Quelle: HBS
Magazin Mitbestimmung: Kommunales Schattenboxen
PERSONALRÄTE Wie sich Personalratsarbeit ändert, wenn eine Stadt wie Essen ihre finanzielle Autonomie verliert. Von Christoph Mulitze
Von CHRISTOPH MULITZE ist Journalist in Düsseldorf./Foto: Ulrich Baatz
Das Essener Rathaus ist eines der größten in Deutschland. Beton-Brutalismus aus den 70er Jahren, 23 Etagen und 106 Meter hoch. Bei klarem Wetter ist eine Sicht nahezu übers ganze Ruhrgebiet möglich, die alte Herzkammer des Wirtschaftswunders. Heute verdunkeln Wolken den Himmel, ein Gewitter kommt auf. Als Kai-Uwe Gaida, der Personalratsvorsitzende, in seinem Büro in der achten Etage über die Finanzlage der Stadt spricht, prasseln schon die Hagelkörner ans Fenster. "Die Lage ist sehr ernst", sagt er. Der Bund der Steuerzahler NRW geht noch einen Schritt weiter: Er sieht Essen kurz vor der Pleite und hat ausgerechnet, dass der Schuldenberg der Stadt pro Stunde um 18.000 Euro wächst. Das sind mehr als 430.000 Euro pro Tag und 13 Millionen Euro im Monat. Die Gesamtschulden belaufen sich auf knapp drei Milliarden Euro. Im Januar 2010 hat die Bezirksregierung in Düsseldorf offiziell festgestellt, dass Essen von Überschuldung bedroht ist. Die Stadt befindet sich im Nothaushalt , und es besteht die Gefahr, dass Essen innerhalb der nächsten fünf Jahre mehr Schulden als Vermögen besitzen wird.
Die Stadtoberen können nichts mehr selbst entscheiden. Sie müssen sich für jeden Cent, den sie ausgeben wollen, erst das O.K. bei der zuständigen Bezirksregierung einholen. Überall im Land drohen ähnliche Zustände: "Vier von fünf Kommunen in NRW geben mehr Geld aus als sie einnehmen und befinden sich in der Haushaltssicherung", sagt der Personalratsvorsitzende. Die klammen Essener Finanzen haben massive Folgen für die Arbeit des Personalrats, dem neun Beamte und 16 Angestellte angehören. Gaida lacht ironisch: "Genau genommen sind wir im Moment überflüssig. Wir haben keinen Gegner, weil der Oberbürgermeister und seine Leute entmachtet sind." Die Bezirksregierung in Düsseldorf entscheidet längst alle wichtigen Fragen unserer Stadt. Nur: Sie ist, wie Gaida sagt, "vom Gesetz her nicht unser Gegenspieler". Statt die Hände in den Schoß zu legen, will der Personalrat wieder in die Offensive kommen. "Wir können und wollen uns mit dieser Situation nicht abfinden", sagt Gaida, "deshalb setzen wir uns über unsere eigentliche Kompetenz hinweg und tragen unsere Anliegen jetzt direkt bei der Bezirksregierung und der Landesregierung vor."
EIN BÜNDNIS FÜR ARBEIT_ Das Personalratsbüro, in dem Gaida arbeitet, wirkt karg: nackte Wände, grüner PVC-Boden. "Das Rathaus ist sehr zweckorientiert gestaltet", sagt Gaida. Fotos von Rockergangs und einer Harley Davidson peppen sein Zimmer in dem Koloss auf. Klein beigeben ist seine Sache nicht. Zusammen mit seinen Kollegen und dem ver.di-Bezirk Essen hat er ein Papier entworfen, das einmal den Stellenwert eines Tarifvertrages bekommen soll und für den gesamten "Konzern Stadt Essen" mit allen 66 Tochterunternehmen gelten soll. Neben einem tarifvertraglichen Teil, u.a. zur Beschäftigungssicherung, enthält das Papier auch Absichtserklärungen und Vorschläge wie die Idee, Schulden in Sondertöpfe zu stecken und deren Rückzahlung zu strecken.
"Wir müssen umdenken. Die Kommune muss wieder handlungsfähig werden", sagt der Essener ver.di-Bezirksgeschäftsführer Lothar Grüll, der an dem 20-seitigen Papier mitgearbeitet hat. Seine wichtigste Forderung: Das Land Nordrhein-Westfalen soll der Stadt Essen durch eine verbesserte Einnahmesituation langfristig beim Schuldenabbau helfen. "Die strengen Fesseln der Haushaltskonsolidierung müssen gelockert werden", meint auch Personalrat Gaida. Schließlich hätten vor allem strukturelle Ursachen zur hohen Verschuldung beigetragen. Als Beispiel nennt er das kulturelle Angebot der Stadt: Theater und Philharmonie zum Beispiel würden auch gerne von den Bewohnern der kleineren Nachbarorte besucht. "Genutzt wird das Angebot gerne. Aber zahlen muss vor allem die Stadt Essen."
Doch nicht nur solche Verzerrungen beim Finanzausgleich belasten die Stadt. Viel schwerer wiegt die demografische Entwicklung. Nirgendwo in der alten Bundesrepublik schrumpfen die Einwohnerzahlen so stark wie im Ruhrgebiet. In Essen ist die Zahl der Einwohner seit den 70er Jahren, als das Rathaus gebaut wurde, von etwa 700 000 auf 575 000 gesunken. Die Bevölkerung ist außerdem überdurchschnittlich stark gealtert. Im Schnitt ist ein Essener heute 44,3 Jahre alt - in Köln sind es 41,9 Jahre. Das gilt auch für die kommunalen Beschäftigten: Von den 18 000 Menschen, die bei der Stadt Essen und den städtischen Unternehmen arbeiten, geht bis zum Jahr 2020 jeder Dritte in den Ruhestand.
