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Der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte über das Problem, der Ungleichheit in der Gesellschaft zu selten ein Gesicht zu geben, und den Fakt, dass Mitbestimmung auch in Zeiten der Digitalisierung eine visionäre Kraft besitzt. Magazin Mitbestimmung

Das Gespräch führten ANDREAS BULLIK UND GUNNAR HINCK.: Karl-Rudolf Korte: „Entscheidend ist, wer den Diskurs dominiert“

Ausgabe 06/2018

Interview Der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte über das Problem, der Ungleichheit in der Gesellschaft zu selten ein Gesicht zu geben, und den Fakt, dass Mitbestimmung auch in Zeiten der Digitalisierung eine visionäre Kraft besitzt

Das Gespräch führten ANDREAS BULLIK UND GUNNAR HINCK.

Herr Korte, die Große Koalition ist jetzt 100 Tage im Amt – das Thema Ungleichheit spielt im öffentlichen Diskurs keine allzu große Rolle. Warum ist das so?

Die Gesellschaft unterteilt sich in unterschiedliche Wirklichkeiten. Entscheidend ist, wer den Diskurs dominiert. Es gibt keinen Konsens darüber, was mit Ungleichheit eigentlich gemeint ist: die Vermögensungleichheit oder Einkommensungleichheit – oder die Heterogenität der Einwanderungsgesellschaft? Für die Politik ist der Zugang zur Ungleichheitsdebatte schwierig, wenn die Definition unklar ist und mit einem Begriff über unterschiedliche Dinge gestritten wird.

In Ihrer aktuellen Studie zu Ungleichheitsdiskursen stellen Sie fest, dass die Diskussion über Ungleichheit sich zu sehr an Zahlen und Fakten orientiert. Was ist daran problematisch?

Zahlen werden instrumentalisiert, um gewünschte Botschaften zu vermitteln. Zahlen kommen in der Berichterstattung in erster Linie bei empörenden oder spektakulären Nachrichten zur Ungleichheit vor. Die eigentliche Brisanz, die hinter den Zahlen steckt, taucht aber zu selten auf – nämlich dass eine zu große Ungleichheit die Stabilität und Qualität der Demokratie bedroht.

Ungleichheit wird doch aber über Zahlen und Statistiken gemessen. Wie soll eine Alternative funktionieren?

Zahlen suggerieren ein objektivierbares Messergebnis. Was ich messe, ist aber etwas Subjektives, ebenso wie die Methode und die Setzung der Definitionen schon subjektiv sind. Wir feiern das angeblich Messbare, weil uns die Maßstäbe abhandengekommen sind. Mit der Studie haben wir den nackten Zahlen einen Kontext entgegengesetzt: Wie verändern sich die Ungleichheitsdiskurse? Man muss schließlich auch die Kontroversen berücksichtigen, in die sie sinnhaft eingebettet sind. Man kann über eine Erzählung der Abstiegsgesellschaft viel besser diskutieren als über reine Zahlen. Akademische Metriken allein können keine politische Wirksamkeit entfalten.

Wenn die Statistik sagt, ein Prozent der Bevölkerung besitzt einen Großteil des privaten Vermögens im Land, emotionalisiert das doch und kann eine Ungleichheitsdebatte auslösen.

Natürlich. Aber das Faktum ergibt ja nur Sinn im Vergleich – etwa zu anderen Ländern oder zu früheren Zeiten. Die Vermögenskonzentration wird ja nicht zufällig immer wieder im Kontext unseres Wissens um historische Zäsuren wie die Weltwirtschaftskrise von 1929 und ihre Folgen diskutiert. Die Zahlen lassen sich nicht von diesen Kontroversen isolieren.

Welche Strategien schlagen Sie vor, um das Thema Ungleichheit besser zu vermitteln?

Indem wir den Diskurs mit anderen Themen verbinden, etwa mit der Demokratiefrage. Wenn eine Gesellschaft Ungleichheit als Problem empfindet, dann verändert sich diese Gesellschaft: Mehr Ungleichheit führt dann zu mehr Protestwahlen. Oder indem ich den Raum zwischen dem Narrativ „Abstiegsgesellschaft“ und dem Narrativ „Leistungsgesellschaft“ auslote, die im Diskurs über Ungleichheit einander gegenüberstehen. Was dazwischen ist, ist das eigentlich Interessante. Ethnografische Studien in sozialen Brennpunkten und auch anderswo können hier ebenso gut neue Perspektiven eröffnen wie neue Formen der Bürgerbeteiligung. Wichtig ist, dass die Strategien stärker die Alltagserfahrungen betroffener Bürger einbeziehen und man sich nicht allein auf die mediale Vermittlung aggregierter Daten konzentriert.

Sie sprechen in Ihren Analysen davon, dass es die größte Gefahr für den Mitbestimmungsdiskurs ist, dass niemand mehr die Mitbestimmung thematisiert. Woran machen Sie das fest?

