Quelle: Karsten Schöne
Magazin MitbestimmungArzneimittel: Die fetten Jahre sind vorbei
Lieferengpässe bei Medikamenten haben viele Ursachen. Die Politik will mit einem neuen Lieferengpassgesetz gegensteuern. Gewerkschaften wie die IGBCE sehen darin allerdings nicht den großen Wurf. von Kay Meiners
Wenn wieder einmal Nachrichten über Lieferengpässe die Medien überfluten, Bilder von Eltern, die keinen Hustensaft oder Fiebersenker für ihre Kinder kaufen konnten, ist Maik Pommer der Erste, der angerufen wird. Der Sprecher des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) muss dann die Dimensionen ins rechte Licht rücken. Er muss erklären, ohne in Alarmismus zu verfallen, aber auch, ohne zu verharmlosen. Was bedeutet es, wenn aktuell von mehr als 100 000 Medikamenten, die in Deutschland zugelassen sind, für rund 500, ein halbes Prozent, Lieferengpässe gemeldet sind? Auf seiner Liste stehen Husten- und Fiebersäfte für Kinder, Antibiotika, Schmerzmittel und Krebsmedikamente.
Pommers Antworten sind sperrig. „Wenn ein Medikament auf der Liste steht, sagt das nichts darüber aus, wie kritisch die Lage wirklich ist“, erklärt er. Oder: „Ein Lieferengpass ist noch kein Versorgungsengpass, sondern bedeutet nur, dass das Medikament in den nächsten 14 Tagen nicht im üblichen Umfang geliefert werden kann.“ Zudem gebe es für viele Medikamente auf der Liste wirkstoffgleiche Präparate.
Sein Institut ist dafür da, Engpässe zu managen. Pommers Kollegen beobachten den Markt und geben, wenn nötig, Empfehlungen wie die, auf unnötige Vorratsbildung zu verzichten. Oder sie veröffentlichen Listen mit Medikamenten, die nicht zugelassen sind, aber befristet in Verkehr gebracht werden dürfen. Aktuell sind das zum Beispiel Antibiotika aus Ländern wie Polen, Griechenland, Indien oder Kasachstan.
Asien als Apotheke der Welt
Die gängigste Erklärung für die Engpässe ist, dass China und Indien heute die Apotheken der Welt sind, dass wir Wirkstoffe und Fertigprodukte dort kaufen, wo sie am günstigsten sind. Und dass immer dann, wenn es im Weltgetriebe knirscht, Risiken auch eintreten und die globale Just-In- Time-Produktion aus dem Takt bringen.
Doch die wahren Ursachen sind laut BfArM-Sprecher Pommer vielfältiger. „Nicht jeder Engpass ist ein China- oder Indien-Problem“, sagt er. Der Lieferengpass bei Kinderantibiotika und Erkältungsmedikamenten im vergangenen Winter hatte einfach mit einer höheren Nachfrage zu tun. Es gab mehr Infekte – und zusätzlich wohl auch noch private Hamsterkäufe. Eine weitere Ursache ist eine Preispolitik, die einmal dazu gedacht war, die Krankenkassen finanziell zu entlasten. Seit Jahren werden patentfreie Medikamente mit einem unveränderten Festbetrag abgerechnet. Das ist für viele Hersteller unattraktiv. Für sie lohnt es sich nicht mehr, in Deutschland zu produzieren oder zu verkaufen.
