Quelle: Frank Schinski – OSTKREUZ
Magazin MitbestimmungInitiative: Jedes Problem verdient seine eigene Lösung
Ein Betrieb baut Stellen in der Entwicklung ab, in einem anderen stehen in der Produktion veraltete Maschinen, ein dritter zahlt Niedriglöhne. In allen dreien kämpfen Betriebsräte und Vertrauensleute. Unterstützt werden sie dabei von einem Projekt der Gewerkschaft: „IG Metall vom Betrieb aus denken“. Von Martin Kaluza
Der Automobilzulieferer FTE im fränkischen Ebern hat allein in den letzten fünf Jahren an den Standorten zwischen Coburg und Bamberg nach und nach 450 Stellen gestrichen. Zwar wurde niemand entlassen, doch in der letzten Runde traf es auffällig viele Stellen aus der Forschungs- und Entwicklungsabteilung. Da wusste Betriebsratsvorsitzende Sonja Meister: „Wenn wir nicht sofort etwas unternehmen, blutet der Standort aus.“
Gerade Forschung und Entwicklung braucht FTE dringend. Das Unternehmen lebt von Getriebe- und Bremshydrauliken für die Automobilindustrie. „Mit unseren Produkten hängen wir vom Verbrenner ab“, sagt Meister. Die Unternehmensleitung hat sich bisher nicht geäußert, was sie künftig in Ebern bauen will. Ein weiteres Problem: 2017 wurde FTE Teil des französischen Großkonzerns Valeo. Die strategischen Entscheidungen fallen seitdem nicht mehr in Ebern.
Sonja Meister und ihr Team beteiligten sich an dem Projekt „IG Metall vom Betrieb aus denken“. In den Qualifikationsmodulen entwickelten sie, unterstützt von der IG Metall, ihrem Rechtsanwalt Stephan Sartoris und dem IMU-Institut Berlin, eine Strategie: Diejenigen, die den Betrieb am besten kennen, überlegen gemeinsam, wie man ihn zukunftsfähig machen kann. Das Team sprach die 200 Beschäftigten aus der Entwicklungsmannschaft an. In Zehnergruppen besprachen sie in Workshops, welche Themen, Technologien und Innovationen im Betrieb vorangetrieben werden sollten, um den Standort zukunftsfest zu machen. Auch viele Ingenieure ließen sich auf das Projekt ein.
Die Metaller planten im Rahmen der Zukunftsreihe eine Kampagne, nahmen Videos auf, gründeten einen Betriebsrats-Podcast und berichteten regionalen Medien in Interviews über die Bedrohung des Standorts. Einen runden Tisch aus Lokalpolitikern, Medien und Belegschaft, den der Betriebsrat im Februar 2022, mitten in der Zeit der Verhandlungen, organisiert hatte, ließ die Geschäftsführung platzen. Zu gering das Interesse – zunächst.
Eine erste Zukunftsvereinbarung konnte der Betriebsrat in enger Zusammenarbeit mit Andrea Sicker, Zweite Bevollmächtigte der IG Metall Bamberg, und Martin Schwarz-Kocher vom IMU-Institut aushandeln. „Wir hatten einen Hebel“, erklärt Sonja Meister. „Wir stimmten weiteren sozialverträglichen Stellenstreichungen nur unter der Bedingung zu, dass der Arbeitgeber mit uns eine Zukunftsvereinbarung unterschreibt.“ Darin ist festgehalten, dass der Stellenabbau reduziert wird, um ein Team zu formieren, das sich federführend um die Zukunftsprojekte kümmert. Dieses Team soll gemeinsam mit Expertinnen und Experten aus der Belegschaft Vorschläge für Innovationen erarbeiten, die in Ebern entwickelt und produziert werden könnten. Zudem wurde festgeschrieben, dass eine zweite Zukunftsvereinbarung verhandelt werden soll. Betriebsrat und IG Metall wollen darin die Perspektive für Ebern festschreiben. „Wenn die Mitarbeiter so viel einbringen, muss der Arbeitgeber etwas zurückgeben“, sagt Sonja Meister.
Investitionsstau auflösen
In Laatzen bei Hannover gerät der Betriebsratsvorsitzende bei Xylem, Stefan Rothenburger, ins Schwärmen. Er hält einen Wasserzähler der neuesten Generation in der Hand. „Das ist die neue Welt“, sagt er und dreht den Zähler so, dass man hindurchschauen kann. Die alte Welt, das waren Wasserzähler, in deren Mitte sich ein kleiner Propeller drehte, um den Durchfluss zu messen. In den Zählern der neuesten Generation rauscht das Wasser ungebremst durch. Gemessen wird per Ultraschall. Die Großwasserzähler kommen in den Hauptwasserleitungen von Städten und Gemeinden in aller Welt zum Einsatz.
„Wir möchten, dass der hier entwickelte Wasserzähler auch hier produziert wird“, sagt Rothenburger. „Aber die Maschinen in der Vorfertigung sind zu alt dafür.“ Selbst die jüngste läuft schon 15 Jahre, und sie steht in einer Halle, die zuletzt vor über 20 Jahren modernisiert wurde. „Wenn der Zähler auf dem Markt einschlägt, haben wir hier ein Problem. Wir können ihn hier zwar bauen, aber viel zu langsam“, erklärt Betriebsrat Christian Röhl.