"Obwohl alle wissen, dass das so kommt, gibt es bisher keine Strategie, wie die städtischen Aufgaben künftig erledigt werden sollen", sagt Gaida, der sich in der Pflicht sieht, mehr zu tun als das Gesetz verlangt: "Wir sind zurzeit eigentlich gar kein Personalrat, sondern Co-Manager des Behördenleiters, was im Landespersonalvertretungsgesetz gar nicht vorgesehen ist." Der Personalrat macht Druck - nicht nur der Verwaltung, sondern auch den Mitarbeitern. Gaida: "Bisher gab es strategische Personalentwicklung nur auf freiwilliger Basis. Das reicht nicht mehr. Die Kollegen müssen sich frühzeitig für die künftigen Aufgaben der Verwaltung fit machen." Ein Berufsförderungszentrum, das einer Tochter der Stadt gehört, soll ausgebaut werden. "Wir brauchen eine eigene Schule, um die Menschen zentral zu qualifizieren und ihnen Instrumente für morgen an die Hand zu geben", sagt ver.di-Mann Grüll, der diese Linie voll unterstützt. Der Personalaustausch zwischen Töchtern und der Stadt soll verstärkt werden.
KRISENMANAGEMENT ALS NORMALZUSTAND_ Viele Mitarbeiter sind in der aktuellen Notsituation demotiviert, manche fühlen sich überfordert. Akut müssten rund 280 Personen befördert werden, weil sie längst anspruchsvollere Arbeiten erledigen als ihr Arbeitsvertrag es vorsieht. Aber dafür fehlt das Geld. Gaida lässt sich davon nicht entmutigen: "Mit einer stetigen Qualifizierung geben wir den Menschen die Motivation zurück und gleichzeitig eine berufliche Perspektive", sagt er. Wichtig sei ihm auch die Lage der Auszubildenden, die hofften, auch später für die Stadt arbeiten zu können: "Diejenigen, die wir ausbilden, müssen wir auch übernehmen. Sie sind nach der Ausbildung Fachleute für kommunale Belange. In der freien Wirtschaft kommen sie nur schwer unter", begründet Gaida, weshalb die Stadt derzeit nur 80 Azubis hat. Das Motto: Lieber weniger Personen ausbilden, aber denen wenigstens eine Zukunft bieten.
Doch selbst die Übernahme der Auszubildenden steht im Moment auf der Kippe. Unterschriftenlisten wurden der Bezirksregierung in Düsseldorf überreicht, die Jugendvertretung hat sich engagiert, der Personalrat ebenfalls. Das Ergebnis: 20 junge Leute, die in diesem Jahr ihre Verwaltungsausbildung beenden, werden für ein Jahr beim Jobcenter als Angestellte übernommen. "Wir haben Zeit gewonnen, immerhin", sagt Gaida zerknirscht. In der aktuellen Vereinbarung, die die Essener Betriebs- und Personalräte mit der Stadt Essen abgeschlossen haben, steht, dass die Stadt ein Angebot an Ausbildungsplätzen bereithalten soll, das "zum Teil über den konkreten Bedarf hinausgeht".
Gaida ist jetzt 47 Jahre alt und freigestellt. Früher war er selbst Verwaltungsbeamter, darunter zwölf Jahre im Sozialamt. Seit den 90er Jahren ist er im Personalrat, seit 2009 als Vorsitzender. "Der öffentliche Dienst ist leider nicht immer gut angesehen", sagt er, "aber unser Job ist nicht langweilig, und wir brauchen uns für unsere Arbeit und unsere Leistungen nicht zu schämen." So spricht einer, der gerne für die Stadt und die Bürger arbeitet. Einer, der davon überzeugt ist, etwas Sinnvolles zu tun. Trotzdem hat der Essener Personalrat angesichts der finanziell desolaten Lage einem Abbau um 500 Stellen bis zum Jahr 2014 zugestimmt.
"Wir können uns unserer Verantwortung in der Finanznot nicht entziehen", sagt Gaida. Aber wir haben den Abbau an die Bedingung geknüpft, dass wir im gleichen Umfang Leistungen abgeben." Das wurde so der Öffentlichkeit kommuniziert, und der Personalrat hatte klammheimlich die Hoffnung, dass die Essener Bevölkerung gegen den Leistungsabbau protestiert. Aber nichts passierte.
Gaida sucht nach Erklärungen: "Die Bürger nehmen das entweder klaglos hin oder ihnen ist noch nicht bewusst, was auf sie zukommt." Die Vereinbarung zur Sicherung der kommunalen Dienstleistungen, die Gaida und die anderem Personalvertreter mit der Stadt Essen abschließen wollen, soll eine weitere Erosion der Kommune verhindern, sie soll einen Konsens mit der Verwaltung festschreiben und Mindeststandards festziehen. Aber sie ist auch ein Hilferuf an höhere Instanzen.
Um über das Papier zu verhandeln, benötigt der Essener Oberbürgermeister Reinhard Paß, der der SPD angehört, aber noch das OK des Rates. Im Oktober wird der Rat darüber diskutieren - und vielleicht abstimmen. Doch wie bei den Finanzen, so gibt es auch in der Politik keine Verlässlichkeit mehr. Oberbürgermeister Paß muss mit wechselnden Mehrheiten regieren.
Dokumentation zum Download (pdf): Präambel einer geplanten Vereinbarung der Beschäftigtenvertreter und ver.di mit der Stadt Essen zur Sicherung der Beschäftigung und der kommunalen Dienstleistungen (Auszüge)