zurück
Magazin Mitbestimmung

: Kein Selbstläufer

Ausgabe 11/2008

NETZWERKE Die IG Metall in Südostniedersachsen bringt zusammen, was nicht immer zusammenpasst: Kommunen, Unternehmen, Gewerkschaften, Wissenschaftler und Verbände. Gemeinsam entwickeln sie Ideen für eine Region im Wandel.

Von PETRA WELZEL, Journalistin in Berlin/Foto: picture alliance

Mittellandkanal im Südosten Niedersachsens, dort, wo noch immer das größte Automobilwerk der Welt steht, rollt nicht nur der VW Golf vom Band. In Wolfsburg wird an der Zukunft einer ganzen Region gebaut. Um der Abwanderung von Arbeit und steigenden Arbeitslosenzahlen zu begegnen, wurde im Jahr 1998 die sogenannte Wolfsburg AG gegründet, in der sich die Stadt und die Volkswagen AG zusammenschlossen. Mit einem Konzept der Unternehmensberatung McKinsey und unter Mitwirkung des damaligen Arbeitsdirektors der VW AG, Peter Hartz, konnte die Arbeitslosigkeit in Wolfsburg tatsächlich halbiert werden.

Arbeitsplätze wurden dabei nicht nur beim Autobauer geschaffen. Die Stadt gab sich ein neues Gesicht: Allein die im Jahr 2000 fertiggestellte Autostadt, die Huldigung des Automobils in einem Landschaftsgarten, hat Wolfsburg bereits über 17 Millionen Besucher beschert. Ende 2002 wurde die Volkswagen Arena fertiggestellt, wo seither der VfL Wolfsburg und Gruppen wie Genesis spielen, 2005 eröffnete das phaeno Science Center sowie kürzlich ein Designer-Outlet. Wiedereröffnet wurde auch Deutschlands einst größte Schwimm- und Wellnessanlage, das Badeland. Es gibt inzwischen einige Gründe, auf diese Stadt zu schauen.

INDUSTRIELLE MONOSTRUKTUR_ Das tut auch die IG Metall in Südostniedersachsen. Bereits in den 80er Jahren beobachtete man in der Gewerkschaft ein leises Absterben der Region, zu der neben Wolfsburg auch Braunschweig, Peine und Salzgitter gehören. Seinerzeit, als die Konjunktur schwächelte, wurde deutlich, wie sehr die Gegend von den beiden Monostrukturen, der Automobilindustrie mit VW und der Stahlindustrie mit der Salzgitter AG, abhängig war. In der IG Metall, die in Südostniedersachsen heute rund 130 000 Gewerkschaftsmitglieder vertritt, gab es daher schon frühzeitig vielfältige Überlegungen, wie man der Region nicht nur wieder auf die Beine helfen, sondern sie auch zukunfts- und wettbewerbsfähig machen könnte.

Seit 1988 wurde gemeinsam mit Klaus Lompe von der TU Braunschweig und anderen Gewerkschaften an Konzepten gefeilt, Arbeit und Lebensqualität in der Region zu sichern. 1989 gründeten IG Metaller aus Braunschweig, Peine, Salzgitter und Wolfsburg einen regionalpolitischen Arbeitskreis. Gemeinsam wurde 1993 eine Regionalkonferenz ins Leben gerufen. Die strukturpolitischen Gedankenspiele mündeten 1994 im Verein "Regionale Entwicklungsagentur SüdOstNiedersachsen".

Bereits damals setzte die IG Metall auf die Zusammenarbeit aller beteiligten Akteure in dem Wirtschaftsraum - Kommunen, Unternehmen, Gewerkschaften, aber auch der Universitäten und Wissenschaftler und Wohlfahrtsverbände. Ziel war nicht zuletzt, Arbeit und Leben stärker zusammenzubinden. Denn in kaum einer anderen Region Deutschlands pendeln die Menschen derart viel, kaum jemand arbeitet noch dort, wo er auch wohnt.

Fragt man heute Antje Blöcker, Politikwissenschaftlerin am Wissenschaftszentrum Berlin, die das Kooperationsbüro der IG Metall von Anfang an wissenschaftlich begleitet, ist das jüngste Projekt "Region Braunschweig GmbH", das aus dem Verein RESON 2005 hervorgegangen ist, "ausdrücklich undenkbar ohne die jahrelange Initiative der Gewerkschaften". Zu verstehen sei die Braunschweig GmbH allerdings auch nicht ohne die Wolfsburg AG, die mit der Halbierung ihrer Arbeitslosenstatistik eine Steilvorlage gegeben hatte. Das sieht auch Johannes Katzan so, der das Kooperationsbüro SON der IG Metall in Braunschweig leitet. "Man muss die Leistung anerkennen, die mit der Wolfsburg AG erbracht wurde", sagt er.