Deutschland ist gut – und teuer
In einem offiziellen Positionspapier der Gewerkschaft IGBCE, wird genau das beschrieben: „Was gerade passiert, sieht zwar nach Marktversagen aus, ist es aber nicht. Ganz im Gegenteil funktioniert der Markt prächtig. Er signalisiert nämlich, dass unter den gegenwärtigen Bedingungen in Deutschland niemand mehr zu produzieren bereit ist.“
Jedenfalls wird die Luft zusehends dünner. Helmut Leus, Betriebsratsvorsitzender von EuroAPI, der 2021 aus dem Konzern ausgegliederten Wirkstoffsparte von Sanofi in Frankfurt-Höchst, macht sich Sorgen: „Wir haben einen Topstandort. Aber einen teuren.“ Der Preis für Wirkstoffe, die für das Schmerzmittel Novalgin hergestellt werden, deckt zurzeit nicht einmal die Herstellungskosten. Die Produktion ist noch bis 2026 gesichert, danach könnten viele Jobs in Gefahr sein. Der Geschäftsführer von EuroAPI, Pierre Haller, hat kürzlich erklärt, die Produktion einer Reihe von Wirkstoffen, die für die Versorgung von Patienten in Deutschland essenziell sind, stünde unter erheblichem wirtschaftlichem Druck. Und die Abhängigkeit von Asien werde immer deutlicher. Leus lässt auf ihn nichts kommen: „Der Pierre Haller ist klasse. Wenn andere Hersteller die Produktion von Wirkstoffen aufgeben, versucht er, die Produktion zu uns zu holen.“
Selbst anpacken, sich nicht auf die Politik verlassen ist die Devise. Gerade hat die Regierung ein Gesetz auf den Weg gebracht, das europäische Anbieter von Antibiotika-Wirkstoffen stärker bei Ausschreibungen berücksichtigen soll. Die Beschränkung auf die Antibiotika sei enttäuschend, findet Leus, da viele lebenserhaltende Medikamente schon in Asien produziert werden. EuroAPI könnte eine Produktion für antibiotische Wirkstoffe in Frankfurt bauen, sie wäre allerdings die einzige, denn es gibt in Deutschland keine mehr. Das Unternehmen hat zwei Anlagen zur Herstellung von antibiotischen
Wirkstoffen – in Frankreich und Italien. Eine dritte würde zwischen 100 und 180 Millionen Euro kosten. Aber dazu müsste die Politik klarere Signale setzen.
Europa kann die Lösung sein
Auch bei der IGBCE hält man das Lieferengpass- Gesetz nicht für den großen Wurf. Die Gewerkschaft empfiehlt, das Festpreissystem für Generika zu flexibilisieren und bei Ausschreibungen die Versorgungssicherheit als vorrangiges Kriterium aufzunehmen. Vor allem wird eine „vertiefte Verflechtung und Integration“ der Arzneimittelindustrie gefordert, wobei der „Fokus auf europäischen Standorten, nicht aber zuvorderst auf Deutschland liegen soll“.
Alexandra Krieger, Referentin bei der IGBCE und Autorin des Positionspapiers, bekennt sich angesichts der „riskanten geopolitischen Lage“ zu diesem „Friendshoring“, der internationalen Vernetzung mit Wertepartnern. Sie ist überzeugt, dass Deutschland zu klein ist, um das Problem allein zu lösen. Eine Studie des European Centre for International Political Economy, die vom europäischen Dachverband der forschenden Arzneimittelhersteller EFPIA in Auftrag gegeben wurde, unterstützt diese Argumentation. Sie zeigt, dass die EU hoch wettbewerbsfähig ist und dass Medikamentenexporte aus der EU schneller gestiegen sind als die Importe. Ebenso relativiert sie die Rolle Chinas. Zwar kommt der mengenmäßig größte Anteil an importierten Wirkstoffen in die EU mit 22,6 Prozent aus China. Doch ist dieser Wert weit entfernt von den 75 oder 80 Prozent, die andere nennen.
Die Kräfte bündeln lautet die Devise. Denn bei der Industrie ist, wie bei den Krankenkassen, die Wirtschaftslage angespannt. „Die fetten Jahre sind vorbei“, sagt Krieger. Auf den Einwand, dass ihre Vorschläge zu noch höheren Preisen führen würden, sagt sie, es sei nun die Zeit, zu „fokussieren und Prioritäten zu setzen: Was ist Grundversorgung, die die Kasse bezahlt, und was nicht? Was ist wichtig und soll subventioniert werden?“ Für alles gleichzeitig sei kein Geld da. Auch in Kriegers Brust schlagen mindestens zwei Herzen. „Jedes unserer Mitglieder ist krankenversichert. Aber nicht jedes Mitglied arbeitet in der pharmazeutischen Industrie.“
Lieferengpassgesetz
Ein neues Gesetz, das Arzneimittel- Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz (ALBVVG), schafft bei Kindermedikamenten die Fest- und Rabattverträge ab. Hersteller können ihre Abgabepreise einmalig und bis zu 50 Prozent anheben. Neue Festbeträge soll es hier nicht geben. Außerdem sollen Hersteller von Medikamenten mit Rabattverträgen verpflichtet werden, einen Lagerbestand von sechs Monaten anzulegen. Apotheken sollen leichter einen Austausch zu ähnlichen Präparaten vornehmen und Bestände mit Krankenhausapotheken tauschen können. Zudem sollen bei Ausschreibungen der Kassen – zunächst für Antibiotika – mehr europäische Pharmahersteller zum Zug kommen.