Stephen Petrat
Magazin MitbestimmungBetriebskultur: Kulturwandel von innen
Die Inklusion von Schwerbehinderten und chronisch Kranken im Betrieb kann Tempo aufnehmen – wenn der Betriebsrat und die Schwerbehindertenvertretung Druck machen. Von Stefan Scheytt
Seit er vor 22 Jahren zum Aromenhersteller Takasago in Zülpich bei Köln kam, berichtet Uwe Wedegärtner, sei das Unternehmen bis auf eine kurze Phase immer gewachsen. „So gesehen, sind wir hier fast im Reich der Glückseligen“, sagt der Lebensmittelingenieur. In einer Kategorie jedoch war das japanische Unternehmen lange Zeit Underperformer: Es beschäftigte nur wenige schwerbehinderte Mitarbeiter – und zahlte entsprechend viel Ausgleichsabgaben, wie viele andere auch. Das änderte sich, als vor drei Jahren mit Anschubhilfe der IGBCE erstmals ein Betriebsrat und in der Folge auch eine Schwerbehindertenvertretung (SBV) gewählt wurden.
Mittlerweile ist es ihnen gelungen, den Blick des Unternehmens auf Inklusion zu schärfen – so sehr, dass es in diesem Sommer mit dem erstmals ausgelobten IGBCE-Inklusionspreis ausgezeichnet wurde: Takasago beschleunigte in kürzester Zeit von null auf 100. Früher sei das Thema Inklusion wie von einer Nebelwolke umgeben gewesen, sagt der SBV-Vorsitzende Wedegärtner, es herrschten Unsicherheit und Scheu: Von den damals zwölf gemeldeten Schwerbehinderten bei Takasago nahmen nur fünf an der Wahl zur SBV teil.
Trotzdem zeigte die neue SBV Gesicht, nahm an Sitzungen des Betriebsrats und seiner Ausschüsse teil und sprach das Thema selbstbewusst an, nicht im Bittstellermodus. „Auch die Kolleginnen und Kollegen, die sich vorher nicht outen wollten, fassten schnell Vertrauen zu uns“, berichtet Uwe Wedegärtner. „Inzwischen erfüllen wir mit 18 Schwerbehinderten knapp die gesetzliche Quote von fünf Prozent.“
Projektmanager Wedegärtner, selbst schwerbehindert, betont die große Einvernehmlichkeit mit der Personalleitung: „Wir haben unsere Inklusionsvereinbarung nicht verhandelt, sondern besprochen, wo wir gemeinsam hinwollen.“ Ziel sei es längst nicht mehr, nur die Beschäftigungsquote zu steigern, sondern „Inklusion auf dem bestmöglichen Niveau zu erreichen“. Deshalb hat die SBV neben vielen Details auch wichtige strukturelle Vorkehrungen in der neuen Vereinbarung getroffen: So soll bald ein Inklusionsteam aus SBV, Betriebsrat und Geschäftsleitung gebildet werden, das bei der Umsetzung aller Maßnahmen als Kontrollgremium fungiert, zudem soll die Vereinbarung jährlich erneuert werden – auch das dürfte den Druck hoch halten.
Inklusion bedeutet auch, dass diejenigen, die kein Handicap haben, verstehen, was es für die Betroffenen bedeutet.“
Tatsächlich hat die junge SBV bei Takasago schon vieles erreicht. „Inklusion bedeutet auch, dass diejenigen, die kein Handicap haben, verstehen, was es für die Betroffenen bedeutet“, sagt Helmut Schiebe, Mitglied in der SBV und selbst schwerbehindert. Es sei deshalb ein tolles Zeichen gewesen, als fast drei Viertel der Führungskräfte an einschlägigen Schulungen teilnahmen: „Die Firma macht sich jetzt viel mehr Gedanken.“ Vor Schiebes Bildschirmen in der Produktionsvorbereitung liegt eine ergonomische Maus, sein Schreibtisch ist höhenverstellbar, was längst kein Statussymbol mehr sei, sondern Standard. In der Produktion selber sind überall Hebehilfen im Einsatz, demnächst sogar eine mobile Variante, wie sein Arbeitskollege Andreas Voßen berichtet.
Der gelernte Bäcker redet offen über seine Gesundheitsprobleme und darüber, wie er nach längerer Abwesenheit unter veränderten Bedingungen zurückkehren konnte: Im Rahmen des Betrieblichen Eingliederungsmanagements (BEM) fand sich eine Lösung, „wie meine Arbeit als Schichtleiter durch die Unterstützung eines Kollegen weniger Stress mit sich bringt“. Auch die BEM-Gespräche hätten ein neues Qualitätsniveau erreicht, sagt SBV-Chef Uwe Wedegärtner.