Wichtiger ist ihm aber etwas anderes: "Dass VW die Verantwortung mit übernommen und sich nicht durch Auslagerung von Arbeitsplätzen und Werken davongestohlen hat, ist entscheidend." Ohne diese unternehmerische Mitverantwortung der großen Arbeitgeber der Region würde Wolfsburg heute nicht derart prosperieren. Und auch die Region Braunschweig GmbH, in der sich die Städte Braunschweig, Salzgitter und Wolfsburg sowie fünf benachbarte Landkreise zusammengetan haben, hätte ihre Arbeit gar nicht erst aufnehmen können.

Dennoch können Antje Blöcker und Johannes Katzan unabhängig voneinander feststellen: "Ohne die IG Metall gäbe es das Projekt gar nicht. Sie hat die Akteure zusammengebracht." Ohne die IG Metall gäbe es heute nicht die KIM, die Kooperationsinitiative Maschinenbau, in der mittelständische Firmen zusammenarbeiten und bedarfsweise Personal austauschen (siehe Mitbestimmung 5/2008). Und es gäbe nicht das Konzept für eine Verkehrskompetenzregion, das einen intelligenten Nahverkehr entwirft. In der Region wird alles hergestellt, was man dafür benötigt: VW baut Autos, MAN Busse, Alstom LHB Schienenfahrzeuge, und Siemens liefert die Sicherheits- und Signaltechnik. Eine Regiobahn ist in Planung, die nicht nur die Zentren Braunschweig, Salzgitter und Wolfsburg miteinander verbinden, sondern auch den Harz als Naherholungs- und Tourismusgebiet erschließen soll. Neben neuen Umwelttechniken ist der Tourismus ein weiterer Bereich, auf den man nach dem Leitbild der IG Metall zukünftig setzen sollte.

GEÄNDERTES ALLTAGSGESCHÄFT_ Nach ursprünglichen Berechnungen von McKinsey-Beratern, die 2005 auch für die Braunschweig GmbH operative Vorgaben erstellt haben, sollten so bis 2015 insgesamt 30 000 neue Arbeitsplätze entstehen. Daran mochte keiner recht glauben, und nach den Erfahrungen der ersten drei Jahre ist die Prognose auf 12 000 neue Jobs geschrumpft. Zu spüren sind auch heute noch die Folgen des Strukturwandels, durch den bis in die 90er Jahre hinein zehntausende Arbeitsplätze in der Region verschwunden sind. Man ist in Südostniedersachsen realistisch. Auch in der IG Metall. Der letzte IG Metaller unter den rund 20 Beschäftigten der Braunschweig GmbH ist im vergangenen Jahr wieder in eine IG- Metall-Verwaltungsstelle gewechselt.

Die 50.000 Euro Personalkosten für die Stelle in der GmbH, von der IG Metall finanziert, fließen jetzt direkt in das Projekt. "Das Problem ist, dass alles zusätzlich Geld kostet, was wir hier tun, aber überall wird gespart", sagt Wolfgang Räschke von der IG Metall Salzgitter und Vorsitzender des Netzwerkvereins der GmbH. Immerhin: Als Gesellschafterin und Aufsichtsratsmitglied in der Braunschweig GmbH ist es der IG Metall weiterhin möglich, Beschlüsse mit zu steuern oder vom Vetorecht Gebrauch zu machen. Und neue Wege zu gehen. Im Oktober fand in Wolfenbüttel das erste Innovationsforum für Betriebsräte statt. Ab Januar 2009 sollen sie sich dann alle sechs bis acht Wochen für die Zukunft ihrer Arbeit fit machen. "Das Alltagsgeschäft hat sich geändert", sagt Johannes Katzan und erklärt: "Die klassische Überwachung der Betriebsabläufe reicht nicht mehr aus. Wenn man auch fachlich mitbestimmen will, muss ein Betriebsrat den Markt einschätzen können und die neuen Technologien kennen."

Folgt man der Einschätzung der Wissenschaftlerin Blöcker, dann ist ein klarer Trend erkennbar: "Der Boom der Autoindustrie ist vorbei, und jetzt rufen die Unternehmer wieder nach den Gewerkschaften", sagt Antje Blöcker. VW AG und Salzgitter AG ließen Teilhabe aber immer nur dann zu, wenn es in die Krise geht, sagt Blöcker und spricht von einem "Drama der arbeitsorientierten Strukturpolitik". "Es gibt aber auch etwas zu verteilen, wenn es gut läuft", betont sie. Johannes Katzan und Wolfgang Räschke formulieren es so: "Die Kooperation in der Region ist kein Selbstläufer, der Prozess muss immer wieder aufs Neue angestoßen werden."

 

Der Beitrag wurde zu Ihrem Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen