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Magazin Mitbestimmung

Frankreich: Kein Grund, neidisch zu sein

Ausgabe 10/2012

Präsident Hollande hat mehr Gerechtigkeit bei der Rente versprochen. Tatsächlich hat er nur wenig von früheren Reformen zurückgenommen. Er kämpft mit Strukturproblemen und verhärteten Fronten. Von Dominik Grillmayer

Was in Frankreich geschieht, polarisiert. Die einen blicken fast sehnsüchtig auf das Nachbarland, wo François Hollande eine Art Gegenregierung zu Angela Merkel führt; die anderen sortieren Frankreich eher in die Gruppe der Südländer mit einer Hypothek versäumter Reformen ein – und prophezeihen, dass es bald in den Fokus der Finanzmärkte geraten wird. Beide Seiten verweisen gern darauf, Hollande habe die Rente mit 60 wieder eingeführt, während die Deutschen bis 67 arbeiten müssten. Das ist jedoch nicht einmal die halbe Wahrheit. Hollande geht es nicht um die Rücknahme der Reform von 2010, die einen frühestmöglichen Renteneintritt für die meisten Versicherten erst ab 62 Jahren vorsieht und die Nicolas Sarkozy gegen erheblichen Widerstand der Gewerkschaften durchgesetzt hat. Er hat das Reformwerk bisher nur punktuell korrigiert. Die größte Veränderung hat jedoch einen hohen Symbolwert: Langzeitversicherte sollen wieder mit 60 Jahren in Rente gehen können, wenn sie über ausreichend Beitragsjahre verfügen. Von der Regelung, die ab sofort gilt, profitieren im kommenden Jahr rund 110 000 Versicherte. Die Kosten werden auf etwa eine Milliarde Euro geschätzt. Später könnten sie rund drei Milliarden Euro im Jahr betragen. Ansonsten bleiben die Reformen, die Hollandes Amtsvorgänger Sarkozy angesichts alarmierender Prognosen zum Defizit der Rentenkassen vorgenommen hatte, auch nach den Präsidentschaftswahlen weitgehend unangetastet. Das bedeutet für alle Jahrgänge ab dem Geburtsjahr 1956, dass sie frühestens mit 62 Jahren in Rente gehen können – in Deutschland sind es 63 Jahre. Die volle Rente erhält aber nur, wer 41,5 Beitragsjahre vorweisen kann. Für die wachsende Zahl von Arbeitnehmern, die nach einem Studium später in den Beruf eingestiegen sind oder über gebrochene Erwerbsbiografien verfügen, wird das Regelpensionsalter bis 2023 schrittweise auf 67 Jahre angehoben. Wer früher in Rente gehen möchte, ohne lange genug eingezahlt zu haben, der muss mitunter erhebliche Abschläge in Kauf nehmen. Ähnlich wie in Deutschland wurde mit Blick auf die gestiegene Lebenserwartung der Hebel in erster Linie bei Altersgrenzen und Beitragsjahren angesetzt. So können mehr Einnahmen generiert und gleichzeitig die Ausgaben der Sozialversicherung gesenkt werden. Eine spürbare Erhöhung der Rentenbeiträge hätte vor dem Hintergrund des ohnehin schon hohen Abgabenniveaus die Arbeitskosten zu stark belastet und kam daher nicht infrage, ebenso wenig wie eine Rentenkürzung. Sozialministerin Marisol Touraine erklärte, die Änderung sei „vollständig finanziert“. Die Sozialabgaben für Arbeitnehmer und Unternehmen sollen um 0,2 Prozent steigen – jeweils 0,1 Prozent für Arbeitgeber und Arbeitnehmer ab November 2012.

ERHEBLICHE DEFIZITRISIKEN

Doch ist damit der Boden bereitet für eine langfristige Finanzierung des umlagefinanzierten Rentensystems in Frankreich? Mitnichten. Der Fahrplan für einen neuerlichen Reformanlauf steht bereits. Bis Ende dieses Jahres soll eine neue Analyse des Renten-Orientierungsrates, eines wichtigen Beratungsgremiums, vorliegen, in dem auch Vertreter der Sozialpartner sitzen. Er dürfte auf erhebliche Defizitrisiken verweisen – unter anderem, weil der letzten Berechnung im Vorfeld von Sarkozys Reform viel zu optimistische Prognosen zur Entwicklung von Konjunktur und Arbeitslosenzahlen sowie der daraus resultierenden Einnahmen der Sozialversicherung zugrunde lagen. Der Regierung steht die meiste Arbeit erst noch bevor. Denn sie muss Ziele miteinander vereinen, die nur schwer vereinbar sind – zum einen soll ein neuer Gesetzentwurf Antwort auf die erwarteten Finanzierungslücken geben, zum anderen soll er das Wahlkampfversprechen nach mehr Gerechtigkeit einlösen, das die Kosten steigern dürfte.

Die Erwartungen der Gewerkschaften sind hoch – nach ihrer Lesart war die Rückkehr zur Rente mit 60 für Langzeitversicherte, die schon mit 18 oder 19 Jahren zu arbeiten angefangen haben, nur ein erster, vergleichsweise leicht umsetzbarer Schritt. Viel heikler sind hingegen zwei andere Fragen, die auch die deutsche Debatte um die Verschiebung der Altersgrenze prägten: Erstens droht all jenen faktisch eine Rentenkürzung, die vor Erreichen der Altersgrenze arbeitslos werden und keine Beschäftigung mehr finden. Aktuell liegt die Erwerbsquote der 55- bis 64-Jährigen in Frankreich bei mageren 39,7 Prozent – in Deutschland sind es 57,7 Prozent. Zweitens stritten Regierung und Gewerkschaften 2010 heftig um die „pénibilité“ oder Schwerarbeit – es geht darum, dass es bestimmten, stark belasteten Berufsgruppen nicht zumutbar erscheint, länger zu arbeiten. Gestritten wurde darum, ob es pauschale Regelungen geben soll oder Einzelfallprüfungen. Gegen den erbitterten Widerstand der Gewerkschaftsseite beschloss die Regierung schließlich die Einzelfallprüfung. Die Regelungen der Sarkozy-Zeit sehen eine Einzelfallprüfung durch Kommissionen vor, die aus Ärzten und Vertretern der Sozialpartner zusammengesetzt sind. Es muss eine Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit um mindestens zehn Prozent vorliegen, dann ist der Renteneintritt mit 60 Jahren möglich. Hier ist die damalige Regierung den Gewerkschaften ein wenig entgegengekommen, denn ursprünglich war ein höherer Wert (20 Prozent) geplant. Viele Detailfragen sind noch nicht geklärt.

François Hollande hat sich viel vorgenommen. Er will die Sozialpartner in die nächste Reform der Rentenversicherung ernsthaft einbinden. Mit seinem Versprechen, nicht über die Köpfe von Gewerkschaften und Arbeitgebern hinweg zu entscheiden, beschreitet er Neuland, denn eine Verhandlungskultur, wie sie in Deutschland selbstverständlich ist, gibt es in Frankreich nicht. Der Protest gegen Reformprojekte der Regierung wird daher häufig auf die Straße getragen. Wenn Hollande dem Druck der Straße entgehen will, muss er eine Lösung mit kaum kompromisserprobten Gewerkschaften und Arbeitgebern finden. Vorsichtshalber hat er daher schon unmissverständlich klargemacht, dass am Ende die Regierung entscheidet, was zu tun ist. Erschwert wird eine Neuordnung dadurch, dass in Frankreich kein einheitliches Rentensystem existiert. In den Nachkriegsjahren haben sich neben der Rentenversicherung für Arbeiter und Angestellte die landwirtschaftlichen Kassen sowie bereits bestehende Sondersysteme für einzelne Branchen und Berufsgruppen, unter anderem für Beamte und Beschäftigte im öffentlichen Sektor, verfestigt und zu einem Wildwuchs von Rentenkassen beigetragen, der zu erheblichen Ungleichheiten geführt hat.

PRIVILEGIEN IM ÖFFENTLICHEN DIENST

So konnten die Beschäftigten im öffentlichen Dienst bis heute eine Reihe von Privilegien erhalten, unter anderem bezüglich des Renteneintrittsalters und der Anrechnung von Berufsjahren. Hollande müsste, um sein Gerechtigkeitsversprechen einzulösen, auch diese Ungleichheiten beseitigen, die vor allem die Beschäftigten des Privatsektors benachteiligen. Doch wenn die Interessenvertreter der geschützten Berufsgruppen bei den Konsultationen mit am Tisch sitzen, so käme eine einvernehmliche Einigung der Quadratur des Kreises gleich. Selbst wenn Hollande nach einem möglichen Scheitern der Verhandlungen auf das bewährte Prinzip seiner Vorgänger einschwenkt, eine Reform im Alleingang ins Parlament einzubringen, so kann es passieren, dass er sie nach Massenprotesten in zentralen Punkten korrigieren oder ganz zurückziehen muss. Nur in einem Punkt sind sich die Akteure weitgehend einig: Ein Einfrieren oder Abschmelzen der gesetzlichen Rente zugunsten privater Vorsorge steht in Frankreich nicht zur Debatte.

