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Magazin MitbestimmungVon MARTIN KALUZA: Küssen und kotzen
Das politische Lied Nina Hagen wächst in Ostberlin auf. Nach der Übersiedlung in den Westen prägt sie den deutschen Punk. Die Tabus der Bundesrepublik sind der Rohstoff, aus dem sie ihre Songs macht.
Von MARTIN KALUZA
„Ich war schwanger / Mir ging’s zum Kotzen / Ich wollt’s nicht haben / musste gar nicht erst nach fragen“. So kann 1978 nur eine über Schwangerschaftsabbrüche singen, und sie tut das mit vielen Kieksern und reichlich Ärger in der Stimme. Nina Hagen, in Ostberlin geboren und aufgewachsen, hat in der DDR gelernt, sich nicht zu verbiegen. In der Bundesrepublik nun kann sie hinaussingen, was ihr an der ollen Gesellschaft alles nicht passt.
Wolf Biermann, mit dem ihre Mutter, DDR-Filmstar Eva-Maria Hagen, einige Jahre liiert war, hatte Nina Hagen das Gitarrespielen beigebracht. Auch als Querdenker wurde er ihr Vorbild. 1976 sollte sie ihm in die Bundesrepublik folgen.
Doch zunächst wurde sie staatlich anerkannte Berufsmusikerin und sang Schlager: „Die ’süße Kleine‘ durfte ihr süßes kleines Mäulchen aufreißen, mit dem staatlich geprüften Hintern wackeln und in den Pausen von grauen Betriebsfesten, graueren SED- und noch grauenhafteren FDJ-Veranstaltungen den ihr abverlangten geistigen Süßmüll absondern“, schreibt sie in ihrer Autobiografie „Bekenntnisse.“ Ihr größter Hit in der DDR war das pfiffig-subversive „Du hast den Farbfilm vergessen“.
Frisch in den Westen übergesiedelt fährt Hagen weiter nach London, schließt sich der Punk-Bewegung an und nimmt dann mit vier Profimusikern ihr Debutalbum „Nina Hagen Band“ auf. Sie haut dem Publikum eine Musik um die Ohren, die schrill ist wie sie selbst, eine Mischung aus Punk, Reggae und Disko-Funk-Synthesizern. Hagen singt über Rollenklischees, über Sex mit einer Frau auf dem Bahnhofsklo, über das unsägliche Fernsehen – und über Abtreibungen.
Die Debatte hat die Bundesrepublik schon das ganze Jahrzehnt über erhitzt. Im Juni 1971 war eine Ausgabe des Stern erschienen, in der 374 Frauen offen zugaben: „Wir haben abgetrieben“ – darunter Senta Berger, Romy Schneider und Alice Schwarzer. Das hatte Mut erfordert. Schwangerschaftsabbrüche waren verboten. Zudem waren Abtreibungen gefährlich, viele Frauen gerieten mangels legaler Angebote an Kurpfuscher.
Der Abtreibungsparagraf 218 stammte noch aus dem 19. Jahrhundert und spiegelte schon lange nicht mehr die Wirklichkeit wider. Die sozial-liberale Regierung unter Willy Brandt nahm sich den Paragrafen zusammen mit einer Reihe von Reformen vor. Der Bundestag war so gespalten wie die Bevölkerung. Im April 1974 kreiste die Generaldebatte um die Frage, ob das Persönlichkeitsrecht der Mutter oder das Lebensrecht des Ungeborenen höher zu bewerten sei.
Der Bundestag beschloss, dass Schwangerschaftsabbrüche in den ersten drei Monaten straffrei bleiben, wenn die Schwangere sich zuvor von einem Arzt beraten lässt – das war die von der SPD favorisierte Variante. Der Bundesrat kassierte das Gesetz mit seiner CDU/CSU-Mehrheit wieder ein. Auch nach der Reform im Jahr 1976 blieben Abtreibungen verboten, doch die Strafe sollte unter bestimmten Bedingungen ausbleiben.
Bis heute ist der Schwangerschaftsabbruch rechtswidrig, aber er bleibt in den ersten drei Monaten straffrei, wenn die Schwangere zur Beratung geht.
„Marlene hatte andre Pläne / Simone Beauvoir sagt: ‚Gott bewahr!‘ / Und vor dem ersten Kinderschrei’n / Muss ich mich erst mal selbst befrei’n“, singt Nina Hagen. Ihr geht es nicht nur um den Paragrafen, sondern um Anerkennung der bewussten Entscheidung, keine Kinder zu bekommen: „Augenblicklich fühl ich mich / unbeschreiblich weiblich“.
Nina Hagen hat selbst zwei Mal abgetrieben. In ihren Erinnerungen beschreibt sie das nicht als Ausdruck von Selbstbestimmung, sondern als demütigende Erfahrungen. Sie war damals 15 und 16 Jahre und wurde dazu gedrängt. Die Boulevardpresse schlachtete dieses Bekenntnis genüsslich aus.
Drei Jahre nach der Veröffentlichung von „Unbeschreiblich weiblich“ bringt Nina Hagen ihre Tochter Cosma Shiva zur Welt. Selbstbestimmung heißt ja gerade, dass man die Wahl hat.
Aufmacherfoto: Jim Rakete/photoselection