2016 wurde der damals über 170 Jahre alte Familienbetrieb von Xylem übernommen, einem US-amerikanischen Großkonzern mit weltweit 17 000 Beschäftigten. Die Belegschaft fürchtet nun, dass die elektronischen Zähler an anderen Konzern-Standorten mit niedrigeren Löhnen produziert werden.
Andreas Wendland, der Leiter des Vertrauenskörpers, kam auf die Idee, sich am Projekt „IG Metall vom Betrieb aus denken“ zu beteiligen. Die Aufgabe: Wie überzeugt man Geschäftsführung und Mutterkonzern von den Vorteilen einer Investition in Laatzen? In den Workshopmodulen wurde den Teilnehmenden schnell klar, dass 140 Beschäftigte allein keinen großen Druck aufbauen können. Unterstützt von der externen Coaching-Agentur Mitmacht aus Berlin, suchten sie schließlich die Öffentlichkeit.
Der Betriebsrat lud die Landtagsabgeordnete Silke Lesemann und den heutigen Bürgermeister zu einer Betriebsbesichtigung ein. Die Lokalpresse berichtete über den Besuch. Vermittelt durch Lesemann, kamen auch der ehemalige und der aktuelle Ministerpräsident und schauten sich den Betrieb an. Auch hier war die Presse dabei. „Jetzt kennt uns im Landkreis jeder, und die Leute wissen, dass der Betrieb wichtig ist für die Region“, sagt Rothenburger. Die Geschäftsleitung sei zwar nicht glücklich gewesen über die Artikel. „Doch wir sehen uns ja nicht als Feinde der Geschäftsleitung“, so der Betriebsratsvorsitzende. Ganz im Gegenteil: „Wir verdienen hier unser Geld und sitzen im gleichen Boot. Und wir haben eine breite Unterstützung im Mittelbau des Managements. Der Produktionsleiter ist auch IG Metall-Mitglied. Unser Organisationsgrad liegt bei 70 Prozent.“
Noch ist das Projekt nicht abgeschlossen und das Ziel nicht erreicht. Doch Rothenburger hat schon eine Veränderung registriert. Die ganze Belegschaft stehe hochmotiviert hinter dem Standort und den neuen Wasserzählern. „Wir werden inzwischen ernster genommen“, sagt er. „Man spricht uns nicht mehr die Kompetenz ab.“
Erste Schritte zum Flächentarifvertrag
Das knallrote T-Shirt, das Mario Plewa unter dem Blaumann trägt, gehört zum Programm. In seinem Betrieb der Höfer Metall Technik, in dem er Vertrauensmann und Betriebsratsvorsitzender ist, war die IG Metall lange nicht so gern gesehen. 35 Mitglieder gab es in der 280 Leute starken Belegschaft. Doch dann verhandelte die Gewerkschaft im Lauf von zwei Jahren in zwei Schritten Übergangsregelungen mit spürbaren Lohnerhöhungen. Das schweißte so zusammen, dass 120 neue Mitglieder in die Gewerkschaft eintraten. Und jeden Mittwoch tragen sie im Betrieb die roten IG Metall-T-Shirts.
Der Betrieb mit dem Standort Hettstedt in Sachsen-Anhalt gehört zur Unternehmensgruppe Höfer Metall Technik (HMT). In Hettstedt werden Aluminiumbolzen gegossen und zu Profilen verpresst, Abnehmer sind Auto- und Bauindustrie. Das Hauptproblem der Beschäftigten ist das gleiche wie im ganzen Bundesland: Es werden kaum Tariflöhne gezahlt. Deshalb heißt die Initiative „IG Metall vom Betrieb aus denken“ hier „Tarif Aktiv in Sachsen-Anhalt“.
Das Projekt half Plewa und seinen Mitstreitern, eine Kampagne aufzubauen, die der Belegschaft in den Verhandlungen mehr Gewicht verleiht, damit eines Tages auch hier der Flächentarifvertrag gilt. „Ein beträchtlicher Teil unserer Belegschaft hat noch letztes Jahr weniger verdient als den Mindestlohn von zwölf Euro. Um die ging es uns bei den Verhandlungen ganz besonders“, sagt Plewa. „Wir wollten die Löhne so weit anheben, dass sie sich in Rentenpunkten niederschlagen. Wir wollten die Altersarmut bekämpfen.“ Im Büro der IG Metall in Hettstedt klebt Plewa das Poster mit den vier Modulen der Qualifizierungsreihe an eine Tür: Besonders das zweite Modul war für das HMT-Projekt hilfreich. Hier erstellte das Team Aufgabenpläne, legte Rollen fest und überlegte, welche IG Metall-Mitglieder man in den Betrieben ansprechen könnte, um sie mit ins Boot zu holen. „Es war wichtig, die Rollen im Team zu klären, denn so konnten wir Druck aufbauen.“
Den Druck will Plewa weiterhin hoch halten, und dank der vielen neuen Gewerkschaftsmitglieder wird der Hebel länger. Das bislang Erreichte sieht Plewa als einen ersten Schritt: „Wir sind noch weit von den Flächentarifen weg. Doch ab dem 1. Januar 2023 bekommt hier keiner mehr weniger als 13 Euro.“