Die in Deutschland als zweite und dritte Säule der Rentenversicherung eingeführte betriebliche und private Altersvorsorge ist in Frankreich noch nicht sehr verbreitet. Die geringe Nachfrage nach einer kapitalgedeckten Zusatzversorgung ist zum einen damit zu erklären, dass das durchschnittliche Niveau der gesetzlichen Rente im Vergleich zu Deutschland nach wie vor relativ hoch ist – die Durchschnittsrente lag im Jahr 2010 bei 1216 Euro. Zum anderen haben es die Politiker bislang vermieden, verstärkte Anreize für eine kapitalgedeckte Altersvorsorge zu schaffen. Sie wollen die gesetzliche Rente als maßgebliche Einkommensquelle im Alter erhalten.

Das deutsche Beispiel könnte ihnen in Teilen recht geben, denn aktuelle Analysen zur Riester-Rente in Deutschland legen nahe, dass die Renditen hinter den Erwartungen der Anleger zurückzubleiben drohen. Um die Chancen älterer Arbeitnehmer auf einen Job zu erhöhen und um Armutsrisiken vorzubeugen, kommt der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik eine entscheidende Rolle zu. Gleiches gilt für die Einstiegschancen junger Menschen. Frankreich weist zwar, verglichen mit Deutschland, eine günstige demografische Entwicklung auf, die ein hohes Potenzial für die langfristige Finanzierbarkeit des Generationenvertrags birgt. Doch damit dieses gehoben werden kann, müssen Berufsanfänger auch realistische Aussichten auf eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung haben. François Hollande hat im Wahlkampf ein Anreizsystem in Aussicht gestellt, mit dem der Staat die Anstellung eines Berufsanfängers bei gleichzeitiger Weiterbeschäftigung eines älteren Arbeitnehmers bezuschusst. Doch angesichts der französischen Staatsverschuldung ist dies kein langfristiges arbeitsmarktpolitisches Konzept. Gefragt sind vielmehr strukturelle Reformen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit französischer Unternehmen und auch Reformen des Arbeitsmarkts.

VIELE MÖCHTEN VOR 60 IN RENTE

Darüber hinaus verweisen manche Experten darauf, dass sich die Rahmenbedingungen für die Beschäftigung älterer Arbeitnehmer ändern müssen. Indem Arbeitsplätze altersgerecht gestaltet würden, könne sich auch deren Einstellung zur Arbeit wandeln. Erst vor Kurzem hat der Soziologe Serge Volkoff in einem Interview darauf hingewiesen, dass viele Franzosen am liebsten zwischen 55 und 60 Jahren in Rente gehen würden. Hauptgrund hierfür ist, dass die Arbeitsbedingungen bislang häufig nicht an das Alter der Beschäftigten angepasst sind.

Neben altersgerechten Arbeitszeiten und einer angemessenen Ausstattung von Arbeitsplätzen zählen hierzu auch Fortbildungsangebote. Würden spezifische Lösungen für ältere Arbeitnehmer gefunden wie in den skandinavischen Ländern, so stiege möglicherweise auch die Bereitschaft, bis zum Erreichen der Altersgrenze oder auch darüber hinaus zu arbeiten. Angesichts der gestiegenen Lebenserwartung wird auch in Frankreich immer wieder darauf hingewiesen, dass starre Altersgrenzen nicht mehr zeitgemäß seien. In der Auseinandersetzung um die Rentenreform 2010 hatten die Sozialisten einen Gegenentwurf präsentiert, der unter anderem auf eine individualisierte Rente abhob, die den Lebensumständen der Menschen besser Rechnung trägt als das aktuelle System. So sollten auch die Möglichkeiten für lebenslanges Lernen und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie erhöht werden.

Das Jahr 2013 wird zeigen, inwieweit es Präsident und Regierung gelingt, eine grundlegende Neujustierung des Rentensystems vorzunehmen, das sowohl dessen nachhaltige Finanzierung garantiert als auch den Ansprüchen an einen altersgerechten Arbeitsplatz genügt und den Menschen mehr Spielraum bei der Gestaltung des Übergangs vom Erwerbsleben in die Rente ermöglicht – und dies alles in enger Abstimmung mit den Sozialpartnern. Sollten es François Hollande und sein Premierminister Jean-Marc Ayrault schaffen, eine Reform zu stricken, die solide finanziert wird und von den Arbeitgebern, den wichtigsten Gewerkschaften sowie breiten Teilen der Bevölkerung mitgetragen wird, so wäre ihnen ein wahres Meisterstück gelungen. Die Pfadabhängigkeit des zersplitterten Systems und die wenig kompromissbereite Haltung der Sozialpartner wecken jedoch Zweifel, dass dies wirklich glücken kann.

Text: Dominik Grillmayer, Deutsch-Französisches Institut in Ludwigsburg 

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