Quelle: HBS
Magazin MitbestimmungEuropa: Jetzt hilft nur wählen!
Die Mängelliste der Gewerkschaften ist lang. Und doch trommeln sie vor der Wahl am 25. Mai für ein demokratisch gestärktes, selbstbewusstes Europaparlament. Ein Besuch bei den „Europäern“ in den deutschen Gewerkschaftszentralen. Von Stefan Scheytt
Als der designierte DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann Anfang April zur gewerkschaftlichen Großdemonstration nach Brüssel kommt, ist das fast wie eine Rückkehr in die Heimat: 16 Jahre lang hat Hoffmann in der belgischen Hauptstadt gearbeitet, zuletzt als Stellvertretender Generalsekretär des Europäischen Gewerkschaftsbundes. Dessen Aufruf zur Demonstration sind an diesem Tag im April schätzungsweise 50 000 Menschen aus 21 Nationen gefolgt, unter ihnen auch Reiner Hoffmann, der bei der mehrstündigen Kundgebung mit Kollegen aus Polen, Belgien, den Niederlanden und vielen anderen Ländern ein Transparent durchs Europaviertel trägt. „A new Path for Europe“ steht darauf. Zwei Wochen später, in seinem Berliner DGB-Büro, rekapituliert Hoffmann die Kundgebung als eine „beeindruckende Veranstaltung“, bei der er viel „Begeisterung, sogar Euphorie“ gespürt habe, und selbstbewusst fügt er an: „So viele Menschen zu einer Pro-Europa-Demonstration zu bewegen – das kriegt sonst keiner hin.“
MASSIVE RÜCKSCHRITTE IM SOZIALEN
Als der Wuppertaler Hoffmann 1994 als Direktor des Europäischen Gewerkschaftsinstituts nach Brüssel kam, standen zwei Projekte auf der europäischen Agenda, die weithin mit Aufbruch und Hoffnung assoziiert wurden: die Einführung des Euro als Gemeinschaftswährung und die Erweiterung der EU nach Mittel- und Osteuropa. Damals war der Sozialist Jacques Delors Kommissionspräsident, „und die Zielsetzung seiner Kommission war auch, die Arbeitnehmerrechte in Europa zu stärken“, erinnert Hoffmann. Umso mehr muss einen wie ihn, der sich jahrelang durch den Brüsseler Lobbyisten-Dschungel ackerte und der sich selbst einen „eingefleischten Europäer“ nennt, heute schmerzen, wenn ihn der Zustand Europas zur Feststellung zwingt: „Seit einer Dekade herrscht in der europäischen Sozial- und Arbeitspolitik nicht nur Stillstand, wir mussten sogar massive Rückschritte hinnehmen.“ Als Beispiele nennt Hoffmann den sozialen Dialog, der unter Kommissionspräsident Barroso praktisch zum Erliegen gekommen sei, sowie den jahrelangen, relativ fruchtlosen Kampf um die Durchsetzungsrichtlinie zur Arbeitnehmerentsendung. „Die soziale Dimension ist völlig unter die Räder gekommen in Europa“, bilanziert Hoffmann.
Drastischer formuliert es Dierk Hirschel, Bereichsleiter Wirtschaftspolitik bei ver.di. „Die Politik der EU-Kommission ist gegen die große Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung in Europa gerichtet. In den Krisenländern zerstört die neoliberale Schocktherapie der Troika unter dem Deckmantel sogenannter Strukturreformen das europäische Projekt.“ Es ist eine Spirale nach unten, die der Volkswirtschaftler beschreibt: Die Tariflandschaft wird umgepflügt, die Tarifautonomie ausgehebelt, der Sozialstaat abgebaut und öffentliches Eigentum verscherbelt. So wird die Fähigkeit der Arbeitnehmer, sich zu organisieren, geschwächt. „Die Tarifbindung im Süden war bis vor wenigen Jahren noch deutlich höher als in Deutschland, inzwischen ist sie geschreddert“, weiß Dierk Hirschel. In Spanien beispielsweise waren einmal zwölf Millionen Beschäftigte durch Tarifverträge geschützt, jetzt sind es noch fünf Millionen. Derart geschwächt, erdulden sie Lohn- und Rentensenkungen ebenso wie Sozialkürzungen. Als eine der vielen „Tragödien“ europäischer Sparpolitik nennt DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach die drastisch gestiegene Säuglingssterblichkeit und die Zahl der HIV-Neuinfektionen bei Suchtkranken in Griechenland. Zornig mache sie auch, dass in manchen Ländern die Hälfte der Jugend auf der Straße stehe oder wie die Freizügigkeit innerhalb Europas von Unternehmern dazu missbraucht würde, „sich durch miserabelste Löhne und Arbeitsbedingungen – in Deutschland zum Beispiel in Fleischfabriken, auf Werften oder in der Gastronomie – eine goldene Nase zu verdienen.“