Ein positives Beispiel – dabei bleibt die Situation von Behinderten auf dem gesamten Arbeitsmarkt schwierig. Zwar ist das jährliche „Inklusionsbarometer Arbeit“ der Aktion Mensch 2023 leicht gestiegen, vor allem weil nach der Coronapandemie die Zahl der arbeitslosen Menschen mit Behinderung sank. Doch insgesamt würden Behinderte auf dem Arbeitsmarkt auch 15 Jahre nach Inkrafttreten der Behindertenrechtskonvention strukturell diskriminiert: „Wir sind weiterhin weit entfernt von gelungener Inklusion in der Arbeitswelt.“ Zentraler Grund dafür sei der Einstellungswiderstand vieler Unternehmen. Ernüchtert halten die Autoren fest, dass der Anteil der Arbeitgeber, die sämtliche Pflichtarbeitsplätze besetzen, mit 39 Prozent so niedrig ist wie nie seit Erscheinen des Barometers vor zwölf Jahren, und jedes vierte Unternehmen beschäftigt gar keine Menschen mit Behinderung, sondern zahlt lieber die Ausgleichsabgabe.
Ungenutzte Talente
Möglicherweise bröckelt der Widerstand vieler Unternehmen unter dem Druck des Fachkräftemangels. „Würden Menschen mit Behinderungen stärker in den Arbeitsmarkt integriert, könnte die Fachkräftelücke reduziert werden“, schreibt das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) und verweist auf die gute Qualifikation vieler Betroffener. Auch für Führungsaufgaben sieht das IW viele der rund drei Millionen Beschäftigten mit einer anerkannten Behinderung prädestiniert, weil sie oft stärker motiviert und besonders loyal gegenüber dem Arbeitgeber seien.
Ähnlich ist es bei chronischen Erkrankungen, ein unscharfer Sammelbegriff für bleibende Leiden wie Asthma, Krebs, Epilepsie, Multiple Sklerose, Rheuma, Diabetes, Arthrose oder Spätfolgen von Corona. Viele der Betroffenen bekommen einen Grad der Behinderung zugesprochen. Auch bei Takasago haben die meisten Schwerbehinderten diese Behinderung erst im Laufe des Berufslebens erworben. Die Belegschaften werden immer älter, und mit zunehmendem Alter steigt das Risiko einer chronischen Erkrankung – von 22 Prozent (36 bis 45 Jahre) auf 32 Prozent (46 bis 55 Jahre) und auf 46 Prozent (56 bis 65 Jahre). Nach groben Schätzungen der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin ist fast jeder zweite Arbeitnehmer in Deutschland dauerhaft krank, andere Berechnungen beziffern den Anteil der Chroniker in der Erwerbsbevölkerung auf ein Drittel.
Alle diese Menschen sind in den Betrieben unverzichtbar. Für die Unternehmen bedeutet das viel Flexibilität bei der Organisation der Arbeit. Oft ist ja nicht absehbar, wie lange ein Beschäftigter ausfällt. Verbessert sich sein Zustand noch einmal? Steht bald der nächste Klinikaufenthalt an? Und oft schwingt die bange Frage mit: Wird das noch mal was?
Wie wird eine Behinderung gemessen?
Der Grad der Behinderung (GdB) ist das Maß für die Auswirkungen einer Beeinträchtigung aufgrund eines Gesundheitsschadens. Er kann zwischen 20 und 100 variieren. Eine Gleichgewichtsstörung mit leichten Folgen wird mit 20 bewertet, der Verlust eines Auges mit 40, Taubheit mit 100. Ab einem Grad von 50 gilt man als schwerbehindert.
Sanfter Druck per Gesetz
Ein Impuls für mehr Beschäftigung von Menschen mit Behinderung ist vom „Gesetz zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarkts“ zu erwarten. Seit diesem Jahr in Kraft, erhöht es den Druck auf beschäftigungspflichtige Arbeitgeber durch eine neue, deutlich erhöhte vierte Abgabenstaffel. Dass die Abgabe grundsätzlich wirkt – wenn auch nicht unbedingt im gewünschten Ausmaß – zeigte 2022 eine Analyse des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Demnach beschäftigen Firmen knapp oberhalb des Grenzwerts von 40 Beschäftigten im Schnitt 0,2 mehr Personen mit Schwerbehinderung, als es ohne die Regelung der Fall wäre.