Es ist immer verdächtig, wenn alle für etwas sind. Seitdem die FDP nicht mehr dezidiert gegen die Mitbestimmung ist, sind alle Parteien dafür. Das ist schwierig, weil Mitbestimmung für die Medien dann keinen echten Nachrichtenwert hat. Das ist gefährlich, denn sie steht ja durch das EU-Recht und die Mitbestimmungsflucht im eigenen Land unter Druck. Die Verteidiger der Mitbestimmung müssten mehr den Mut haben, zu polarisieren und Debatten darüber anzufangen.

Mitbestimmung nützt objektiv jedem Arbeitnehmer. Die Mitbestimmung müsste doch eigentlich viel breiter diskutiert werden – allein schon aus Eigeninteresse eines jeden Arbeitnehmers.

Mitbestimmung gehört zur Verhandlungsdemokratie – und Verhandlungsdemokratie hat keinen Sex-Appeal. Dazu gehören lange, vertrauliche Verhandlungen, in die beide Seiten eingebunden sind. Am Ende steht ein Ergebnis, das jede Seite trägt. Das ist gut für die Konsensbildung im Land und für den Standort Deutschland, aber es fehlen womöglich die Ecken und Kanten. Das Gute an der Verhandlungsdemokratie aber ist: Die Sozialpartnerschaft schafft Vertrauen und Verlässlichkeit und passt idealtypisch zur Sicherheitsorientierung der Deutschen. Die wenigsten wissen, dass der Anteil der mitbestimmten Unternehmen zurückgeht und durch Europa bedroht ist – das ist ein wichtiger Mobilisierungshebel für die Gewerkschaften.

Wie können die Gewerkschaften das Profil der Mitbestimmung schärfen?

Man muss noch mehr deutlich machen, dass die Mitbestimmung ein zentraler Stabilitätsgarant ist. Wenn sie wegbräche, würde auch unsere Vorstellung von Arbeitswelt zusammenbrechen. Wohlstand und gesellschaftlicher Frieden sind nur durch das Erfolgsmodell Mitbestimmung zu erhalten – das ist die wichtige Botschaft.

Wie könnte eine moderne Erzählung der Mitbestimmung in Zeiten der Digitalisierung aussehen?

Der Unterschied zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern verflüssigt sich ja durch die Digitalisierung, etwa durch Crowdworking. Ein verlässliches Miteinander in diesen Arbeitsbeziehungen ist nur durch die Rahmenbedingungen der Mitbestimmung möglich. Nur, was verhandelt ist, ist kollektiv belastbar. Wir brauchen die Aushandlungsprozesse der Mitbestimmung auch in Zeiten der Digitalisierung. Es hat eine nahezu visionäre Kraft, dieses Instrument zu nutzen.

Sie sprechen von den medialen Konjunkturzyklen mit Blick auf die Mitbestimmung. Derzeit sind im öffentlichen Diskurs alle dafür, vor der Finanzkrise gab es auch kritische Stimmen. Kann man diese Zyklen überhaupt aufbrechen?

Man kann sich ihnen nicht komplett entziehen. Man darf aber auch nicht in die Mainstream-Falle geraten: Von Gewerkschaften erwartet man, dass sie sich vom Mainstream lösen und weiterdenken, um für die Interessen der Arbeitnehmer Zukunftsmodelle der Arbeit zu entwickeln. Man darf kein Opfer des Zeitgeistes sein, gerade weil wir viel häufiger als früher mit unvorhersehbaren Ereignissen konfrontiert sind. Gewerkschaften haben es einfacher als andere: Als werteorientierte Organisationen denken sie eher in die Zukunft als wertebeliebige Organisationen.

ZUR PERSON

Karl-Rudolf Korte, 59 Jahre, ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und Direktor der NRW School of Governance, die zur Hochschule gehört. Governance – zu Deutsch etwa Regierungsführung – ist einer der Forschungsschwerpunkte von Korte. Er beschäftigt sich mit den komplexen Rahmenbedingungen des Regierens in heutigen Zeiten: Globalisierung, Migration, neue Medien und abnehmende Wählerbindungen an Parteien. Der Politikwissenschaftler ist einem breiten Publikum als Fernsehkommentator zu Wahlen bekannt. Derzeit ist Karl Rudolf Korte Gastwissenschaftler am Deutschen Institut für Japanstudien in Tokio.

Aufmacherfoto: Dustin Janczewski

 

WEITERE INFORMATIONEN

Die Studie „Politikmanagement im Ungleichheitsdiskurs“ ist ein von der Hans-Böckler-Stiftung gefördertes Forschungsprojekt von Karl-Rudolf Korte und seinem Team. Die Studie empfiehlt, das Thema soziale Ungleichheit nicht nur über reine Zahlen zu vermitteln, sondern mittels Daten lebensnahe Geschichten über Ungleichheit zu erzählen („Storytelling“). Bei einem Diskurs über Zahlen dominiert zu sehr der Streit darüber, welche Daten ausgewählt werden und welche nicht. Außerdem schließt die Fixierung auf Zahlen die breite Mehrheit der Nicht-Experten von der Debatte über Ungleichheit aus.

Mehr Informationen zum Forschungsprojekt „Politikmanagement im Ungleichheitsdiskurs“

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