NICHT DEM STAMMTISCH FOLGEN
„Die Frage der Menschen danach, was ihnen Europa persönlich nutzt, ist legitim“, meint ver.di-Ökonom Hirschel. „Bis Mitte der 1980er Jahre hat die Mehrheit der Europäer von ‚mehr Europa‘ profitiert, gerade im Süden, und entsprechend hoch war die Zustimmung zu Europa.“ Nicht überraschend sei deshalb, dass sich die neoliberale Schocktherapie zum Schaden von Millionen Menschen nun in politisches Futter verwandle für nationalistische, rechtspopulistische und separatistische Bewegungen. Die Aufgabe von Gewerkschaftern sei es deshalb auch, gegen Angela Merkels Lesart der Krise zu argumentieren: „Es waren nicht – wie auch gern am Stammtisch behauptet – die Südeuropäer, die hemmungslos über ihre Verhältnisse gelebt und so die Krise ausgelöst haben. Spanien oder Irland sind wegen ihrer Haushaltsüberschüsse noch vor wenigen Jahren als europäische Musterknaben herumgereicht worden. Ihre Staatsschulden explodierten, weil in der Bankenkrise private Schulden in Schulden der öffentlichen Hand verwandelt wurden.“ Dass dieser Zusammenhang in der öffentlichen Wahrnehmung oft verkannt wird, ärgert Reiner Hoffmann ganz besonders: „Es kommt einer Gehirnwäsche gleich, wie die politischen Eliten den Menschen vorgaukeln, wir hätten primär eine Schuldenkrise.“ Jürgen Habermas zitierend, wirft Hoffmann den Eliten außerdem vor, die Europäer durch die Unterscheidung in Geber- und Nehmerländer gegeneinander aufzuhetzen. „Wir Deutschen leiden nicht unter anderen, vermeintlich faulen Europäern, die nichts anderes wollen, als unsere Sozialkassen zu plündern. Es ist in unserem Interesse als Exportnation, dass die Krisenländer schnell wieder auf die Beine kommen“, argumentiert der Ökonom Hoffmann. Und dafür brauche es endlich eine andere Politik in Europa, einen radikalen Kurswechsel.
„Der Vorschlag dafür liegt auf dem Tisch“, sagt Annelie Buntenbach, die im DGB-Vorstand für die Europapolitik zuständig ist und für diesen „Marshallplan für Europa“ auch auf der Kundgebung Anfang April in Brüssel geworben hat. In Abstimmung mit dem Europäischen Gewerkschaftsbund entwickelte der DGB ein zehnjähriges Aufbauprogramm für alle 28 EU-Länder, mit dem jährlich 260 Milliarden Euro vor allem in eine europäische Energiewende, in Infrastruktur und neue Industrien sowie Forschung und Bildung investiert werden soll; finanziert würde der Marshallplan durch „New-Deal-Anleihen“ eines „Europäischen Zukunftsfonds“, durch Einnahmen aus der Finanztransaktionssteuer und – in Deutschland – durch eine einmalige Vermögensabgabe. „Es wäre eine Offensive für eine energetische und klimafreundliche Grundsanierung der europäischen Volkswirtschaften, es würden Wachstum und bis zu elf Millionen neuer Vollzeitarbeitsplätze geschaffen. Unser Plan ist damit die Alternative zum gegenwärtigen Kaputtsparen“, erklärt die ehemalige Grünen-Bundestagsabgeordnete. „Dieser Richtungswechsel wäre kein Hexenwerk, er ist machbar und sollte besser heute als morgen passieren“, fordert Buntenbach. „Umso ärgerlicher ist, dass Frau Merkel, die EU-Kommission und Teile des Parlaments weiter in die falsche Richtung laufen, so als würden sie die Realität nicht zur Kenntnis nehmen.“
KLAGE GEGEN DIE TROIKA?