Freilich hat die Abgabe auch die unerwünschte Nebenwirkung, dass manche Arbeitgeber mit Absicht unterhalb der 40-Mitarbeiter-Schwelle bleiben, um einer höheren Abgabe zu entgehen. Zudem sei die Abgabe mitunter Anreiz dafür, reguläre durch geringfügig Beschäftigte zu ersetzen, weil Letztere bei der Berechnung der Unternehmensgröße oft nicht mitzählen. Das neue Gesetz sei ein guter, aber keineswegs ausreichender Schritt, findet Felix Welti, Professor für Sozial- und Gesundheitsrecht und das Recht der Rehabilitation und Behinderung an der Universität Kassel. Vor zwei Jahren legte Welti mit Kolleginnen des Hugo Sinzheimer Instituts für Arbeits- und Sozialrecht (HSI) der Hans-Böckler-Stiftung eine Evaluierung des novellierten Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG) vor und schlug darin vor, das BGG stärker mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) zu verknüpfen. Denn dann, so Welti, wäre Barrierefreiheit nicht nur in Behörden einklagbar, sondern auch in öffentlichen Einrichtungen wie Einkaufszentren oder Kinos – und eben auch bei Arbeitgebern. „Fehlende Barrierefreiheit führt oft dazu, dass keine Person da ist, die Barrierefreiheit einfordern kann. Und ein nicht barrierefreier Betrieb wird auch kaum einen Behinderten einstellen, der dann einen einklagbaren Anspruch hätte.“ Doch obwohl eine Reform des AGG im Koalitionsvertrag angekündigt wird, „behandelt das FDP-geführte Justizministerium eine derartige Bindung der Privatwirtschaft an Barrierefreiheitsvorschriften sehr aufschiebend“, kritisiert Welti. Umso bedeutender wird die Rolle der Schwerbehindertenvertretungen, um von innen zu wirken.
Auch der Sozial- und Arbeitsrechtler Wolfhard Kohte, Professor an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, sieht in der SBV einen „Motor der Inklusion“. Er verweist auf neuere sozialwissenschaftliche Untersuchungen, wonach die Beschäftigungsquote von Menschen mit Behinderungen höher ist, wenn es einen Betriebsrat gibt – und noch einmal steigt, wenn sich zusätzlich auch eine SBV für die Betroffenen einsetzt. Kohte plädiert deshalb dafür, die Arbeit der SBV durch bessere Freistellungen und Fortbildungsmaßnahmen zu fördern.
Es kann jeden jederzeit treffen – ein Unfall, eine chronische Erkrankung.“
Eine Klinik mit zehn Prozent Behinderten
Anja Lofski ist Betriebsratsvorsitzende und Schwerbehindertenvertreterin zugleich. Im Wald-Klinikum Gera, das zum Gesundheits- und Bildungskonzern SRH gehört, trägt die freigestellte Krankenschwester täglich dazu bei,
dass Kollegen mit Behinderung, die fast zehn Prozent der rund 2100 Mitarbeiter ausmachen, ihre Arbeit gut verrichten können: Sie kümmert sich um eine elektrische Schubkarre für einen geistig eingeschränkten Beschäftigten, einen hydraulischen Sitz auf dem Rasenmäher, um Spezialsoftware oder Leselupen, Antirutschmatten – oder die Umschulung einer Pflegerin zur Dokumentationsassistentin.
Sie erinnert alle, die denken, das Thema gehe sie nichts an, daran, dass Behinderungen sich oft erst dann einstellen, wenn man schon längst im Arbeitsleben steht: „Es kann jeden jederzeit treffen – ein Unfall, eine chronische Erkrankung. Wenn der Arbeitsplatz richtig ausgestattet ist, kann die Person weiterhin ihre Leistung erbringen – und das ist eine Win-win-Situation.“
Lofski ist sich sicher: „Würden uns die 180 Kolleginnen und Kollegen mit Schwerbehinderung fehlen, könnten wir wohl kaum unsere 1000 Betten weiter betreiben.“ Im Klinikum, sagt sie, sei das Inklusionsteam der entscheidende Faktor. Es besteht aus zwei Betriebsratsmitgliedern – darunter sie in ihrer Doppelfunktion – sowie dem Personalleiter und der Inklusionsbeauftragten der Klinik. „Gemeinsam arbeiten wir seit vielen Jahren an den Prozessen des Betrieblichen Eingliederungsmanagements. Das gelingt uns immer besser. Wir leben das als Team.“
Das macht die Schwerbehindertenvertretung (SBV)
Für eine Wahl müssen fünf Schwerbehinderte oder Gleichgestellte (das sind Personen mit einem Grad der Behinderung zwischen 30 und 50 Prozent) im Betrieb arbeiten. Die SBV besteht aus einer Vertrauensperson und mindestens einem Stellvertreter oder einer Stellvertreterin, die selbst nicht schwerbehindert sein müssen. Anders als der Betriebsrat hat die SBV keine echten Mitbestimmungsrechte. Sie darf aber an Vorstellungsgesprächen schwerbehinderter Bewerberinnen und Bewerber teilnehmen. Dazu kommen Unterrichtungs-, Versammlungs- und Rederechte. Die SBV soll die Einhaltung von Gesetzen, Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen überprüfen.