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Magazin Mitbestimmung

Macht: Kollektive schaffen Sicherheit in unsicheren Zeiten

Ausgabe 03/2020

Der Ausgang von Krisen ist nicht vorherbestimmt, sondern Resultat politischer Kräfteverhältnisse. Von Joris Steg, Soziologe an der Bergischen Universität Wuppertal

Die Corona-Krise hält die Welt in Atem und stellt die gesamte Menschheit vor zum Teil existenzielle Herausforderungen. Krisen sind in modernen kapitalistischen Gesellschaften nichts Außergewöhnliches, im Gegenteil: Überall und immerzu werden Ereignisse und Entwicklungen als krisenhaft bezeichnet. Was aber sind Krisen überhaupt? Was unterscheidet die Corona-Krise von anderen Krisen? Und was ergibt sich daraus für Gewerkschaften?

Krisen beziehen sich immer auf die Abweichung von der Normalität. Krisen sind Ereignisse und Prozesse, die nicht mehr im ursprünglichen, gewohnten Entwicklungsmodus bewältigt werden können. Krisen erschüttern Routinen, Denk- und Handlungsweisen, Strukturen und Ordnungen. Da bei Krisenausbruch keineswegs feststeht, wie eine Krise verläuft und enden wird, produzieren Krisen systematisch Unsicherheit. Der italienische Philosoph Antonio Gramsci bezeichnete Krisen vor fast 100 Jahren treffend als Interregnum, also als Zwischenzeit, in der „das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann“.

Im politischen und medialen Diskurs wird zurzeit immer wieder hervorgehoben, dass Krisen auch Chancen sein können – manchmal zur Beruhigung der Öffentlichkeit, manchmal als routinehaft verwendete Phrase zur Abwehr politischer Kritik, zum Teil aber eben auch, um weitgehendere Änderungen durchzusetzen. Allenthalben wird auf mögliche Entwicklungen nach der Krise hingewiesen, etwa auf Potenziale für eine schrittweise Deglobalisierung und Rückbildung weltweiter Lieferketten oder die entlastende Wirkung für das Klima. Unabhängig davon, wie vernünftig oder wünschenswert solche Veränderungen wären, ist festzuhalten, dass Krisen keinen Automatismus kennen und die Folgen einer Krise nicht vorherbestimmt, sondern Resultat politischer und gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse sind.

Corona ist jedoch zuallererst eine gesundheitliche Katastrophe und keine Chance. Diese Krise ist einzigartig, weil in demokratischen Staaten nicht für möglich gehaltene Maßnahmen zur Begrenzung von Grundrechten ergriffen wurden, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen. Sie ist auch einzigartig, weil es sich tatsächlich um eine globale und gesamtgesellschaftliche Krise handelt. Diese Krise trifft alle – aber nicht in gleichem Maße, sondern sozial höchst unterschiedlich. Nicht zuletzt ist diese Krise einzigartig, weil sie neben den gesundheitlichen auch dramatische ökonomische, soziale, politische, kulturelle und psychologische Folgen haben wird, deren Tragweite noch nicht abschließend abzusehen ist. 
Diese Krise macht aber auch Dinge sichtbar, etwa Bedeutung, Wert, Funktion und Rolle von Gewerkschaften über die reine Interessenvertretung der Mitglieder und Beschäftigten hinaus. Aufgrund ihrer Schutzfunktion sorgen Gewerkschaften in Phasen der Unsicherheit für Sicherheit. Diese Schutzfunktion ist vor allem materieller Natur, aber sie bezieht sich nicht allein darauf, vor Ausbeutung zu schützen und Arbeitsplätze, Einkommen, Lebensstandard sowie gute Arbeitsbedingungen zu sichern. Gewerkschaften garantieren und gewährleisten, dass Menschen in Krisenzeiten nicht auf sich allein gestellt sind, dass sie für sich selbst und solidarisch miteinander kämpfen können. Kollektive sind resilienter, und Kollektive können auf Krisen besser reagieren als der Einzelne. 

Die Wahrnehmung der gewerkschaftlichen Schutzfunktion ist aber auch deswegen gerade jetzt so bedeutsam, weil die Gewerkschaften damit zu einem Teil das Vakuum gefüllt haben, das durch die Krise der politischen Repräsentation und den gravierenden Vertrauensverlust der politischen Parteien entstanden war. Dass die momentan noch hohen Zustimmungsraten zur Corona-Politik der Regierungsparteien von Dauer sein werden, darf angesichts der kontroversen Debatten um die Lockerungspolitik bezweifelt werden – zumal dann, wenn die sozialen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verwerfungen und Spaltungen in der Bevölkerung in den Vordergrund treten. Je länger der wirtschaftliche Niedergang andauert, je mehr Insolvenzen zu verzeichnen sein werden, je höher die Arbeitslosigkeit steigt und je dramatischer die längerfristigen finanziellen Folgen für die Bevölkerung sein werden, umso wahrscheinlicher ist ein Umkippen der allgemeinen und politischen Stimmung in Deutschland und eine neue Wahrnehmung und Einordnung der Krise als politisches Scheitern. Bei einer solchen Entwicklung sind die deutschen Gewerkschaften besonders gefordert.

Krisen sind nicht nur Phasen der Unsicherheit, sondern auch der Entsicherung. Krisen offenbaren, dass alte Wahrheiten nicht auf ewig gelten müssen. Die schwarze Null, die Ablehnung von Staatsbeteiligungen oder Teilverstaatlichungen von Unternehmen, das immer wieder bemühte (neo-)liberale Mantra, der Markt könne alles besser regeln und der Staat müsse sich aus der Wirtschaft heraushalten – all das gilt in der Corona-Krise nicht mehr. Weil Fehlentwicklungen und Dysfunktionalitäten sichtbar werden, eröffnen sich Kritik-, Interventions- und Gestaltungsoptionen. Das, was bisher unaussprechbar, undenkbar, unerreichbar und unmöglich zu sein schien, kann in Krisenzeiten auf einmal ausgesprochen, gedacht, erreicht und ermöglicht werden. In Krisenzeiten eröffnen sich Gelegenheitsfenster und Möglichkeitsräume. 

In dieser Krise müssen die Weichen für eine bessere Zukunft gestellt werden. Das fordert von Gewerkschaften, sich offensiv in die gesellschaftlichen Debatten über die Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft nach der Corona-Krise einzumischen. Gewerkschaften spielen seit jeher nicht nur bei der Emanzipation von Menschen aus entwürdigenden und ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen eine zentrale Rolle, sondern auch bei der Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft. Dafür stehen die betriebliche Mitbestimmung, die Fünftagewoche und der Achtstundentag, der Auf- und Ausbau sozialstaatlicher Leistungen oder die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. 

Die zentrale Herausforderung unserer Zeit ist es, den Klimawandel zu stoppen und ein Wirtschaftsmodell zu überwinden, das an politische, ökonomische, ökologische und soziale Grenzen gestoßen ist. Die Gewerkschaften müssen abermals ihre Rolle als demokratischer Gestaltungsakteur von Wirtschaft und Gesellschaft wahrnehmen und an der Spitze einer gesellschaftlichen Bewegung stehen, um Mehrheiten für eine sozialökologische Transformation zu organisieren und einen Bruch mit dem Neoliberalismus herbeizuführen.

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