Um den falschen Kurs kenntlich zu machen, unterstützt der DGB die Studie „Austeritätspolitik und Menschenrechte“, die der EGB und der Österreichische Gewerkschaftsbund in Auftrag gegeben haben und die erst vor Kurzem vorgestellt wurde. „Die Studie des Bremer Europarechtlers Andreas Fischer-Lescano belegt detailliert, wie die EU-Kommission und die EZB als Teil der Troika wider geltendes EU-Recht und wider die Menschenrechte handeln“, sagt Annelie Buntenbach. Verstoßen werde gegen Grundrechte wie das Recht auf Tarifautonomie, auf ein gerechtes Arbeitsentgelt oder auf soziale Sicherheit, indem zum Beispiel die Gesundheitsversorgung stark eingeschränkt wird, wie in Griechenland. „Es gibt keinen Ausnahmezustand, der die Anwendung europäischen Rechts aussetzt. Eine Klage des neuen Parlaments vor dem EuGH gegen diese Grundrechtsverletzungen wäre inhaltlich richtig und nötig“, meint Buntenbach. „Das Parlament könnte an Gewicht gewinnen, wenn es sich nicht länger vor der Troika wegduckt.“
Ein starkes, selbstbewusstes EU-Parlament wünscht sich Vorstandskollege Reiner Hoffmann auch bei den Verhandlungen über das Handels- und Investitionsabkommen TTIP zwischen der EU und den USA. Aus gewerkschaftlicher Perspektive mache es wenig Sinn, das Abkommen einfach abzulehnen, findet Hoffmann. Aber die Gewerkschaften und die gewählten Parlamentarier müssten darauf bestehen, dass ein solches Abkommen die Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation anerkennt und dass es kein Abkommen geben kann, das die demokratische Handlungsfähigkeit der EU-Mitgliedstaaten einschränkt. „Es darf keine weitere Deregulierung und Liberalisierung öffentlicher Daseinfürsorge geben. Die EU-Kommission muss unter Beweis stellen, dass das Abkommen den Menschen, nicht nur den Märkten, dient.“
Ja, die Europäische Union habe gleich mehrere Webfehler, konzediert Horst Mund, Leiter des Bereichs Internationales bei der IG Metall. Da ist zum Beispiel das mangelnde Initiativrecht des EU-Parlaments für Gesetzesvorschläge – eine „Demokratielücke“, wie der EU-Parlamentarier und Kandidat für das Amt des EU-Kommissionspräsidenten, Martin Schulz (SPD), meinte. Ein anderer Webfehler, findet Horst Mund, bestehe darin, dass „alle großen Integrationsprojekte der vergangenen Jahrzehnte – zuerst der gemeinsame Markt, später die Währungsunion – rein ökonomisch getrieben waren und soziale Errungenschaften geschliffen wurden, leider oft bestätigt durch die Rechtsprechung des EuGH“. Die Balance zwischen sozialen und ökonomischen Zielen stimme einfach nicht, sagt Mund und erinnert sich an den Ausspruch eines jungen Gewerkschafters in Madrid, der ihm sagte: „Banken sind systemrelevant, die europäische Jugend offensichtlich nicht.“ Der Frust und die Wut und die Enttäuschung, so erlebt es Horst Mund, wachsen, „und damit die Gefahr, dass das politisch in eine ganz schwierige Richtung läuft“.
WER DUSCHT, WIRD NASS
Dass es auch den Gewerkschaften schwerfällt, angesichts all dieser Baustellen dennoch Interesse, sogar Begeisterung für Europa zu wecken, räumt Horst Mund gerne ein. „Das ist eine sehr schwierige und dauerhafte Aufgabe, und ich wünschte, Gewerkschafter könnten im Alltagsgeschäft ihrer Unternehmen noch mehr Zeit aufbringen für Europa.“ Den Mitgliedern sei auch die für manche vielleicht unbequeme Wahrheit zu vermitteln, dass es auch um die Abtretung von Souveränität an Brüssel gehe: „Wir können nicht dauerhaft vom Euro profitieren, ohne zu akzeptieren, dass die Wirtschafts- und Steuerpolitik weiter harmonisiert wird. Duschen geht nicht, ohne nass zu werden.“ Nein, versichert Horst Mund, selbst in den schwierigsten Momenten ertappe er sich nicht bei dem Gedanken, die Reset-Taste zu drücken, um in Europa ohne Euro und Integration weiterzumachen. „Der Begriff ‚alternativlos‘ ist ja besetzt und wäre auch falsch, aber aus deutscher Sicht ist völlig klar, dass die Alternative zur Europäischen Union und zum Euro ohne jede Frage schlechter wäre. Unsere Verbündeten in dieser Frage sehe ich im Europäischen Parlament, und deswegen ist es absolut wichtig, dass am 25. Mai keiner zu Hause bleibt.“
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